Briefing 479 | Schuluniformen, Gesellschaft, soziale Gerechtigkeit, Bildung, Klassismus, Chancengleichheit
Heute haben wir einmal eine Umfrage gefunden, die auf den ersten Blick ein eher weniger wichtiges Thema beinhaltet. Wären Schuluniformen in Deutschland eine gute Idee?
Begleittext aus dem Newsletter:
Die südfranzösische Stadt Béziers testet seit letzter Woche sogenannte „Einheitskleidung“ für Schulkinder. So soll die neue Kleidung heißen, um den Begriff „Schuluniform“ zu vermeiden. Laut ntv will Frankreichs Präsident Emmanuel Macron diese 2026 landesweit einführen, falls sie sich bewähren sollte. Auch in Deutschland ist eine mögliche Einführung der Schuluniform immer wieder Thema. Letztes Jahr forderte der Bundeselternrat Kleidungsregeln an deutschen Schulen, um „lottrige, zerrissene oder freizügige Kleidung“ zu vermeiden, berichtet die tagesschau.
Für viele Eltern wäre eine Schuluniform eine enorme Entlastung beim Kleidungskauf oder der Kleiderwahl am Morgen. Das schreibt der Redakteur Thorsten Knuf in der Berliner Morgenpost. Weiterhin hebt er eine Stärkung des Gemeinschaftsgefühls in Klassen und Schulen durch die einheitliche Kleidung hervor. Verteidigerinnen und Verteidiger von Schuluniformen verweisen außerdem darauf, dass dadurch soziale Unterschiede weniger sichtbar seien und beispielsweise Mobbing verhindert werden könne, heißt es bei ntv.
Soziale Unterschiede könnte man aber trotz Uniform nach wie vor an Accessoires oder Wertgegenständen wie Smartphones erkennen. Der Deutsche Lehrerverband lehnt feste Regeln ab. „Wir sind in Deutschland aufgrund unserer Geschichte anders auf Freiheit ausgerichtet, auf Selbstbestimmung und Mündigkeit”, sagte Verbandspräsident Stefan Düll der Funke Mediengruppe. Und auch der Verband Bildung und Erziehung (VBE) hält Schuluniformen laut tagesschau für einen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht von Eltern und Kindern.
Die Frage, die wir nach unserer letzten Nachricht in eigener Sache stellen, ist, ob wir angesichts des geringen Zeit- und Zeichenbudgets, das wir für den Wahlberliner einsetzen können, Themen wie dieses wirklich bearbeiten sollten. Aber wir haben durch die Reduktion auch die strategischen Aufgaben zurückgefahren und können einfach mal frei von der Leber weg schreiben.
Dass der Lehrerverband wieder irgendein Schlaumeier-Argument gegen etwas so Sinnvolles wie einheitliche Schulkleidung findet, war zu erwarten. Hätte auch von der GEW kommen können. Diese Verbände sind ideologisch dermaßen belastet, dass man ihre Tätigkeit ganz klar als einen großen Teil des Problembündels identifizieren muss, mit dem sich das deutsche Schulwesen mittlerweile abzuschleppen hat. Je mehr Steine einer guten Bildung in den Weg gelegt werden, desto besser. Auf keinem anderen Gebiet wird der Niedergang dieses Landes so deutlich sichtbar wie bei der Bildung. Die Folgen sind jetzt schon dramatisch und es wird schlimmer werden.
Nun ja, vielleicht kann man aus der Wikipedia etwas Differenzierteres herauslesen, wenn man möchte, als das, was bezeichnenderweise wieder mal den Lehrer:innen (nicht) einfällt:
Welchen Eindruck haben Sie? Uns kam es vor, als wenn der Kontra-Abschnitt schwammig, spekulativ, tautologisch und nicht schlüssig wirkt und somit von einem Philolog:innenverband verfasst sein könnte.
Nach unserer Ansicht schließt einheitliche Schulkleidung die Entwicklung echter, also auch unter der optischen Oberfläche wirksamer „Wir-Erziehung“ nicht aus. Wenn man Kinder zur individuellen Toleranz erziehen kann, kann man sie auch dazu erziehen, Kinder anderer Schulen mit anderer Kleidung zu akzeptieren. Während unserer Schulzeit gab es sogar etwas wie eine freiwillige Vereinheitlichung, bevor der Markenhype einsetzte, der bis heute für soziale Deklassierung sorgt. Andere möglichst in den Schatten stellen zu können, ist kein Ausdruck von Selbstbestimmung, schon gar nicht, wenn die ökonomischen Grundlagen dafür von den Eltern geliefert werden, also die Vorteile der reichen Geburt wieder einmal eine echte Chancengleichheit verhindern. Dass es immer Tricks gibt, mit denen die sozialen Unterschiede weiter sichtbar bleiben, ach ja. Kann man auch daran festmachen, wer mit welchem fetten SUV von der Schule abgeholt wird.
Man kann aber auch eine Kultur des Miteinanders etablieren, in der es verpönt ist, mit solchen Tricks zu arbeiten, in der also die Schuluniform weiterwirkt und mehr ein Symbol darstellt für eine solidarische Einstellung als einen Zwang zur Vereinheitlichung. Außerdem dürfte der „Korpsgeist“ auch dazu führen, dass Kinder sich mehr mit ihrer Schule identifizieren, was sich wiederum positiv auf das Lernniveau auswirken sollte. Anders herum ausgedrückt: Wer will schon die Uniform einer Schule tragen, die als mies verschrien ist und deren Schüler:innen als dumm gelten?
Was uns überrascht hat: Dass wir mit unserer Meinung bei der Mehrheit sind. Klar für Schuluniformen sprechen sich derzeit über 40 Prozent der Abstimmenden aus, hinzu kommen 20 Prozent, die eher dafür sind.
In Deutschland gibt es freilich ein Sonderproblem, das sind bestimmte studentische Gemeinschaften, die quasi Uniformen tragen und die als äußerst rechts gelten. Doch selbst in diesen Gemeinschaften sind sinnvolle Elemente integriert wie eine lebenslange, karrierefördernde Verbindung, weshalb diese Organisationen ja auch in toto als Verbindungen bezeichnet werden. Ein weiteres Problem ist der Zwang zum Uniform tragen in der DDR für alle, die in der Freien Deutschen Jugend zusammengeschlossen waren und der Zusammenhang mit Diktatur und einer negativen deutschen Vergangenheit mit hohem Uniformierungsgrad der Jugend, die wiederum etwas weiter zurückliegt. Wir würden diese Argumente nicht komplett für obsolet erklären wollen, aber sie gehen an der heutigen Wirklichkeit vorbei. Die Individualität, die Solidarität, das Wir-Gefühl, das alles bestimmt sich nach Kriterien, die nicht entlang der Möglichkeit überprüft werden können, ob man soziale Deklassierung durch Klamotten wenigstens während der Schulzeit begrenzt. Viel wichtiger finden wir eine andere Idee: Ob nicht durch diese Einheitlichkeit die zunehmende Ungleichheit in diesem Land formal gemildert wird, ohne dass sich an dieser Tendenz real etwas ändert. Wir glauben aber, dass das Bewusstsein für die Gleichheit aller Menschen durch diese Vereinheitlichung eher gestärkt wird. Die ethnischen Unterschiede werden dadurch ja nicht marginalisiert, eher im Gegenteil. Einheit und Vielfalt werden als zwei Ausprägungen eines funktionierenden Gesellschaftssystems begriffen.
Die Argumente, die gegen die einheitliche Schulkleidung vorgetragen werden, sind auffällig rückwärts orientiert. Wir müssen aber endlich vorausdenken und Dinge finden, die diese auseinanderfallende Gesellschaft wieder ein wenig mehr klammern. Freiheitlichkeit hat sich mittlerweile zu einem ungebremsten Ego-Wahn degeneriert, Bildung hat dem Test dieses Trends nichts entgegengesetzt, sondern verstärkt ihn durch immer mehr Fehlfunktionen.
Soziale Ungleichheit wird durch einheitliche Schulkleidung nicht abgeschafft, so wie die tatsächliche Gleichstellung aller Geschlechter nicht durch formal gleiche Rechte erwirkt wird. Es kommt darauf an, mit welchem Leben man dies alles füllt. Einheitliche Schulkleidung ist ein relativ einfaches Instrument, um mehr Identifikation zu schaffen. Wir glauben, dass junge Menschen sich im Grunde gerne identifizieren und Teil von etwas sein möchten, das nicht durch die soziale Stellung ihres Elternhauses bestimmt ist und nicht so chaotisch und niveauvergessen ist wie das, was wir in Deutschland immer noch Schule zu nennen wagen.
Natürlich bessern sich auch diese zukunftsgefährdenden Zustände nicht ad hoc mit der Einführung einheitlicher Kleidung. Aber die Identifikation kann Dinge in Bewegung setzen, auch vonseiten der Eltern. Ideologisierte Lehrkräfte, die lieber die hundertzwölfte leistungsschädigende und ihren eigenen Anteil an der Misere kaschierende Reform des Bildungswesens durchpeitschen, anstatt gerne und mitnehmend, aber endlich wieder auf auskömmlichem Niveau Wissen zu vermitteln, mögen das fürchten, der Gesellschaft kann es nur helfen. Leider haben auch fragwürdige Filme wie „Die Welle“ in Deutschland den Spin propagiert, dass ein wenig mehr optisch sichtbare Gemeinschaftlichkeit geradewegs wieder in den Faschismus führen wird.
Die demokratischen Länder vor allem des angelsächsischen Kreises, die Schuluniformen kennen, beweisen das Gegenteil. In den USA ist auffällig, dass gerade an teuren Privatschulen mit privilegiert-selbstbestimmten Individuen, mit allen Chancen für jene Individuen, die man sich vorstellen kann, Uniform getragen wird. Und wenn die höchst individualistischen Franzosen Schuluniformen einführen sollten, könnten wir uns dazu bequemen, etwas genauer und vorurteilsfrei zu analysieren, warum das geschieht und welche Vorteile es hat, anstatt einen in Wirklichkeit nur egoistisch-neoliberalistischen, klassistischen Stiefel daherzuplappern, der sich als Selbstbestimmungsrecht tarnt. Oder, etwas vereinfacht an Eltern gerichtet, die es nicht ganz so dicke haben, also an die meisten: Glauben Sie nicht, dass Ihr Kind sich selbstbestimmter fühlt, wenn es nicht jeden Tag vorgeführt bekommt, dass andere die cooleren Erzeuger haben, weil sie ihre Kinder ungehemmt mit höchstpreisigen Klamotten ausstaffieren können, die vor allem bei kleinen Kindern eher der Pflege des eigenen Egos als das selbstbestimmte Wohlbefinden der Kinder stärken? Ist die Prägung dann abgeschlossen, sind die Kinder genau jene ungeheuer selbstbestimmten Markenfetischisten, die sich null Gedanken über ihren herdentriebigen Konsumismus machen.
Es gibt übrigens in vielen Berufen einheitliche Arbeitskleidung, mit individuellen Unterschieden nach Unternehmen. Bisher ist nicht bekannt geworden, dass Menschen dadurch ihre Selbstbestimmung verloren haben. Gerade haben wir Einblick in einen solchen Arbeitsbereich. Ganz klare Tendenz: Die Einheitlichkeit des Auftritts fördert das Wohlbefinden und den Teamgeist und wird mehrheitlich sogar als schick empfunden. Und zwar dort, wo wirklich gesellschaftlich wertvolle Arbeit verrichtet wird.
TH
Entdecke mehr von DER WAHLBERLINER
Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.

