Nur sehr wenige Bürgergeldempfänger:innen verweigern die Arbeit (Statista + Leitkommentar) | Gesellschaft, Wirtschaft, Arbeitswelt

Briefing 480 | Wirtschaft, Gesellschaft, Arbeit, Bürgergeld, Sanktionen, Arbeitsverweigerung, CDU, Populismus, Spaltung, Lobbykratie, neoliberal-rechtslastiger Hirntod

Fühlen sie sich als arbeitender Mensch von jenen ausgenommen, die Bürgergeld beziehen? Glauben Sie, die CDU tut etwas für Sie, indem sie eine „neue Grundsicherung“ mit Totalsanktionen bei „Arbeitsverweigerung“ oder viel kleineren „Kooperationmängeln“ einführen will? Schauen Sie bitte die Grafik an, lesen Sie den Statista-Text und dann unseren Kommenar.

Infografik: Nur sehr wenige Hilfebedürftige verweigern die Arbeit | Statista

 

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz CC BY-ND 4.0 Deed | Namensnennung-Keine Bearbeitung 4.0 International | Creative Commons erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Die CDU hat ein Konzept zur Veränderung des Bürgergelds vorgestellt, in dem es auch darum geht, Menschen die Arbeit verweigern, die Leistungen zu streichen. Wie die Statista-Grafik mit Daten der Bundesagentur für Arbeit zeigt, betrifft dies nur eine sehr kleine Gruppe der Hilfebedürftigen. So waren im Jahr 2021 nur 1,4 Prozent bzw. rund 52.000 Menschen von Leistungsminderungen betroffen, die aufgrund von Verweigerung der Aufnahme oder Fortführung einer Arbeit gegen sie verhängt worden sind. In den Jahren davor bewegte sich dieser Anteil auf einem ähnlich niedrigen Niveau.

Die kirchlichen Sozialverbände Diakonie und Caritas haben die Pläne der CDU zum Umbau des Bürgergeldes Medienberichten zufolge als populistisch kritisiert. Menschen, die auf Grundsicherung angewiesen sind, hätten mit erheblichen Problemen zu kämpfen und benötigten wirksame Unterstützung zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt.

Das Bürgergeld soll den Menschen, die ihren Lebensunterhalt nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen beschreiten können, ein menschenwürdiges Existenzminimum zusichern. Der aktuelle Regelsatz wurde zu Beginn des neuen Jahres 2024 deutlich erhöht. Alleinstehende Erwachsene erhalten nun beispielsweise 563 Euro im Monat – 61 Euro mehr als noch im Vorjahr.

Sie haben sich eingelesen? Hier unsere Meinung und noch ein paar Fakten obenauf:

Wegen möglicherweise bis zu 50.000 „harten Arbeitsverweiger:innen“ pro Jahr will die CDU tatsächlich das komplette System kippen, das nach Ansicht von Fachleuten den Menschen ohnehin nicht viele Verbesserungen gebracht hat. Die relativ starken Erhöhungen der Jahre 2023 und 2024 waren lediglich eine Abkehr vom früheren  System des Kleinrechnens und entsprechen in etwa der tatsächlichen Inflation bei den Lebenshaltungskosten armer Menschen. Besonders die Lebensmittelinflation lag in den beiden Jahren 2022 und 2023 zusammen bei über 20 Prozent, noch höher war sie bei den bisher günstigen Lebensmitteln, die sich Arme auch wirklich leisten können.

Das heißt auch, die Lebensmittelinflation konnte 2023 kaum gedämpft werden (8 Prozent), während die allgemeine Teuerung immerhin um 2 Prozentpunkte und damit um ca. 25 Prozentzurückging. Wer beim Supermarkt-Einkauf das Gefühl hat, es gibt überhaupt kein Halten mehr beim Preisauftrieb, der liegt nicht falsch.

Wir haben noch nie gehört, dass der Reibach, der dabei gemacht wird, der Krisen-Mitnahmeeffekt, Kostenerhöhungen, die nicht durch gestiegene Produktionskosten verursacht wurden, in irgendeiner Form von den Lobbykraten der CDU kritisiert wird.

Bei armen Menschen ist es aber so, dass sie solche Preissteigerungen nicht einfach kompensieren können, indem sie an anderer Stelle, etwa bei Reisen oder bei der Bekleidung viel einsparen können. Den Verlust an Wohlstand durch die Entwicklungen der letzten Jahre spüren alle bis in den Mittelstand hinein, aber bei den Armen geht es mittlerweile darum, wie viel man überhaupt noch essen darf. Die Erhöhung des Bürgergeldes 2024 war komplett gerechtfertigt. Man kann lediglich zu geringe Lohnsteigerungen bei Arbeitnehmenden kritisieren und vor allem die angesichts des Preisauftriebs zu geringe Erhöhung des Mindestlohns.

 Sie haben nun schon den Verdacht, dass die sogenannten Christen von der Union uns für dumm verkaufen wollen?

Falls noch nicht, denken Sie bitte an Folgendes: In Deutschland werden Jahr für Jahr von den Reichen und Superreichen mehr als 100 Milliarden Euro Steuern hinterzogen oder durch irgendwelche Schlupflöcher vermieden, die von den Rechten (der CDU und der FDP, vermutlich bald auch von der AfD, wenn sie Regierungsverantwortung übernimmt) bewusst offengehalten werden.

Es gab im Jahr 2023 bereits Sanktionsverschärfungen beim Bürgergeld:

Die Bundesregierung hat mit der Verschärfung der Sanktionen beim Bürgergeld im Jahr 2023 etwa 170 Millionen Euro eingespart. Und das bei Gesamtkosten des Bürgergeldes von etwa 25 Milliarden Euro inklusive des Bürgergeldes für über eine Million Geflüchtete allein aus der Ukraine, die teilweise dem Arbeitsmarkt noch gar nicht zur Verfügung stehen.

Das Verfassungsgericht hat vor wenigen Jahren die maximale Sanktionshöhe auf 30 Prozent des damaligen Hartz-IV-Satzes, jetzt Bürgergeldes, festgelegt. Schon dies konnte nur durchlaufen, weil die Verfassung mittlerweile von erzkonservativen Richter:innen am BVerfG immer mehr in Richtung neoliberale Andienung an das Kapital getrieben wird, denn Hartz IV und Bürgergeld sind das Existenzminimum, das normalerweise niemandem verweigert werden dürfte.

Eine 100-Prozent-Sanktionierung ist hingegen derzeit bei Weitem nicht durch die Rechtsprechung gedeckt, diese müsste also geändert werden, das weiß natürlich auch die CDU. Entweder versucht sie, das Sozialstaatsprinzip durch die Benennung weiterer klassistischer Richter:innenpersonen ganz zu kippen und damit die Verfassung zu beschädigen, oder sie weiß:

Was wir hier vorschlagen, ist populistische Schaumschlägerei, das Papier nicht wert, auf dem die „Neue Grundsicherung“ geschrieben steht.

Sie können sich aussuchen, was Sie hinterhältiger und niveauloser finden. Einen weiteren Aspekt verschweigt man natürlich geflissentlich. Von 5,5 Millionen Bürgergeldempfänger:innen stehen aus verschiedenen Gründen 1,9 Millionen dem Arbeitsmarkt ohnehin nicht zur Verfügung. Was man bekommen wird, wenn man versucht, volatile Menschen, bei denen das aktuell noch der Fall ist, in diese Schrott-Arbeitsverhältnisse zu treiben, die schon Kanzler Schröder der Schreckliche als den besten Niedriglohnsektor in Europa angepriesen hat oder sie gar in irgendwelchen Maßnahmen unterzubringen, in denen sie vielleicht 2  Euro pro Stunde verdienen, ist, dass immer mehr Ärzt:innen ihre Patient:innen gegen die dadurch zu erwartenden Verstärkungen der durch Bürgergeld ohnehin verursachten psychischen  Belastung durch Krankschreibung schützen werden. Die Quote derer, die nicht mehr arbeitsmarktfähig sind, wird steigen. Diese Menschen können für lange Zeit, manchmal vielleicht für den Rest ihres Lebens, nicht mehr aktiviert werden.

Wie immer, so würde es auch in diesem Falle laufen: Die Rechten-Neoliberalen werden versuchen, der Gesellschaft also Folgekosten überhzuhäufen, die sie selbst verursacht haben, nur, um a.) ihren Herren von der Kapitalistenseite ein wenig zu dienen oder guten Willen zu suggerieren, eine wirkliche Dienlichkeit ist in diesem Fall kaum zu erwarten und b.) vielen unbedarften Bürger:innen vor allem eine niedere Einstellung beibringen zu wollen, die nur auf Hetze der Armen gegen die noch Ärmeren oder der Jungen gegen die Alten (FDP, aktuelle Rentendiskussion) hinausläuft.

Es ist dringend notwendig, diese Form von Demokratieschädigung zu durchschauen, die die Gesellschaft immer weiter spaltet, ohne dass irgendwer einen adäquaten Nutzen davon hätte, der nicht  zu denjenigen gehört, die von jedweder Spaltung profitieren. Mangelnde Interessenbündelung der Mehrheit ist eine der größten Gefahren für die Demokratie, und genau darauf zielen diese Parteien.

Parteien, deren Politiker Lobbyskandale produzieren und dabei erkennen lassen, wem sie wirklich dienen: Nicht den Menschen, die meinen, die Bürgergeldempfänger seien das Problem dieses Landes, sondern jenen, denen es komplett hintenrum geht, ob auch die Arbeitnehmer immer schlechter dastehen. Im Gegenteil, sie versuchen diese Desorganisation zu unterstützen, weil sie ihnen dazu dient, die eigenen Profite weiter zu erhöhen, die ohnehin auf Rekordniveau liegen, Krisen hin oder her. Ja, ganz oben nimmt der Wohlstand immer weiter zu, und das in einem immer höherem Tempo.

In Deutschland zählen Menschen mit einem Jahreseinkommen von mehr als 250.000 Euro zu den obersten 1 Prozent und mit einem Vermögen ab etwa 2 Millionen Euro. Das ist gar nicht so viel und zeigt, wo es wirklich interessant wird, nämlich bei den oberen 0,1 Prozent, auf die der hauptsächliche Vermögenszuwachs sich verteilt, während das Medianvermögen aller Menschen in Deutschland kaum vorankommt.

Gehören Sie etwa zu dieser erschütternd schwach aufgestellten Gruppe der etwa durchschnittlich Vermögenden oder sieht es bei Ihnen noch schlechter aus? Glauben Sie wirklich, dass Sie dadurch reicher werden, dass die CDU auf ein paar Bürgergeldempfänger:innen eindrischt? Deutschland ist eines der Länder mit den geringsten Medianvermögen aller sogenannten „reichen Staaten“. Mit dem gegenwärtigen Bürgergeld-Schonvermögen von 40.000 Euro, das wirklich kaum Lebensfälle abdeckt, wie etwa, dass Sie unvermittelt keine Selbstversorgung mehr leisten können und in ein Seniorenheim umziehen müssen. 40.000 Euro reichen gerade noch für ein Jahr, sparen dem Staat in der kurzen Zeit aber Geld. Mit 40.000 Euro liegen Sie sogar über dem Median der Vermögen in Deutschland. Wohlstand für alle, und seien es nur alle, die arbeiten, sieht anders aus.

Woher kommt es also, dass in Staaten, die nicht als so wohlhabend gelten, die Menschen mehr Vermögen besitzen? Könnte es etwas mit der Politik der letzten Jahrzehnte zu tun haben, an der die CDU mit Abstand mehr als jede andere Partei beteiligt war?

Übrigens: Etwa die Hälfte der Menschen in Berlin besitzt überhaupt keine Werte, die man als Vermögen bezeichnen kann. Glauben Sie im Umkehrschluss, es wird sich an dieser miserabel schlechten Aufstellung der meisten Menschen in diesem Land etwas ändern, wenn die CDU mit einem Riesenaufwand und viel populistischem Rummel ein paar Bürgergeldempfänger:innen sanktionieren wird, falls es überhaupt verfassungsrechtlich möglich ist?

Die Vorschläge aus der Union zeigen, dass diese Partei fertig ist. Die Ampel macht viele Fehler aber die CDU ist inhaltlich komplett leer, ausgebrannt und devastiert nach 16 Jahren Merkel-Regierung, das hat sich in der kurzen Zeit seit deren Ende nicht verbessert. Im Gegenteil, man versucht nur noch, mit Bösartigkeit zu punkten.

Wir müssen wieder häufiger die Lobbylastigkeit der CDU besprechen und jeden Beitrag dazu mit dem vorliegenden verlinken, damit Sie , falls Sie immer noch glauben, es handele sich bei der „Neuen Grundsicherung“ um einen Vorschlag zu mehr Gerechtigkeit, von der Idee Abstand nehmen, es handele sich bei deren Politiker:innen um Volksvertreter:innen in dem Sinne, dass sie für die Mehrheit der Bevölkerung etwas Gutes tun und damit einen Gerechtigkeitsfaktor in diesem Land erhöhen wollen, in diesem Falle den der Leistungsgerechtigkeit.

Es gibt in dieser Partei keine zukunftsweisenden Ideen, sondern pompöse Hetzerei und Rückwärtsgewandtheit. So jedenfalls die Außendarstellung des Vorsitzenden und des Generalsekretärs. Wie sollte es anders sein, wenn ein Vertreter des Old-School-Kapitals ebenjener Vorsitzende ist? Natürlich arbeitet die CDU damit schon in Richtung der nächsten Landtagswahlen und Bundestagswahlen, neueste Umfragen seit der Vorstellung der „Neuen Grundsicherung“ bestätigen ihr tatsächlich einen Auftrieb von 1 bis 2 Prozent. Ist es dieser leichte Zuwachs wert, die Menschen so an an der Nase herumzuführen, die sich nicht, wie wir, mit Statistiken befassen und Informationen in den richtigen Kontext stellen können? Die nur die allzeit zu jeder Schandtat bereite Bildzeitung lesen und gar nicht ahnen, wie diese gegen ihre eigenen Leser arbeitet, indem sie versucht, diese zu garstigen, rechtslastigen, unsozialen, demokratiefeindlichen Menschen zu erziehen?

TH


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