Briefing 481 Geopolitik, Ukrainekrieg, Russland, Putin
Gerade ist Russland wegen eines anderen Ereignisses in den Schlagzeilen: Ein Terroranschlag vor einem Konzert hat, gegenwärtiger Stand, 133 Todesopfer gefordert. Binden wir das hier ein? Ja, tun wir im Kommentar.
Doch was bleibt, ist der Krieg in der Ukraine und wie sich die deutsche Politik dazu stellt oder stellen sollte. Dazu die heutige Civey-Umfrage:
Der Begleittext aus dem Civey-Newsletter:
Der SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich hat durch seine jüngsten Äußerungen im Bundestag eine Debatte zum Russland-Ukraine-Krieg losgelöst. Er forderte letzte Woche, nicht nur über Militärhilfen für die Ukraine nachzudenken, sondern auch über Bedingungen für ein mögliches Kriegsende. Man müsse Wege suchen, den Krieg in der Ukraine „einzufrieren”. Viele interpretierten den Satz laut SZ so, dass die Ukraine folglich die von Russland besetzten Gebiete aufgeben müsste. Für Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) wäre ein Einfrieren des Krieges „gefährlich”.
Es dürfe keinen Diktatfrieden geben, „bei dem Putin am Ende gestärkt herausgeht und den Konflikt fortsetzt, wann immer es ihm beliebt”, sagte Pistorius am Montag in Polen. Frieden sei erst möglich, wenn die russischen Truppen sich zurückziehen. Laut ZDF kritisierten auch CSU-Chef Markus Söder und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) Mützenichs Überlegungen. Baerbock nach brauche es eine starke deutsche Regierung, die Frieden und Freiheit verteidige, damit Geschichte sich nicht wiederhole. Dabei verwies sie in den tagesthemen auf die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland und was die Menschen dort seither erleiden würden.
Mehr friedensbringende Bemühungen von deutscher Seite fordern indes auch Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) und Sahra Wagenknecht (BSW). Schröder schlug im Handelsblatt „eine deutsch-französische Initiative für Verhandlungen über eine Konfliktlösung in der Ukraine” vor. Wagenknecht sprach sich am Dienstag im rbb dafür aus, dass Deutschland zwischen Russland und der Ukraine vermittle. Konkret wäre ein Deal erstrebenswert, bei dem Russland zu einem sofortigen Waffenstillstand einwilligen und Deutschland die Waffenlieferungen an die Ukraine einstellen würde.
Der Krieg in der Ukraine dauert am heutigen Tag zwei Jahre und einen Monat. Kann Deutschland in diesem Krieg vermitteln?
Seit fast zwei Jahren und einem Monat gibt es die Forderung nach deutscher Vermittlung unter anderem von Sahra Wagenknecht. Seit fast zwei Jahren und einem Monat schreiben wir: Quatsch.
Daran hat sich also nichts geändert? Auch nicht durch die immer höheren Verluste und die relativ klare Aussicht, dass die Ukraine ihr verlorenes Gebiet nicht wird zurückerobern können?
Wie die meisten, hatten wir anfangs gehofft, das wäre möglich. Es gibt ganz viele Gründe dafür, warum das nicht passiert ist. In vieler Hinsicht finde ich das, was jetzt läuft, folgerichtig. Es ist das Ergebnis von Entscheidungen Putins und der westlichen Politik über viele Jahre hinweg. Wegen all dieser Entscheidungen aber ist es unmöglich, dass Deutschlands aktuelle Politik eine Vermittlerrolle übernimmt.
Noch einmal eine Zusammenfassung?
- Der wichtige Punkte Nr. 1: Deutschland ist nicht neutral. Deutschland hat sich klar auf die Seite der Ukraine gestellt und kann daher keine Vermittlerrolle einnehmen. Deutschland ist Partei, steht nicht außen als Beobachter und Beschwichtiger. Anderslautende Forderungen werden von jenen besonders laut vorgetragen, die Putins Geschäft betreiben und vor allem nach innen wirken, die Deutschen kriegsmüde machen wollen.
- Der wichtige Punkt Nr. 2: Deutschland hat nicht die Machtposition. Nicht einmal die EU im Ganzen hat die Machtposition zur Vermittlung. Wenn kein EU-Land auch nur für einen Cent Waffen liefern würde, wäre sie trotzdem als Vermittlerin nicht geeignet, weil ihr die Macht fehlen würde, auf einer der Kriegsparteien einzuwirken. Kriege sind aber Machtproben und Kriege werden von Machtpolitikern geführt. Diese hören nur auf mit den Kriegen, wenn sie ausgepowert sind und / oder von einer stärkeren Macht dazu gezwungen werden oder wenn, in Demokratien, die Bevölkerung nicht mehr mitmacht, wie es in den USA im Verlauf des Vietnamkriegs der Fall war. Putin hat mit seiner 88-Prozent-Präsidentschaftswahl aber gerade klargestellt, dass er auf die Demokratie scheißt und sich ganz sicher nicht von innen heraus in seinen Krieg hineinreden lassen wird. Es ist vermessen und verlogen, angesichts solcher Zeichen eine eigenständige Vermittlerrolle von Deutschland zu fordern.
Kann Deutschland wirklich gar nichts tun?
Es könnte sich einer US-geführten Initiative anschließen oder sich mit vielen mächtigen „neutralen“ Staaten zusammenschließen und damit auch weltweit mehr Kooperationswillen zeigen. Ersteres sehe ich im Moment nicht, Letzteres geht nicht, weil die deutsche Außenpolitik dazu den Spielraum nicht hat. Auch das ist absurd: Die Putinisten bezeichnen Deutschland als Vasallenstaat der USA, fordern aber von der deutschen Regierung eine Eigeninitiative, die nicht mit den USA abgestimmt wäre und zu der ein Vasallenstaat gar nicht die nötigen Druckmittel hat, um die Verhandlungspartner auch wirklich zu Kompromissen zu bewegen. Ich kann mich nicht recht vorstellen, dass die VErmittlungsforderungs-Apologeten dieses Paradoxon nicht sehen. Also geht es wieder nach innen: Es wird versucht, hier und da ein bisschen an Deutschlands Verankerung im Westen herumzusägen und die Bevölkerung unzufrieden zu machen, weil Scholz einfach keinen Frieden zwischen Russland und der Ukraine vermittelt, der Nichtstuer. Das ist abgefeimt, um es ganz ehrlich zu schreiben und es wird noch übler, wenn man bedenkt, wie dieser Krieg zustande kam, nämlich durch einen einseitigen Angriffsakt seitens einer Atommacht.
Muss Deutschland nicht wegen der hiesigen Angst vor einem Atomkrieg handeln?
Wir bewegen uns noch immer im selben Paradoxon. Gewisse Stimmen in Deutschland schüren die Angst vor einem Atomkrieg und versuchen damit, die Solidarität mit der Ukraine zu beschädigen. Die gleichen Stimmen, die sagen, man kann sich doch nicht mit einer Atommacht wie Russland anlegen, die, notabene, also alles darf, was sie will, weil sie eine Atommacht ist, soll einen Kompromissfrieden vermitteln, den eine Atommacht auf der Siegerstraße gar nicht nötig hat. Das lässt im Folgenden den Schluss zu, dass ein solcher Vermittlungsfrieden die Zerstörung der Ukraine wäre, also ein Diktatfrieden Putins. Wir haben diesen Begriff aus dem Ersten Weltkrieg übrigens schon verwendet, bevor er im gegebenen Zusammenhang ein politisches Revival erlebte, weil die Parallelen von Beginn an deutlich waren.
Kann überhaupt jemand Frieden vermitteln?
Natürlich. Die USA und China könnten es gemeinsam, indem sie jeweils auf ihren Verbündeten einwirken. Die USA hatten anfangs kein Interesse daran, weil sie gut mit jedem Krieg verdienen, jetzt, wo ihnen dämmert, dass die wirtschaftlichen Vorteile die geopolitischen Nachteile nicht mehr überwiegen, sind sie planlos und würden am liebsten aus der Verwüstung von heute auf morgen rauskommen, indem sie einfach die Hilfe für die Ukraine einstellen. China profitiert geopolitisch von diesem Krieg am allermeisten, weil es vorgeblich neutral, besonnen und besorgt wirkt, und hat gar keinen Grund, Putin wirklich unter Druck zu setzen. Ein paar Scheinvorschläge, das war’s. Dieser Krieg arbeitet sehr für Chinas Führung. Und für die einiger anderer „Neutraler“, die sich eine Schwächung des Westens wünschen und dankbar Russlands Rohstoffe zum Billigpreis abnehmen.
Besteht nicht ohnehin die Gefahr, dass es einen Putinschen „Diktatfrieden“ geben wird, wenn Trump in den USA wieder an die Macht kommt?
In der Tat. Es sei denn, die Geostrategen in Washington reden es ihm doch noch irgendwie aus, den Westen derart zu schwächen und die Europäer im Stich zu lassen, die sich im Gefolge der USA in der Ukraine engagieren. Das wird sehr spannend werden. Für uns in Deutschland auch sehr teuer, noch teurer als bisher schon. Denn hier würde auch ein Regierungswechsel nichts ändern. So, wie die CDU-FDP-Kriegsstrategen sich positionieren, können sie unmöglich die Hilfen für die Ukraine einstellen, wenn sie 2025 zusammen eine Regierung bilden sollten. Gleiches würde für eine CDU-Grüne-Regierung oder Jamaika gelten. Die Außenpolitik ist andererseits der Punkt, an dem sich die AfD- und CDU-Geister im Moment noch am meisten scheiden. Eine Art geopolitische Brandmauer, zumindest auf Bundesebene. Die Verfahrenheit der Lage zeigt sich gegenwärtig aber am besten an den unterschiedlichen Stimmen in der SPD.
Mützenich, Pistorius … und wo steht Scholz?
- SPD-General Mützenich ist der Faktenmensch in dieser Sache. Er akzeptiert, was alle im Grunde wissen: Die Ukraine wird Gebiet verlieren. Man darf das aber nicht einfach so sagen, weil es ja Putins Geschäft ist, das man betreibt. Bei Mützenich steckt aber nicht dieser fiese Putinismus, der auch ein Hype des Autokratismus ist dahinter wie bei anderen. Er leuchtet eher den Elefanten an, der längst im Raum steht.
- Pistorius ist in der SPD natürlich ein Konservativer, das versteht sich für einen Verteidigungsminister quasi von selbst. Er ist am dichtesten an jenen dran, die vor allem nicht verlieren wollen. Es geht auch um seine Glaubwürdigkeit, um die Verteidigungsbereitschaft Deutschlands, um das Bild, das die NATO abgibt und dergleichen Erwägungen. Ich verstehe, dass es in einer Partei wie der SPD, in der noch versucht wird, einigermaßen ernsthaft Politik zu machen, beide Positionen gibt.
- Für diese Ernsthaftigkeit steht auch Olaf Scholz. Er führt keine Scheindiskussionen, sondern schaut aufs Ganze und das Ganze gefällt ihm überhaupt nicht. Er kann nicht sagen, wir verhandeln jetzt und Putin gewinnt dabei, er kann aber auch nicht das Risiko immer weiter erhöhen. Das hat er sich sicher nicht vorgestellt, eine Kanzlerschaft unter solchen Bedingungen, die beinahe zwangsläufig zum Scheitern verurteilt ist. In seiner Haut möchte ich wirklich nicht stecken. Ich mag vieles an ihm nicht, aber seine außenpolitische Linie in Zeiten, in denen man im Grunde keine Statur haben und nicht glänzen kann, ist zu würdigen.
- Scholz ist der Regierungschef eines kleinen und von anderen abhängigen Landes, das trotzdem immer gebasht wird, auch von innen heraus, in dem die Opposition schändliche Spiele mit der Lage treibt und Teile der Regierung unverantwortlich reden, während ein Kanzler verantwortlich handeln muss, um seinem Auftrag, Schaden von uns abzuwenden, einigermaßen gerecht zu werden, ohne die Verbündeten vor den Kopf zu stoßen – in einer solchen Lage kann er nur verlieren. Das weiß er auch, dass seine Amtszeit unter dem ungünstigsten Stern aller Kanzlerschaften seit der Gründung der BRD steht. In diesen Zeiten würde auch Willy Brandt keine „Entspannungspolitik“ machen können, das wissen wiederum diejenigen, die sich jetzt immer auf ihn berufen, obwohl er ihnen eigentlich viel zu mittig-demokratisch war, seinerzeit.
Damals war Deutschland doch nicht unabhängiger als jetzt?
In gewisser Weise schon. Es hatte eine gute Position als demokratischer Frontstaat, außerdem war das Zeitfenster tatsächlich klein. Es reichte nur von Willy Brandts Amtsantritt 1969 bis ins Jahr 1973, danach war es zu. Nach dem, was einige, die damals dichter dran waren, schreiben, wurde Brandt von den USA bei einem Besuch im Weißen Haus 1973 klargemacht, dass jetzt Schluss ist mit der Annäherung an den Osten und man selbst für die weitere Entspannung sorgen werde, wie etwa dem Rückzug aus Vietnam oder der Annäherung an China. In Europa hingegen seien die Möglichkeiten nun ausgeschöpft, dem Osten entgegenzukommen, ohne das fragile geopolitische Gleichgewicht zu verschieben. Man darf nicht vergessen, dass damals nicht absehbar war, dass der Ostblock so schnell und unkriegerisch zusammenbrechen würde. Man nahm einander noch ziemlich ernst.
Weit mehr, als der Westen Russland nach der Wende ernstgenommen hat, auch Putin immer noch unterschätzt und deshalb einen Fehler nach dem anderen macht.
Es passte besser in genau dieses Bild der Zeit, was Brandt gemacht hat, nämlich, weltweit etwas die Luft rauszulassen. Die beiden großen Machtblöcke boten in mancher Hinsicht mehr Entwicklungsmöglichkeiten, wenn sie von halbwegs vernünftigen Menschen gesteuert wurden, als das im heutigen Chaos der Fall ist, wo jeder der Erste und Beste sein will und jeder am meisten versucht, Profit aus den Fails anderer zu ziehen. Damals war eher ein Gefühl für gegenseitige Abhängigkeit und Verantwortung vorhanden als heute, bei aller Konkurrenz. Ich meine speziell die 1970er. Das heutige Szenario unterscheidet sich vom damaligen fundamental. Es ist leider eher wie in Europa vor dem Ersten Weltkrieg, nur dass das Szenario nun weltweite Machtstellungen kennt und es die atomare Abschreckung gibt. Wir hätten längst wieder einen Großkrieg gesehen, ohne sie. Genau deshalb wird Putin aber auch schön die Atomraketen stecken lassen.
Weil er sowieso siegt?
Er steckt jedenfalls nicht so in der Klemme wie Kanzler Scholz. Außerdem ist er nicht verrückt. Er ist kein Hobbystratege wie Adolf Hitler, der sich übernimmt, kaum, dass er an der Macht ist, sondern ein gewiefter Geheimdienstler. Das prägt ihn. Das haben wir lange vor dem Ukrainekrieg geschrieben. Deswegen mögen wir ihn nicht, weil diese Menschen, zumal, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlen, alles ausreizen, was irgendwie geht. Aber eben nur das, was geht. Es gibt so eine schöne Story aus der Corona-Zeit, als Putin angeblich von der Außenwelt in Quarantäne abgeschieden mit einem Nationalisten zusammen in einer Datsche gesessen hat, man sich die Köpfe heißredete und uralte Karten mit der maximalen Ausdehnung des russischen Imperiums herausgekramt hat, woraufhin sich der Ukraine-Angriff als nächstes Ziel zu dessen Wiederherstellung konkretisiert haben soll. Glauben Sie das? Es ist fast schon witzig, es sich bildlich vorzustellen, vielleicht stimmt es sogar, aber wir dürfen davon ausgehen, dass Putin genau dort stoppen wird, wo es wirklich gefährlich wird. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er wirklich testen will, ob die NATO bereit ist, zum Beispiel die baltischen Staaten zu verteidigen.
Falls doch und die erweist sich als Papiertiger, dann allerdings Gnade uns Gott.
Es wird ihn sicher jeden Tag ärgern, dass Russland ein Atomstaat ist, andere aber auch Atomwaffen haben. Wäre das einseitig, dann wirklich Gnade uns Gott. Und es wäre viel besser, wenn Deutschland ein Mitspracherecht bezüglich des Einsatzes der US-Atomwaffen in Deutschland hätte oder sich selbst welche beschaffen würde. Es geht nur um Macht, um Kalkül, nicht um Menschenleben. Nicht bei Putin, wie man an dem hohen Einsatz in der Ukraine sieht, der für ihn selbst aber ein überschaubares Risiko darstellt, solange der Westen nicht voll dagegenhält. Was er nicht tun wird.
Aber dann muss doch verhandelt werden, wenn man nicht voll dagegenhalten will, um zum Ausgangspunkt zurückzukommen. Apropos: Wie haben wir nun abgestimmt?
Mit „eher nein“. Siehe oben, es gibt Möglichkeiten, sich einzubringen, dafür fehlen aktuell aber die Voraussetzungen. Und da wollte ich Scholz ein wenig entlasten, indem ich ihm keinen Druck mache, das derzeit Unmögliche anzugehen. Leider sieht die Mehrzahl der Menschen das anders, aktuell sind fast 49 Prozent klar für Verhandlungen Deutschlands. Zu diesen, ich kann es nur wiederholen, fehlt aber das Mandat, das von allen Mächtigen ausgestellt wurde. Wenn, dann müssen die Supermächte es selbst angehen.
Über den Kopf der Ukraine hinweg, wie es bei einem Machtwechsel in den USA hin zu Trump befürchtet wird.
Wenn er den Ukrainekrieg wirklich innerhalb von 24 Stunden beenden kann, wie er behauptet, dann über deren Kopf hinweg, klar. Und über den der Europäer hinweg, versteht sich. Die hat Trump noch nie für voll genommen und das auch viel offener ausgedrückt als andere US-Politiker.
Aber dann wäre es doch besser, vorher einen besseren Frieden für die Ukraine zu finden.
Es wäre besser für die Ukraine, aber nach Selenskyis Ansicht nicht gut genug. Die russische Haltung ist eine ganz ähnliche. Deshalb darf keinesfalls die noch kämpfende Ukraine etwa in eine westliche Organisation aufgenommen werden, wie einige Deppen es auch schon gefordert haben.
Dann wäre sie aber auch sicherer.
Nicht im Mindesten. Putin würde alles daransetzen, eine faktische Auswirkung dieser Mitgliedschaft durch eine komplette Besetzung der Ukraine zu verhindern. Ich hatte mal einen Friedensvorschlag skizziert, der mittlerweile leider durch den Kriegsverlauf fast obsolet geworden ist. Russland behält mehr oder weniger die eroberten Gebiete, dafür wird der Rest der Ukraine voll in die NATO integriert und irgendwann, hoffentlich so spät wie möglich, in die EU. Meine Befürchtung ist, dass Putin auf eine solche Lösung schon gar keine Lust mehr hat, weil die Zeit eh für ihn spielt. Als ich den Vorschlag andachte, war die Lage in den USA noch nicht so dramatisch gegen die Ukraine ausgerichtet und das Ergebnis der Sommeroffensive 2023 stand noch aus.
Dann ist aber doch das Desaster für die Ukraine und den Westen jetzt vorgezeichnet.
Es ist sehr viel Zeit vergangen, seit dem Angriff vom 24. Februar 2024 auf die Ukraine. Die Dynamik, die sich entwickelt hat, haben auch viele Militärexperten nicht vorausgesehen oder sie haben uns angelogen. Es ist ganz schwierig, sich jetzt einer Haltung anzuschließen, die von Putinist:innen geäußert wird, die noch wenige Tage vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine im deutschen Fernsehen andere versucht haben lächerlich zu machen, die dringlichst vor diesem Einmarsch gewarnt haben. Ich glaube nicht, dass zum Beispiel Sahra Wagenknecht sich auch nur einen Deut mit Putin auskennt. Falls doch, betreibt sie tatsächlich bewusst sein Geschäft. Aber die Fakten sehen jetzt nicht gut aus. Diplomatisch zeichnet sich die Niederlage des Westens ab. Es sei denn, wie geschrieben, die USA vollziehen eine Kehrwende und unter ihrer Leitung gehen die Europäer All-In. Dann würde sich nämlich herausstellen, dass der Papiertiger in Wirklichkeit Putin ist. Niemals würde er Atomwaffen einsetzen, wenn die Europäer und die Atommacht USA aktiv zur Verteidigung der Ukraine schreiten würden.
Das ist jetzt sehr gewagt.
Ich bin mir ziemlich sicher. Aber auch das Restrisiko ist vorhanden und ich verstehe Kanzler Scholz, dass er dieses Restrisiko ausschalten und nicht deutsche Truppen in dem auch historisch vorbelasteten Gebiet der Ukraine einsetzen will. Der Preis dafür, den Westen geopolitisch aus der Patsche zu holen, wäre sehr, sehr hoch, auch im Vergleich zu dem Preis, den wir alle schon seit zwei Jahren zahlen. Man muss wissen, ob man diesen Preis bereit ist zu zahlen. Gerade ärmere Menschen, die von Kriegen nie profitieren, sollten sich genau überlegen, ob sie da zustimmen.
Noch einmal nachgehakt: Putin würde einen Einsatz von NATO-Truppen in der Ukraine nicht mit Atomschlägen beantworten?
Nein. Solange meine Prämisse stimmt, dass er nicht verrückt ist. Scholz denkt wohl, auch wenn die Wahrscheinlichkeit, dass er verrückt ist, nur ein Prozent beträgt, das eine Prozent ist zu viel und außerdem rennen uns die Wähler weg, weil dieser Krieg immer teurer wird und das Blut deutscher Soldaten vergossen werden könnte. Ich bin auch der Meinung, dass es das nicht wert ist, um offen zu sein. Ich arbeite ja nicht für Rheinmetall. Aber Russland wäre am Arsch, wenn die NATO wirklich ernst machen würde und auch China könnte dagegen nichts unternehmen. So weit ist man dort noch lange nicht, wirklich mit der NATO-Power in einem Krieg auf fremdem Terrain mithalten zu können.
Das Bild der letzten Jahrzehnte ist dadurch verzerrt, dass die USA immer versucht haben, mit billigen Lösungen ihre geopolitische Stellung zu halten oder auszubauen, nie mit echtem Risiko. Sie haben ein Vietnam-Trauma, so, wie wir ein Nazi-Trauma haben oder eines, das sich aus den Ergebnissen beider Weltkriege zusammensetzt. Seit Vietnam sind die USA ausschließlich feige und hinterhältig geworden und dieses Halbscharige und äußerst unsympathische überall herumintervenieren, ohne Ziel und Plan, das reicht nicht aus, um gegen entschlossene Autokraten wie Putin zu gewinnen. Deswegen wäre so ein Trump-Cut vielleicht gar nicht schlecht, um endlich wieder klare Luft in der Weltpolitik zu sehen.
Also All-Out.
Ich beschreibe nur Szenarien und allenfalls noch, wie weit ich bereit wäre, persönlich zuzustimmen. Würde der Westen sich vereinigen, wie sich alle gegen die Nazis vereinigt haben, dann wäre Russland nicht in der Lage, den Ukrainekrieg zu gewinnen. So wird es aber nicht kommen, aller Voraussicht nach. Und aus deutscher Sicht muss man eben den Preis abschätzen. Ist er höher, wenn Putin diese Runde gewinnt oder will man ihn für immer k. o. hauen, dass er nie wieder ein Land angreift, und dafür nicht Milliarden, sondern Billionen ausgeben und konventionelle Angriffe auf Deutschland riskieren?
Ist dem sehr entschlossenen Wladimir Putin zuzutrauen, dass er im eigenen Land einen Terroranschlag ausführen lässt, um die Russen noch mehr gegen die Ukraine zu mobilisieren? Wir wollten das Thema ja aufgreifen.
Wer das behauptet, ohne den geringsten Anhalt dafür zu haben, der muss auch zulassen, dass über die Urheberschaft von 9/11 noch einmal eine Diskussion in Gang kommt, ohne dass gleich „Verschwörungstheorie!“ geschrien wird. Es sind übrigens solche Stimmen, die auch behauptet haben, Russland stecke hinter dem Anschlag auf die Nord Stream-Leitungen, was uns immer schon nicht ganz schlüssig vorkam bzw. haben wir es nicht als das wahrscheinlichste Szenario angesehen.
Den aktuellen Terroranschlag in einer Konzerthalle betreffend, ich fand die Haltung des deutschen Botschafters in Moskau ganz in Ordnung:
Der deutsche Botschafter in Moskau, Alexander Graf Lambsdorff, sagte der Zeitung: »Für Terror gibt es keine Rechtfertigung – niemals und nirgendwo. Wir verurteilen jede Gewalt gegen unschuldige Zivilisten. Das gilt in Russland genauso wie in der Ukraine. Menschlichkeit muss dabei unser Kompass bleiben. Mein Mitgefühl gilt den Familien der Opfer.« Es sei wichtig, dass die Hintergründe aufgeklärt würden.
Anschlag bei Moskau: SPD-Politiker Michael Roth spricht Russland Opferrolle ab – DER SPIEGEL
Das erste Mal seit Genscher, dass ein FDP-Politiker diplomatisch ganz gut die Kurve kriegt, überspitzt ausgedrückt. Die Opfer des Anschlags sind zu betrauern wie überall sonst auf der Welt nach einem solchen Akt, aber man darf trotzdem auf den laufenden Angriffskrieg in der Ukraine hinweisen. Man müsste im Westen hingegen mehr über die Hintergründe von Terror sprechen, der in westlichen Staaten stattfindet, wo es ja im Moment eher ruhig ist, von dem Hamas-Angriff auf Israel abgesehen. Aber für sich genommen ist das Statement in Ordnung.
Ist eine False-Flag-Aktion nicht doch möglich?
Möglich ist bei Machtpolitikern alles, zumal, wenn sie einen Geheimdiensthintergrund haben und solche Aktionen kompetent durchführen können. Ich glaube es trotzdem nicht. Wenn das herauskäme, wären selbst die weitgehend gleichgeschalteten russischen Medien in einer sehr schwierigen Position. Ich meine, das hat Putin im Moment auch nicht nötig, so, wie er es nicht nötig hatte, die russisch-deutschen Nord-Stream-Leitungen zu beschädigen, durch die auf sein Geheiß hin eh kein Gas mehr floss, als der Anschlag stattfand. Ich bin natürlich kein so guter Putin-Experte wie Wagenknecht, die sich vor dem Ukraine-Krieg so fundamental verschätzt hat oder so tat.
Aber das kann man schon beurteilen, dass Putin keine eigenen Zivilisten so umbringen lässt?
Dieses Vorgehen wäre zumindest außerhalb des Musters, das bisher sichtbar geworden ist. Es ist ein Riesenunterschied, ob man im Ausland einige missliebige Personen gezielt verfolgen lässt, oder ob man durch einen solchen gefakten Anschlag unzählige beliebige Menschen im eigenen Land tötet. Und wirksam im Sinne von mobilisierend wäre die Aktion allenfalls, wenn die russische Regierung auch das Narrativ aufrechterhalten könnte, dass der Terroranschlag vom ukrainischen Staat ausgeführt wurde. Alles andere weist ja eher darauf hin, dass der Westen und Russland in Wirklichkeit gemeinsame Interessen haben, zum Beispiel bezüglich der Terrorbekämpfung, und dass Russland außer den nach Putins Auffassung Bösewichten in der EU und in Washington noch ein paar andere Feinde hat. Die russische Regierng ist also nicht der von allen anerkannte Fürsprecher aller vom Westen Unterdrückten. Ich lege mich jetzt dahingehend fest, dass es sich nicht um eine „False-Flag-Aktion“ handelt.
Gibt es auch eine Festlegung hinsichtlich des Ausgangs des Ukrainekriegs?
Die Bewertung eines schon abgeschlossenen Terroranschlags mit nur einer einzigen ausgeschlossenen Möglichkeit ist etwas anderes, als die Glaskugel zu bemühen. Ich lege mich dahingehend fest, dass die Ukraine nicht wird das gesamte russisch besetzte Gebiet inklusive der Krim wieder zurückgewinnen können, falls der Westen nicht genau anders herum handelt, als Trump es schon für den Falls einer Wiederwahl angekündigt hat und nach jedem Maßstab Kriegspartei wird.
Was, wenn tatsächlich EU-Länder Truppen entsenden und daraufhin in ihrer Eigenschaft als NATO-Länder von Russland angegriffen werden? Müssen wir alle Beistand leisten, wenn ein NATO-Staat einen Angriff auf sein Gebiet provoziert?
Deswegen habe ich kürzlich geschrieben, gerade die kleinen baltischen Staaten sollten etwas vorsichtiger mit Bodentruppenspekulationen sein, den Ukrainekrieg betreffend. Solche Äußerungen kämen aus der Gegend gewiss nicht, wenn man sich nicht in der NATO sicher fühlen würde. Vor einem Friedensschluss wird sowieso eine verbale Abrüstung stattfinden müssen, die allen eine gewisse Gesichtswahrung erlaubt.
Leider wird Putin einen Sieg auch als Sieg gehörig feiern und der Nationalismus in Russland, den er befeuert, wird weiter anschwellen. Der Westen hat es aber selbst verbockt. Wenn man ein Land wie die Ukraine auf seine Seite ziehen will, obwohl es in Russland darüber erheblichen Unmut gibt, muss man es auch vollständig schützen. Dazu war man nicht bereit oder hat es verpeilt, weil man eben Putin nicht ernst genommen hat. Dabei, das Ruder jetzt schnell herumzureißen, helfen keine einzelnen Waffenlieferungen, welcher Gattung und welchen Systems auch immer. Der Leopard wendete das Schicksal nicht, der Taurus wird es nicht und auch Kampfflugzeuge werden die Wende nicht erzwingen.
Ich sehe keine vernünftige Lösung näherkommen. Mir tun die Menschen leid, die getötet wurden und noch sterben werden und deren Angehörige. Diese Kriege sind nie ihre Gründe wert, aber die Russen setzen sich in ihnen immerhin noch selbst für ihre Interessen ein, wie auch immer man diese Interessen bewertet, während der Westen andere sterben lässt. Dieses Blut klebt wieder einmal an unseren Händen und korrumpiert jede sogenannte Wertepolitik. Aus diesem Dilemma kommen wir mal wieder nicht anständig heraus. Kein Wunder, dass die Lebenszufriedenheit bei uns stärker abnimmt als unter anderem in Russland.
Wir neigen dazu, uns immer wieder in aussichtslose Situationen zu manövrieren, wenn man uns nicht davon abhält und immer irgendwie auf der falschen Seite zu stehen oder zumindest aufs falsche Pferd zu setzen. Das war das Schöne am Kalten Krieg, die Unmöglichkeit, ständig falsche Entscheidungen zu treffen, denn die Spielregeln waren sehr strikt. Mehr als 30 Jahre nach dem Ende dieser Weltlage stellt sich wieder heraus, dass deutsche Politik Glücksache ist, mehr nicht. Aktuell wurde sie vom Glück leider verlassen. Sehr logisch, dass die Menschen nicht mehr so recht glücklich sind mit dieser Politik und sich selbst, die sie sich diese Politik gewählt haben. Der Blick in den Spiegel ist derzeit nicht der Angenehmste, vor allem nicht, wenn man ehrlich sich selbst gegenüber ist.
TH
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