„Überleben, ganz oder teilweise“ (Verfassungsblog-Editorial zum Gazakrieg und zur UNRWA + Leitkommentar) | Briefing 483 | Geopolitik

Briefing 483 Geopolitik, Gazakrieg, Gazastreifen, Israel, Palästina, USA, UN, UNRWA 

Liebe Leser:innen, wir schenken Ihnen heute wieder einen Artikel des Verfassungsblogs. Das Editorial des vergangenen Wochenendes. Es befasst sich mit einem speziellen Aspekt des Gazakriegs und der Situation der Palästinenser im Ganzen – der UN-Organisation UNRWA, die speziell für den Konflikt im Nahen Osten gegründet wurde und in letzter Zeit häufig in der Diskussion stand. Auch auf diese Diskussion wirft der Beitrag einen Blick – aus palästinensischer Sicht. Der Autor schreibt aus berufener Sicht als Mitglied eines UNRWA-Verhandlungsteams, aber nicht neutral.

 Wir kommentieren im Anschluss an den Artikel.

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Überleben. Ganz oder teilweise.

Als Israels Verteidigungsminister im Oktober eine “vollständige Belagerung” des Gazastreifens anordnete, die sich auch auf “kein Essen” erstreckte, wurde dies von vielen als eine  “Belagerung durch Aushungern” eingeordnet, als Kriegsverbrechen. Diese Woche – fünf Monate und mehrere von den USA abgelehnte Waffenstillstandsresolutionen später – wurde Gaza zur dritten Hungersnot des 21. Jahrhunderts erklärt; die Hälfte aller Palästinenser in Gaza ist dem erhöhten Risiko akuter Unterernährung ausgesetzt. Auf diese grausame Wegmarke wies die Leiterin der United States Agency for International Development, Samantha Power, hin. Power, eine Genozidforscherin, die sich später der Politik zuwandte, schrieb einst das vielbeachtete Buch ‘America and the age of genocide’, in dem es darum geht, wie und warum es dazu kommen konnte, dass die Vereinigten Staaten die Genozide in Bosnien und Ruanda nicht verhinderten.

In dieser Zeit des Genozids bereitet der US-Kongress unterdessen ein Gesetz vor, das die US-Finanzierung für das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA), der bei weitem größte humanitäre Akteur im Gazastreifen, verbietet.

Begründet die fortlaufende Finanzierung und Bewaffnung Israels bei gleichzeitiger Entziehung aller Finanzierung für UNRWA eine Mittäterschaft am Genozid? Über die Frage, ob die Justiz eine solche Mittäterschaft der Biden-Regierung feststellen kann, wird schon bald ein US-amerikanisches Bundesberufungsgericht entscheiden. Ein untergeordnetes Bundesgericht sah hierin noch eine nicht-justiziable Frage, während es zugleich aber anerkannte, dass “es plausibel ist, dass das Verhalten Israels einem Genozid gleichkommt” und die Biden-Administration drängte, “die Ergebnisse ihrer unverbrüchlichen Unterstützung für die militärische Belagerung der Palästinenser im Gazastreifen zu überprüfen”. Man fragt sich fast, ob das armselige Schauspiel einer Supermacht, die Nahrungspakete abwirft, Bidens Versuch ist, die Weltöffentlichkeit oder zumindest einige tausend arabisch-amerikanische Wähler in Michigan davon zu überzeugen, dass die USA das Verhungernlassen durch Belagerung nicht beenden können, obwohl ihre Waffen und diplomatische Deckung dies erst ermöglicht haben.

Mein gesunder Verstand zwingt mich dazu, mir in diesem unerbittlichen Horror zu sagen: die Zerstörung Gazas und seiner Bevölkerung wird irgendwann enden. Auch wenn Israel und all diejenigen, die diese Völkerrechtsverbrechen ermöglichten, ihrer rechtlichen Verantwortung vielleicht entgehen werden – den moralischen Makel werden sie tragen. Wir Palästinenser werden überleben, “ganz oder teilweise”. Aber dieser Akt der Selbstberuhigung endet für mich mit der Erkenntnis, dass das Hilfswerk UNRWA, für das ich nicht ein Mal, sondern drei Mal stolz arbeiten durfte, diese Zeiten nicht überleben könnte. Und so finde ich mich dabei wieder, dass ich die Carte Blanche zum Schreiben dieses Editorial, einmal aufs Neue dazu nutze, um über UNRWA zu schreiben.

UN-Organisationen haben ganz unterschiedliche Kulturen. Diese Kulturen gehen oft auf die historischen Umstände zurück, die zu ihrer Entstehung führten: UNCTAD und die G77, UNIDO und die Neue Internationale Wirtschaftsordnung, UNOPS und der Washington Consensus. UNRWA ist ein kurioser Fall. Das Hilfswerk entstand nicht aus den Trümmern des Krieges von 1948, auf denen sich Israel gründete und auf denen die meisten arabischen Palästinenser entrechtet wurden, zumindest nicht direkt. Vielmehr wurde die Gründung von UNRWA von der UN Economic Survey Mission for the Middle East empfohlen, die aus Delegierten aus dem Vereinigten Königreich, Frankreich und der Türkei bestand und von dem Vorsitzenden der Tennessee Valley Authority (TVA) geleitet wurde, einem Arbeits- und Industrieentwicklungsprogramm für eine verarmte Region im Süden der Vereinigten Staaten. Viele der Hilfs- und Arbeitsprogramme für palästinensische Flüchtlinge, die die Mission empfahl, waren nach dem Vorbild der TVA gestaltet. Die Genealogie von UNRWA ist dezidiert westlich.

Als die Pläne der Mission für großangelegte Bauprojekte scheiterten, wurde das Mandat von UNRWA auf Fragen menschlicher Entwicklung ausgerichtet. Obwohl die Empfehlungen der Mission auf die Umsiedlung, und nicht auf die Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge abzielten, half die Erfüllung des neuen UNRWA-Mandats ironischerweise dabei, die palästinensische Identität und nationalen Ambitionen zu bewahren. Und dennoch wurde UNRWA, das fast ausschließlich durch freiwillige Beiträge finanziert wird, weiterhin als westliche Organisation verstanden; genauer gesagt: als Ausdruck westlicher Verantwortung für die Tragödie Palästinas und das ungelöste Schicksal der palästinensischen Flüchtlinge.

In den letzten drei Jahrzehnten waren Identität und Kultur von UNRWA mit einem israelisch-palästinensischen “Friedensprozess” verbunden. Nach der Madrid-Konferenz und den Osloer Abkommen verlegte UNRWA seinen Hauptsitz von Wien nach Gaza. Die meisten Palästinenser, mich eingeschlossen, haben im “Friedensprozess” schon seit einiger Zeit eine Täuschung erkannt, eine Ablenkung, während Israel seine Dominanz über die besetzten Gebiete und deren palästinensische Bevölkerung festigte. (Die Vorausschauenderen unter uns, darunter auch Edward Said, wussten das von Anfang an.) Und dennoch übernahm UNRWA im Jahr 2010, nachdem Verhandlungsrunde über Verhandlungsrunde gescheitert war, das Motto “Frieden beginnt hier”. Wie der Sprecher von UNRWA damals schrieb, gibt die Organisation “denjenigen, die die Aufgabe haben, Frieden zu bringen, eine solide Basis, um diese schwierige Aufgabe zu beginnen.”

Die Idee, dass gerade vertriebene und unter Besatzung lebende Palästinenser die Hauptverantwortung dafür tragen, Frieden mit ihren Besatzern und Enteignern zu schaffen, bleibt eine grundlegende und fundamental zynische Annahme der westlichen Geldgeber von UNRWA. Hierin zeigt sich auch ihre Sicht auf den Platz der Palästinenser in der internationalen Ordnung, wie es etwa auch durch viele ihrer Interventionen in den laufenden IGH-Gutachtenverfahren zum Ausdruck kommt. Israels Ministerpräsident, der am längsten amtierende seiner Geschichte, hat geschworen, dass es keinen palästinensischen Staat geben wird – das ist die Position seiner Partei seit 1977. Doch für die USA, das Vereinigte Königreich und andere besteht der einzige Weg, Israels fast 60-jährige Verweigerung palästinensischer Selbstbestimmung zu beenden, in verhandelten Lösungen. Mit anderen Worten: Es ist an den Palästinensern, Israels Meinung zu ändern – aber nicht durch Widerstand, diplomatische Manöver, “Lawfare”, Boykotte oder irgendwelche anderen Mittel jenseits flehentlicher Bitten.

Die von den westlichen Förderern auferlegten Finanzierungsbedingungen für UNRWA haben die Agentur umgeformt. Lange vergangen sind die Flüchtlingsbeauftragten, die damit mandatiert waren, Menschenrechtsverletzungen der palästinensischen Flüchtlinge durch israelische Streitkräfte im besetzten Gebiet zu dokumentieren. An ihrer Stelle stehen nun Schutz- und Neutralitätsbeauftragte, die unter dem Deckmantel der Neutralität eine “Friedenskultur” durchsetzen sollen, um beispielsweise sicherzustellen, dass Landkarten des historischen Palästinas nicht in UNRWA-Schulen gezeigt werden. Ein “Lehrplanüberprüfungsteam” durchkämmt jedes Semester palästinensische Schulbücher und markiert Inhalte, die das Team oder die Juristen von UNRWA für unvereinbar mit einer vagen Vorstellung von UN-Werten und UN-Positionen halten.

Ich nahm als einer dieser Juristen an endlosen Gesprächen mit der UNRWA-Verwaltung auf verschiedenen Ebenen über die Bedeutung von UN-Werten und UN-Positionen teil. Ist das Recht auf Selbstbestimmung von jenen UN-Werten umfasst? Darf die palästinensische Bevölkerung ein nationales Narrativ pflegen und ein politisches Programm entwickeln, um dessen Selbstbestimmung zu erreichen? Wird UNRWA nicht dazu benutzt, die palästinensischen Ansprüche auf Selbstbestimmung zu untergraben, indem UNRWA den Forderungen seiner Geldgeber nachgibt, im Wege von aufgezwungener Amnesie in den Schulplänen in die palästinensischen Narrative einzugreifen? Am Ende tat UNRWA aber das, was die Geldgeber verlangten – oder vielmehr verlangten die Geldgeber, was die Kritiker von UNRWA von ihnen verlangten.

Wie ich letzten Monat schrieb, ist “die Delegitimierung von UNRWA die Weichenstellung dafür, die Verantwortung für das Wohlergehen der Palästinenser auf ‘legitime’ internationale Organisationen umzuleiten, d. h. auf solche, die Hilfsgüter ohne Rücksicht auf den Status als palästinensische Flüchtlinge verteilen werden”. Das geschieht jetzt. Schon bevor das Finanzierungsverbot durch den US-Kongress in Kraft trat, hatten die Vereinigten Staaten die Hilfe für den Gazastreifen von UNRWA auf das Welternährungsprogramm umgeleitet. Die Europäische Union hat die zukünftige Finanzierung für UNRWA an die Bedingung geknüpft, dass die Untersuchungs- und Ethikabteilungen der Agentur erweitert werden, eine “systemische Überprüfung” der internen Kontrollen der Agentur durchgeführt und andere ähnliche Maßnahmen ergriffen werden. Das ist eine gute Nachricht, wenn Sie ein Experte aus dem humanitären Sektor auf Arbeitssuche sind; es ist eine weniger gute Nachricht, wenn Sie ein palästinensischer Flüchtling sind, der auf Bildung, Gesundheitsversorgung und Sozialdienste angewiesen ist, die von UNRWA bereitgestellt werden und nun unweigerlich weiter gekürzt werden, um diese ausufernde Bürokratie zu finanzieren.

Wenn UNRWA diese existenzielle Krise überlebt, wird es daraus als stark zusammengeschrumpfte Organisation hervorgehen. Die Unterstützer von UNRWA müssen aufhören, wider besseren Wissens auf weitere Finanzierung aus dem regulären UN-Haushalt zu hoffen, darauf, dass die Vereinigten Staaten mit Blick auf Israel und Palästina nach ihren eigenen strategischen Interessen handeln werden oder darauf, dass die Europäer ihren eigenen Weg in dieser Frage finden. UNRWA beschäftigt ungefähr 300 internationale und 30.000 palästinensische Mitarbeiter (über 90 Prozent von ihnen sind selbst Flüchtlinge), ein Verhältnis, das im UN-System beispiellos ist. Noch so viele Verwaltungsreformen, Überprüfungen und Überwachungen werden Israel nicht davon abhalten, UNRWA zu delegitimieren; ebensowenig wie sie westliche Geldgeber in Antwort darauf davon abhalten werden, von UNRWA zu verlangen, noch mehr seiner knappen Ressourcen für die Überwachung von Personal und Zuwendungsempfängern aufzuwenden.

Die Zukunft von UNRWA, wenn es eine haben soll, setzt voraus, dass UNRWA sich aus diesem Teufelskreis befreit, indem es seine Beziehung zur nicht-westlichen Welt neu erfindet. Die Katastrophe, die sich im Gazastreifen abspielt, hat diesen Teil der Welt eindeutig mobilisiert. Eine beispiellose Zahl von 54 Staaten sowie die Organisation für Islamische Zusammenarbeit, die Arabische Liga und die Afrikanische Union haben schriftliche Erklärungen in den laufenden Gutachtenverfahren vor dem Internationalen Gerichtshof eingereicht. Die meisten  forderten den Gerichtshof auf, Israels langanhaltende Besatzung, Siedlungen und Annexion von palästinensischem Gebiet für rechtswidrig zu erklären und die daraus resultierenden Verpflichtungen erga omnes anzuerkennen.

Die Tage müssen vorbei sein, in denen nicht-westliche Staaten wesentlich weniger beitrugen, als es ihre Mittel erlauben, weil sie nicht die Verantwortung der westlichen Geldgeber für eine Krise, die der Westen verursacht hat, mildern wollten. Diese Geldgeber (und die EU), die die Finanzierung von UNRWA während des israelischen Angriffs auf den Gazastreifen und während Handlungen, die der IGH als plausibel genozidal bezeichnet hat, aussetzten, haben ihre Verantwortung in den schlimmstdenkbaren Zuständen bereits abgegeben. Sie haben ihr moralisches Recht verwirkt, noch in die Angelegenheiten von UNRWA einzugreifen. Möchte UNRWA sich aus diesen Diktaten befreien, muss es sich um die Unterstützung der nicht-westlichen Welt bemühen.

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Im Prinzip haben wir geschwiegen

Wegen der Schrecken des 7. Oktober 2023 haben wir bisher kaum eigenständige Beiträge zum Thema Gazakrieg veröffentlicht, die sich kritisch mit der israelischen Reaktion darauf befassen oder sich gar mit der Historie des Nahostkonflikts auseinandersetzen. Wir haben uns eher in Zusammenhängen mit Geopolitik an sich die eine oder andere Bemerkung erlaubt. Wir haben aber mitgezählt. Wir haben ca. 1.200 entsetzliche Morde an Jüdinnen und Juden gezählt, verübt durch die Hamas an ebenjenem Tag im Herbst des letzten Jahres, wir zählen immer noch über 100 israelische Geiseln in den Händen der Hamas.

Wir haben die Vergeltung beobachtet. Wir haben weitergezählt. 10.000 Tote im Gazastreifen, 20.000, 30.000. Wir haben uns gefragt, ob das notwendig ist, um Israel Sicherheit zu geben. Wir glauben nicht daran, dass es darum noch geht und vielleicht ging es nie vorrangig darum. Also haben wir uns gefragt, wann der Rachedurst der rechtsradikalen israelischen Regierung gestillt sein wird oder wann sie ihre strategischen Ziele erreicht zu haben glaubt.

Es gibt einen besonderen Grund, das Editorial des Verfassungsblogs vom letzten Wochenende jetzt zu kommentieren und zu republizieren. Erstmals seit dem Beginn des Gazakriegs und seit viel längerer Zeit haben die USA an 25. März 2024 mit einer Enthaltung den Weg für eine Ceasefire-Resolution im UN-Sicherheitsrat freigemacht. Nach über 30.000 Toten im Gazastreifen hat die Politik der Schutzmacht Israels erstmals signalisiert, dass sie nicht mehr vollumfänglich bereit ist, den Kopf für das hinzuhalten, was sich in diesem kleinen, geschundenen Stück Land abspielt.

Gründe dafür werden einige genannt, unter anderem jener, dass die USA keine Strategie Israels erkennen können, die wirklich zu einer Vernichtung der Hamas und einer Befriedung führen könnte. Mag sein, dass das eine Rolle spielt. Wir weiten aber den Blick ein wenig.

Die Biden-Administration hat eine ganz schwierige Aufgabe vor sich, nämlich sich gegen das Einmann-Rollkommando namens Donald Trump zu verteidigen und noch einmal gegen diesen Mann die Präsidentschaftswahlen zu gewinnen, mit einem Kandidaten, der alles andere als optimal geeignet dafür ist. Auch wenn wir keine Biden-Fans sind, eine Verhinderung Trumps halten wir für richtig.

Viele liberale Demokrat:innen und ihre Wähler:innen, auch liberale Juden in den USA, sind nicht mehr bereit, die mangelnde Einflussnahme der Biden-Regierung auf Benjamin Netanjahu und die noch mehr rechtsradikalen israelischen Regierungsmitglieder zu tolerieren.

Netanjahu spielt, ähnlich wie Putin im Ukraine-Krieg, die Trump-Karte, indem er Biden düpiert. Noch eine Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem kann es nicht geben, aber Trump wäre ein Hauptgewinn für die radikalen Rechten in Israel, weil er keinerlei Rücksicht auf irgendwelche humanitären Gesichtspunkte nimmt, gleich in welchem Konflikt. Wenn er keinen Krieg eingeht, dann aus Interessengründen, nicht, weil er kein Blutvergießen sehen kann. Rhetorisch richtet er jeden Tag Schaden an.

Haben wir eben den Namen Putin erwähnt? Das haben wir getan, weil sich derzeit abzeichnet, dass der Westen in einem Tempo an geopolitischem Boden verliert wie nie zuvor. Im Ukrainekrieg stehen die Aktien der USA und ihrer Verbündeten nicht gut und Dritte profitieren davon erheblich. Nun kommt der Gazakrieg hinzu, und mit jedem Tag, an dem Israel ein Übermaß an Gewalt im Gazastreifen verübt, stehen die USA international mehr mit dem Rücken zur Wand. Neben den US-Wahlen ist das der Hauptgrund, warum die Biden-Regierung eine vorsichtige Distanzierung wagt, die ohnehin auf eine Aktion gerichtet ist, die noch gar nicht stattgefunden hat, nämlich den möglicherweise bevorstehenden Angriff der IDF auf das mit Geflüchteten zum Bersten gefüllte Rafah.

Das ist eine sehr vorsichtige Warnung an Israel, aber sie hat umgehend dazu geführt, dass Netanjahu die Reise einer Delegation hochrangiger israelischer Politiker in die USA gecancelt hat. Wie abgehoben die israelische Politik mittlerweile ist, kann man an dieser weiteren Brüskierung der US-Regierung sehen. Sie gilt dem Land, ohne das Israel immer noch nicht sicher wäre, trotz seiner horrenden Militarisierung in den letzten Jahrzehnten. Wer das Verhältnis Israel-USA gerne sarkastisch kommentiert, hat jetzt die Gelegenheit zu sagen: Wie, der Schwanz wackelt nicht mehr mit dem Hund?

Die Lage ist etwas vielschichtiger, aber ähnlich wie bei der inkonsequenten Haltung des Westens in der Ukraine-Frage ist der geopolitische Schaden dieser Übermaßreaktion auf den Angriff der Hamas vom 7. Oktober längst angerichtet. Wir, die im Westen leben, sollten darüber sehr besorgt sein. Wir in Deutschland dürfen auch den Zentralrat der Juden kritisieren, der sich wirklich hinter alles stellt, was aus Israel kommt. Die Hintergründe sind bekannt, aber in diesen Zeiten wirkt die kompromisslose Doktrin der letzten Heimstatt kontraproduktiv. Was, wenn sich Israel weiter entdemokratisiert und eine Politik macht, die in Deutschland als verfassungswidrig gelten würde? Natürlich, man darf auch Stalin und Mao huldigen, aber die sind wenigstens tot, während die Demokratiegefahren in Israel und hierzulande ganz aktuell sind und wir nicht weiter demokratische und humanitäre Werte mit Füßen treten dürfen, wenn wir diese Demokratie erhalten wollen. So kann es nicht weitergehen. Das gilt nach innen und nach außen und gegenüber jedermann.

Wegen alldem haben wir uns entschlossen, die oben vorgetragene palästinensische Sicht zu zeigen. Sie zu widerlegen, wird Aufgabe anderer Autor:innen sein, vielleicht ist die Widerlegung so gut, dass wir auch sie veröffentlichen werden. Wir haben aber den Verdacht, das wird schwierig, weil die Faktenlage sich immer mehr zulasten der israelischen Politik neigt. Und natürlich besorgt uns auch dies: Dass wir in Deutschland immer vorsichtig sein müssen, wenn es um die Kritik dieser Politik geht. Andere Europäer haben dieses Problem nicht in dem Maße, sondern werden deutlicher.

Das führt unter anderem dazu, dass auch die EU, einmal mehr, nicht einheitlich tendiert. Dass sie dies nicht tut, bedeutet wiederum, dass sie nicht als Machtfaktor wahrgenommen wird. Sanktionen spielen dabei gar nicht erst eine Rolle, es geht nur um die einheitliche Tonlage. Die EU kann niemandem wirklich helfen oder beistehen, nur einzelne Länder können ihre Solidarität mit irgendeiner Seite bekunden. 

Deutschland ist gegenwärtig nicht Mitglied des UN-Sicherheitsrates und hätte bei Mitgliedschaft auch kein Vetorecht. Wir sind geradezu froh, dass die hiesige Außenpolitik nicht schon wieder vor eine Zerreißprobe gestellt wurde zwischen absoluter, historisch begründeter Solidarität Israel gegenüber und einem gewissen Mindestmaß an humanitärer Verantwortung für ein hungerndes, ständig unter Bombenterror lebendes Volk. Aber selbst die völkerrechtlich bindende Resolution des Sicherheitsrates vom 25. März 2024 wird keine sofortigen Konsequenzen haben, das ist allen Beteiligten klar. Sie hat erst einmal Symbolwirkung. Sie ist ein kleines Signal, das dazu beitragen soll, das Verhältnis zwischen dem Westen und der immer mehr über dessen  Anti-Wertepolitik verärgerten übrigen Welt ein wenig entkrampfen soll.

Wie es wirklich läuft, lässt sich aus dem Artikel gut herauslesen: Die UNRWA soll sich vom Westen lösen und die „Neutralen“ um mehr Finanzierungsbeiträge bitten, schlägt der Autor vor. Wenn das passiert, entgleitet dem Westen ein weiteres Instrument geopolitischer Steuerung. Ob sich die verbal derzeit so auftrumpfenden „Neutalen“ wirklich für Palästinenser engagieren werden, wird sich  zeigen. Die Gelegenheit für  China, damit ihre eigenen Interessen weiter voranzubringen, während die USA vollends zur Geisel einer isrealischen Politik geworden sind, die immer mehr nach rechts driftet – sie sind vielleicht nicht so günstig, wie man auf den ersten Blick denken mag. Der Fall ist auch für überwiegend autokratische Strategen von Großmächtigen heikler als das Schicksal der Ukraine.

800 Hektar sind nicht die Welt, aber auch hier die Symbolwirkung: Ganz nebenbei hat Israel wieder ein Stück des Westjordanlands annektiert und zum eigenen Staatsgebiet erklärt. Die Nachricht ging fast unter, aber wir haben sie registriert. Wir haben registriert, dass im Jahr 2024 nicht nur Russland, sondern auch Israel sein Gebiet erweitert, einfach, weil es glaubt, es zu können und die Macht dazu zu haben. Wir haben noch nicht gehört, dass aus den USA wegen dieser Annektion ein Protest kam. Vielleicht berücksichtigt die aktuelle Enthaltung im Fall Rafah-Resolution aber auch dieses Foul, das unter anderem ausdrückt: eine regelbasierte Weltordnung ist uns egal und wir begründen das entweder gar nicht oder ideologisch mit einem besonders harten und exzeptionalistischen Zionismus.

Es wird immer mit zweierlei Maßstab gemessen, im Westen wie anderswo. Was den einen der putinsche Angriff auf die Ukraine, das ist den anderen der Gazakrieg, nämlich der Zusammenbruch ebenjener regelbasierten Ordnung. Der Wieder-einmal-Zusammenbruch, Wir verurteilen beides. Wir nehmen dabei keine Sichtweise der bedingungslosen ideologisch oder historisch begründeten Gefolgschaft ein, sondern denken an die vielen Opfer auf allen Seiten und daran, dass Menschen es nicht friedlich miteinander aushalten können. Wir haben aus der Shoah auch die Lehre gezogen, dass Menschenrechte für alle gelten müssen. Für Ukrainer, Israelis, Palästinenser, Russen und alle, die gegenwärtig Krieg führen und sich Angriffen erwehren oder an Angriffen beteiligen, wo auf der Welt auch immer. Je gröber die Verletzung der Menschenrechte, desto mehr müssen wir auch aus den bereits angedeuteten innenpolitischen Gründen opponieren.

Denn wie steht unsere Demokratie da, wenn wir immer und immer, wie Machtpolitiker, mit verschiedenen Maßstäben messen, obwohl wir als Mitglieder der Zivilgesellschaft keinerlei Sachzwänge zu berücksichtigen haben, die uns eine ehrliche Verurteilung jedweder Gewalt, jedweden Terrors, jedes Angriffs und jedweder Scheinverteidigung, die in Wirklichkeit zur Expansion genutzt wird, verbieten?

Der Rechtsruck in vielen Ländern des Westens wie anderswo lässt die Weltlage immer gefährlicher werden. Der Erste Weltkrieg wurde nicht durch einen Clash mitten in Europa ausgelöst, sondern durch ein im Grunde peripheres Ereignis. Die nationalistische Stimmung war aber so, das Säbelrasseln der Großmächte, dass dieses Urtrauma des 20. Jahrhunderts geschehen konnte, das alles Weitere erst möglich werden ließ. Ob in der Ukraine oder im Gazastreifen, überall kann sich in den Zeiten des freidrehenden Nationalismus der nächste Großkrieg entzünden, der nur durch die atomare Abschreckung begrenzt wird. Und der es leider Atomstaaten ermöglicht, andere anzugreifen oder zu unterdrücken, einfach, weil sie es können. Die Konsequenz ist klar: Immer mehr Länder werden sich atomar bewaffnen, auch in Deutschland wird diese Diskussion zunehmend und nach unserer Ansicht leider nicht zu Unrecht geführt. Radikalisierte Länder spielen mit dem Feuer und der Nahe Osten ist schon lange ein Pulverfass, weil es keine gleichen Rechte für alle gibt.

Durch das, was wir gerade sehen, wird es nicht besser, sondern schlechter. Ob die Hamas kampfunfähig gemacht wird, ist für uns nicht die prioritäre Frage, sondern, ob es mehr Frieden geben kann, wenn das zumindest vorerst erreicht sein sollte. Wir sehen diesen Frieden nicht, und falls er kommt, wird es ein Frieden der Endlösung sein, in der Form, dass es in Gaza keine Palästinenser mehr geben wird und im Westjordanland auch nicht mehr. Wenn die USA das zulassen, haben sie weltpolitisch keinerlei Mandat, keine Legitimation, keine ethisch begründeten Ansprüche mehr auf irgendeine Polizistenrolle.

Und wir gehen moralisch und geopolitisch wieder einmal mit Bankrott. Das Gefühl, auf der falschen Seite zu stehen, wird mit jedem Tag stärker, sowohl die Ukraine als auch den Gazakrieg betreffend. In der Ukraine gilt immerhin noch das Narrativ, dass man dem Schwächeren weiterhin hilft, obwohl es zunehmend irrationaler wird. Im Gazakrieg gilt nicht einmal dies, denn der viel Stärkere bombt den Wehrlosen immer gnadenloser nieder. Dass der Stärkere auch der Angegriffene war, schreiben viele Beobachter der Tatsache zu, dass eine fehlerhafte militärische Doktrin oder Lageeinschätzung der Netanjahu-Regierung diesen Angriff vom 7. Oktober erst ermöglicht hat. Fahrlässigkeit ist also das Mindeste, was man der hybriden Rechtsregierung Israels vorwerfen muss. Das entlastet die Hamas nich von der Schuld für die barbarischen Taten vom 7. Oktober, aber es lässt viele Fragen über die Hintergründe der gegenwärtigen Bombenterrorpolitik zu.

Die Toten werden nicht mehr lebendig, auf keiner Seite. Aber irgendwann ist genug genug. Sollte der israelische Angriff auf Rafah kommen und wird es zu einer weiteren Resolution des Sicherheitsrates kommen, dann müssen die USA mit den übrigen stimmen und nicht sich bloß enthalten. Es kann ohnehin nur noch um Schadensbegrenzung gehen, aber wenigstens die muss man versuchen, um des Ansehens des Westens willen, vor allem aber wegen der Menschen die noch gerettet, die überleben können, wenn jemand endlich ein Stoppzeichen setzt, der die Macht dazu hat. Oder haben sollte. Peinlich, wenn sich bei der Gelegenheit herausstellt, dass ein Zwerg einen Riesen am Naenring durch die Manege zieht, doch bewahrheiten sollte.

Auf jeden Fall sollten die USA noch Friedenszeichen setzen, bevor Donald Trump die Welt weiter brutalisieren kann. Wenn das nicht geht, müssen die Europäer endlich eine eigenständige Friedenspolitik entwickeln. Ein Machtfaktor werden sie dadurch noch nicht, aber die übrige Welt wird wenigstens zur Kenntnis nehmen, dass man sich bemüht, den Begriff Wertepolitik ernstzunehmen im Rahmen der begrenzten Möglichkeiten. Das wäre schon sehr, sehr viel und tausendmal mehr als das jämmerliche Bild, das wir alle miteinander im Moment geopolitisch und humanitär abgeben. Sich für die Shoah zu schämen, gehört in Deutschland längst zum guten Ton, aber die richtige Konsequenz daraus zu ziehen, nämlich, dass alle Menschen auf der Welt gleiche Rechte haben müssen, scheint unendlich schwierig zu sein.  Dies nicht anzuerkennen, bedeutet auch, dass man diese Geschichte, die wir haben, geradezu missbraucht, um neue Ungerechtigkeiten und neue Schuld zu erzeugen.

Das Ansehen der hiesigen Demokratie hat auch mit unserem Selbstbild zu tun. Wir machen aus ihr, was sie ist. Wir lügen uns ständig selbst in die Tasche, wenn wir mit Doppel- der Mehrfachstandards leben und sie sogar propagieren. Wir dürfen uns nicht mit reaktionären Argumentationen auf Bildzeitungsniveau begnügen, wenn es um den Frieden in der Welt geht.

Absolute Gerechtigkeit gibt es nicht, nicht auf individueller und nicht auf kollektiver Ebene.

Zumindest gibt es keinen justiziablen Anspruch darauf. Umso wichtiger sind Rechte, die für alle sind und zumindest die Basis für ein Mindestmaß an Gerechtigkeit darstellen können, die Menschen vor dem Schlimmsten absichern, dem Verlust ihres Lebens in einer Position als unschuldige Opfer von Angriffen von wem auch immer. Wenn diese Rechte ständig mit Füßen getreten werden und wir es nicht einmal kritisieren oder diese Aggressionen relativieren, Gründe und Hintergründe beliebig interpretieren, diese Aggressionen gar verteidigen, dann haben wir nicht nur keinen rechtlichen Anspruch auf individuelle Gerechtigkeit, wir haben sie auch nicht verdient. Wir haben es im Grunde auch nicht verdient, weiterhin in Frieden leben zu dürfen. Um es deutlicher zu machen: Der nächste Terroranschlag in Deutschland wird nicht vom Himmel fallen. Er wird unschuldige Opfer fordern, aber eine Gesellschaft treffen, die sich schuldig gemacht hat, mit jedem Tag, an dem sie nicht gegen Gewalt hilflosen Menschen gegenüber protestiert hat.

Mit etwas Pech wird ein solcher Anschlag sogar Menschen töten, die sich für Frieden und Verständigung eingesetzt haben, wie es beim Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 in Israel der Fall war. Das hat uns erschüttert, daran denken wir noch immer mit großer Trauer. Doch es gibt keine Gewähr der individuellen Gerechtigkeit. Es gibt nur die Möglichkeit, durch mehr Frieden und Verständigung das Leben aller Gerechten zu schützen. Dazu kann, muss manchmal auch die Abwehr von Angriffen zählen, aber eben die Abwehr. Die Abwehr ist kein Feldzug, der sich immer mehr gegen Unschuldige richtet und zu einer Raserei zu werden droht, die überhaupt keine rechtlichen und ethischen Grenzen mehr kennt. Wenn wir aus der eigenen Geschichte nicht gelernt haben, dies zu verurteilen, dann haben wir gar nichts gelernt.

Ergänzung am 26.03.2024 vor der Veröffentlichung: Deutsches Krisenmanagement in Nahost: Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) setzt ihre Israel-Reise fort. Es ist ihr bereits sechster Besuch seit dem Massaker der Terrororganisation Hamas am 7. Oktober. Baerbock hatte noch vor ihrer Ankunft die israelische Regierung eindringlich davor gewarnt, die geplante Bodenoffensive in der Stadt Rafah im Süden Gazas durchzuführen. „Eine Großoffensive auf Rafah darf es nicht geben“, so Baerbock, die sich angesichts einer UN-Resolution für eine Waffenruhe in Gaza „erleichtert“ zeigte.  Am Dienstagvormittag trifft sie ihren israelischen Amtskollegen Israel Katz. Dann wird sie erfahren, wie empfänglich die Netanjahu-Regierung für die deutschen Warnungen ist. (Quelle)

Für uns ist in diesem Abschnitt des „Tagesanbruchs“ das schönste Foto enthalten, das wir bisher von Außenministerin Annalena Baerbock gesehen haben. Schlicht, sanft, vor allem empathisch wirkt sie da. Wir wissen alle, dass Mahmud Abbas auch kein Waisenkind ist, können aber hier die Hintergründe für seine manchmal provokanten Aussagen nicht zusätzlich um bisher Geschriebenen aufrollen. Jedenfalls hat Israels Politik die Fath, der Abbas angehört, gezielt zugunsten der Hamas geschwächt, aus rein machiavellistischen Gründen. Und die Strategie wirkt auf uns, als sei sie immer noch auf Kurs. Die deutsche Außenpolitik muss sich dringendst emanzipieren. Vielleicht klappt es ja doch noch mit einer zunehmend emanzipatorisch handelnden Außenministerin, gleich, ob darin auch ein feministischer Ansatz liegt oder nicht. Um es ehrlich zu schreiben, mehr als ein berührender Moment ist das aktuelle Bild nicht, die „Sachzwänge“ sind gigantisch. Aber dass man in der deutschen Politik tatsächlich eine Resolution zu einer Waffenruhe im derzeit weltweit blutigsten Konflikt (in Gaza wurden bereits mehr Zivilisten getötet als im gesamten Ukrainekrieg) als erleichternd bezeichnen darf, darauf muss nun mutig aufgebaut werden. 

TH

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