Bienzle und der heimliche Zeuge – Tatort 469 #Crimetime #Tatort #Stuttgart #Bienzle #SWR #Zeuge

Crimetime 1205 – Titelfoto  © SWR

Vertigo mit Chorknaben?

Bienzle und der heimliche Zeuge ist eine Folge der Krimireihe Tatort. Die Erstausstrahlung des vom Südwestrundfunk unter der Regie von Arend Agthe produzierten Beitrags fand am 6. Mai 2001 im Ersten Deutschen Fernsehen statt. Es handelt sich um die 469. Episode der Filmreihe sowie die dreizehnte mit dem Stuttgarter Kommissar Ernst Bienzle.

Die Handlung in einem Satz ohne Auflösung: Bienzle will in ein Konzert der Münstersängerknaben, kommt aber zu spät – und damit auch zu spät zum Tatort, denn die Geschäftsführerin des Chors wird während des Konzerts oder kurz davor ermordet und von A-capella-Gesang begleitet, ziehen sich die Ermittlungen durch die Knabenchorwelt, bis am Ende der Schwindel erheblich zunimmt.

Plus:

  • Die Idee. Einen Krimi im Kirchen- und Sängerknabenmilieu spielen zu lassen, ist etwas Besonderes – und es ist schwäbische Geduld und Akribie erforderlich, einen so technisch aufwendigen und Konzentration erfordernden Tatort umzusetzen.
  • Die Umsetzung ist rundum gelungen. Atmosphäre und Setting sind klasse, man merkt dem Tatort nicht an, dass er bereits vor 13 Jahren gedreht wurde.
  • Kinderdarsteller und zwischenmenschliche Momente. Der Film hat einen wunderbaren Ton und die Interaktion der Kinderdarsteller untereinander und vor allem mit den Erwachsenen ist überzeugend.
  • Bienzle und seine Hannelore. Die Nebenhandlung mit der Akte malenden Freundin ist ganz witzig und zeigt den Kommissar von einer weichen Seite.

Weniger gelungen:

  • Überkonstruktion verschiedener Elemente der Political Correctness. Viele Gegensätze sind an der PC entlang konstruiert und das ein wenig zu schematisch und zu wenig differenziert. Das bedingt leider auch die Vorhersehbarkeit der Täterperson. Mit einiger Übung im Tatorte gucken ist man schnell durch mit den Verdächtigen – nicht aufgrund des Handlungsverlaufs oder der Tatsituation, sondern eben wegen der PC, die verschiedene Tätergruppen verunmöglicht, wenn man sie strikt anwendet.
  • Einzelne Handlungselemente wirken unstimmig, darauf gehen wir in der -> Rezension ein.

Handlung 

Musik spielt eine Hauptrolle in Christian Jareis‘ Leben. Sein allein erziehender Vater ist Toningenieur und Musiker. Christian selbst verbringt einen Großteil seiner Zeit im Stuttgarter Knabenchor, in dem auch seine besten Freunde mitsingen. Überhaupt ist der Chor der sichere Hafen in Christians Leben, dort geht es verlässlich zu. Chorleiter Marcus Canteni geht auf ihn ein und fördert ihn. Daheim dagegen überwiegt das kreative Chaos. Leider auch in den Geldangelegenheiten, und so steht eines Tages der Gerichtsvollzieher in der Wohnung und droht, Paul Jareis‘ musikalisches Equipment zu pfänden. Christian ist erschreckt und macht sich Sorgen. Anders sein optimistischer Vater, der fest davon überzeugt ist, dass seine Außenstände, vor allem die beim Knabenchor, schon rechtzeitig gezahlt werden, um sich mal wieder zu retten.

Christian beruhigt diese Haltung nicht gerade. Er entschließt sich zu einer verwegenen Tat: Kurz vor einem Konzert schleicht er sich in das Büro der Chormanagerin Barbara Massenbach und entwendet 10.000 DM aus der Chorkasse. Er will gerade wieder gehen, als Massenbach ins Büro kommt. Die Gefahr, beim Diebstahl erwischt zu werden, ist schlimm genug, dann aber muss Christian in seinem Versteck mitanhören, wie Barbara Massenbach angegriffen und mit dem Brieföffner erstochen wird. Von dem Unbekannten hat der verängstigte Junge nur die Füße und die auffälligen Schuhsohlen gesehen, bevor er die Chance zur Flucht nutzt. Christian schafft es gerade noch rechtzeitig zum Auftritt des Chores. Noch bevor er sich wieder beruhigen kann, fällt sein Blick auf eine Wunde an der Hand des Dirigenten Marcus Canteni. So schwer es ihm auch fällt, in Christian ist der Verdacht gegen den verehrten Chorleiter geweckt.

Als Bienzle am Tatort eintrifft und die Jungen befragt, wagt Christian kein Geständnis. Als Dieb und als Schüler von Canteni sitzt er in einer doppelten Falle. Auch die anderen Chorsänger können Bienzle nicht viel weiterhelfen, immerhin gibt es die geleerte Chorkasse, die auf einen Raubmord hindeutet. Bienzle und Gächter erfahren aber auch einiges, was als Mordmotiv in Frage kommt: Barbara Massenbach war zwar eine fähige Chormanagerin, aber erbarmungslos gegen alle, die ihrem Machtstreben im Wege standen. So drohte sie Marcus Canteni mit Entlassung, angeblich weil er seine Homosexualität verheimlicht habe. Sie weigerte sich aber auch, Christians Vater vertragsgemäß zu honorieren. Als der gestohlene Betrag eingezahlt wird, um Paul Jareis‘ Schulden zu decken, nutzt Jareis das Beteuern seiner Unschuld wenig, er landet in Untersuchungshaft.

Christian ist entschlossen, über sein Erlebnis weiterhin zu schweigen, nur seinem Freund Wolfgang Buchenhöfer, Sohn des ehrgeizigen Freundeskreisvorsitzenden Henry, vertraut er an, was er gesehen hat. Aber als der Junge erfährt, dass sein Vater wegen des Geldes in Untersuchungshaft sitzt, kann er sein Geheimnis nicht mehr länger für sich behalten. Gerade noch rechtzeitig fasst er Vertrauen zu Bienzle. Denn Christian hat an den Schuhen des Mörders eine Beobachtung gemacht, die ihn in höchste Gefahr bringen kann. 

Rezension

Die ausführliche Handlungsbeschreibung der ARD zum 469. Tatort verrät etwas von der Liebe zum Detail, die man diesem Film angedeihen ließ. Wir folgen dieser und schreiben neben der Sonderform der knappen Plusminus-Betrachtung unter dem Header eine ausführliche Rezension.

Die Bienzle-Tatorte wirken ein wenig „seriell“, weil alle den Namen des Kommissars im Titel tragen. Qualitätsware vom Fließband, mit Markenwerkennungszeichen, wie beim Daimler. So, als wenn alle auf einem guten Niveau angesiedelt wären, das ein paar Sonderausstattungen aufweisen, aber nicht in die Exklusivität des Handgemachten vorstoßen kann. Je mehr wir uns mit Bienzle und seinen Fällen befassen, desto mehr zeigt sich, das stimmt nicht, wenn man qualitative Maßstäbe und Individualität berücksichtigt.

Eher sind die besseren Fälle des letzten Hutträgers unter den Tatort-Ermittlern Tüfteleien mit ausgesprochen hohem handwerklichem Anspruch. Eines der besten Beispiele dürfte „Bienzle und der heimliche Zeuge sein“. Allein das Filmen mit dem Münstersänger-Knabenhhor und in zwei verschiedenen Kirchen, der Stiftskirche Baden-Baden und dem Kloster Alpirsbach, bedeutet großen Aufwand für viele Beteiligte – das saubere Drehen der Szenen mit den vielen jungen Darstellern oder Komparsen, das Aufnahmen der Musiksequenzen, die den Tatort unterlegen und der Live-Szenen beim Konzert der Sängerknaben mit ca. 150 Statisten, das Filmen in der besonderen und sehr atmosphärischen Location „Kirche / Kloster“ inklusive Nebenräumen und versteckten Plätzen, im Turm, auf dem Wandelgang des Turms, das ist weit mehr, als durchschnittliche Tatorte an Schauwerten und schwierig zu gestaltenden Szenen bieten.

Gemäß der Schwaben-Philosophie ist dieser Tatort nicht avantgardistisch, aber das wäre auch dem Milieu nicht angemessen und die unauffällige, aber sehr sichere Inszenierung lässt Raum für die Entfaltung der Charaktere und der Beziehungen zwischen ihnen.

Die wichtigste Rolle kommt tatsächlich dem heimlichen Zeugen des Mordes zu, dem Chorjungen Christian, gespielt von Ludwig Trepte. Wir setzen selten mitten in Texten Ausrufungszeichen, aber hier ist eines angebracht: Beeindruckende Leistung des jungen Darstellers! Gerade im deutschen Film, wo Kinder und jugendliche oft verkrampft und nichtssagend wirken, ist diese Darbietung nicht genug zu loben.

Akribisch ist sein kleines Umfeld gezeichnet. Mutter abgehauen, als er drei Jahre alt war, seitdem schlägt er sich mit seinem Kumpel-Vater durchs Leben, der als Toningenieur unter anderem für die Münstersängerknaben arbeitet und von der Managerin, die ermordet wird, mit der Bezahlung so sehr hingehalten wird, dass der Gerichtsvollzieher im Haus steht und ihm die Arbeitsgrundlage pfänden will. In diesem Zusammenhang eine der wenigen echten Schwächen des Films: Gerichtsvollzieher sind gehalten, eben keine absolut notwendigen Arbeitsmittel zu pfänden, denn es ist logisch, dass auf diese Weise die Schulden wohl nie werden bezahlt werden können, das gilt z. B. auch für dienstlich genutzte Fahrzeuge angemessener Preislage, wenn sie zur Ausübung einer Tätigkeit, etwa im Außendienst unabdingbar sind. Die Gerichtsvollzieher sind auch meist nicht so wurstig wie in diesem Fall, und die Gläubiger sind nicht mit vor Ort, wenn Gerichtsvollzieher auftreten, eine solche Druckkulisse wie in „Bienzle und der heimliche Zeuge“ ist Teil der übertriebenen PC, die wir angesprochen haben.

Das Vater-Sohn-Verhältnis aber ist wirklich anrührend, eines der schönsten, die wir bisher in einem Tatort gesehen haben. Wir waren von der kitschfreien Wärme in den Vater-Sohn-Momenten überrascht und dass der Junge auf die Idee kommt, Geld aus der Kasse des Chors zu entwenden, um es den Gläubigern des Vaters zuzuschieben, ist nachvollziehbar – weil der Chor dem Vater das Geld ja schuldet. Gut, dass Christian noch nicht strafmündig ist, denn ein Diebstahl wär’s leider doch. Allerdings könnte dieser gerechtfertigt sein, weil lediglich eine dem Vater zustehende Gegenleistung für seine Werkleistung „Einspielung von Chor-CDs“ eingebracht wurde und zu deren Erlangung auch keine unangemessenen Mittel wie zum Beispiel ein Einbruch mit Sachschaden angewendet wurden. Leider wird dieser Aspekt, der dem Jungen zugute kommen könnte, nicht erwähnt. Dabei ist er im Sinn der Gerechtigkeit wichtiger als die Strafunmündigkeit als rein formales Kriterium und käme auch bei einer Person von 14 Jahren oder älter zur Prüfung.

Der Vater wandert kurzfristig in Untersuchungshaft, weil er kein Alibi für den Tatmoment hat und ein Motiv – der Chorleiter jedoch bei ähnlicher Konstellation zuzüglich eines starken Indizes nicht. Da kommt dann doch wieder die soziale Ungerechtigkeit – unbewusst, vermutlich – durch: Der Sängerknabenflüsterer hat eine wichtige Funktion, der Jareis ist zwar ein technischer Spezialist, was im Schwabenland zählen sollte, aber sozial doch eher auf einer unteren Stufe angesiedelt. Unsympathisch, dass Bienzle den Vater wegsperren lässt und dadurch das Jugendamt auf den Plan ruft.

Dieses fährt mit einem nicht unbedingt sachdienlichen Lieferwagen vor, der außerdem deutlich die Aufschrift „Jugendamt“ trägt. Wir können uns kaum vorstellen, dass das JA so auftritt und damit die Stigmatisierung derer verschärft, die ohnehin um gesellschaftlichen Anschluss zu kämpfen haben. Auch wenn es dazu dient, die keifende Spießer-Nachbarin zu inszenieren, die sich an der lauten Musik aus Jareis‘ kleinem Tonstudio stört. Dass diese übrigens um vier Uhr in der Nacht so laut sein soll, dass Dritte sich gestört fühlen, ist auch so ein herbeizitiertes Handlungselement. Ein Typ wie diese namenlose Nachbarin würde doch dann wohl die Polizei rufen und ab 22 Uhr ist nun einmal Nachtruhe. Auch wenn der Toningenieur arbeitet und nicht zum Spaß Musik hört, gilt nichts anderes. Weiteres Problem: Um sich selbst gegen störende Umweltgeräusche abzuschirmen, arbeiten Tontechniker beim Abmischen meist mit Kopfhörern, sodass das Szenario auch deswegen fragwürdig erscheint. Schon klar, es geht darum, sympathische Überlebenskünstler gegen ekelhafte Spießerfiguren in Stellung zu bringen, aber einer sachlichen Überprüfung hält einiges, was dazu dienen soll, nicht stand.

Da, wo die Fakten weicher werden, ist auch weniger auszusetzen, wie im Verhältnis Bienzle und Freundin Hannelore. Allerdings, wenn man mit „weich“ die Beziehung zwischen Chorleiter Canteni und dem Pfarrer meint, kann man das nicht uneingeschränkt sagen. Dass Künstler häufig homosexuell sind, liegt in der Natur der Sache, hat also einen guten Authentizitätsfaktor: Sie sind nun einmal sensibler als heterosexuelle Männer (im Durchschnitt, versteht sich), haben einen höheren weiblichen Anteil und wir meinen, obwohl auch der Pfarrer ein eher softer Typ ist, ist Canteni die Frau in dieser gleichgeschlechtlichen Beziehung, wie sich der durchaus realistischen Eifersuchtsszene zeigt, nachdem er erfahren hat, dass der Pfarrer auch mit der Vikarin ein Verhältnis eingegangen ist – vorgeblich, um sich unangreifbarer zu machen. Ein Scheinheiliger also, der Pfarrer und auch das spiegelt die PC unserer Zeit.

Wohl aber wird diese nicht eingehalten, wenn es um Homosexualität und Pädophilie geht. Viel zu lange bleibt unwidersprochen, dass zwischen beidem kein Konnex, keine erhöhte Wahrscheinlichkeit des Zusammentreffens besteht, und somit das eine keinen Verdacht auf das andere begründen darf. Und das prägt sich beim Publikum möglicherweise mehr ein als die Abhandlung dieses Nicht-Zusammenhangs dann doch in einem einzigen Satz. Wir halten dem Film dabei zugute, dass das Thema „Missbrauch von Jugendlichen in der Kirche“ im Jahr 2001 noch keines war und die mangelnde Sorgfalt bei der Aufbereitung dieses Sujets daher noch halbwegs nachvollziehbar ist – aber wenn schon PC, dann auch in allen Belangen. Zudem hat sich mittlerweile, nach vielen spektakulären Fällen von Kinderporno-Ringen, die aufgeflogen sind, herausgestellt, dass die meisten „Anwender“ ganz normal wirkende Familienväter oder Singles ohne homosexuelle Ausrichtung sind, die gerade durch ihre gesellschaftliche Integration geschützt sind und weniger auf Habacht als Menschen, die Lebensgemeinschaften führen, welche insbesondere in der Provinz immer noch zu negativen Reaktionen führen.

Ab hier Angaben zur Auflösung!

In einem anderen Punkt ist die PC hingegen so ausgestaltet, dass der Täter zu schnell erahnbar wird: Da ein alleinstehender, um die Existenz kämpfender Vater genauso wenig als Täter in Betracht kommt wie ein Homosexueller, was sowohl den Pfarrer wie den Chorleiter ausschließt, bleibt ja nur noch eine relevante Person übrig: Der geltungssüchtige und talentfreie Intendant, der seine Frau betrügt und seine schwangere Geliebte umbringt, weil die außereheliche Kinderzeugung im konservativen Schwabenland bei den wichtigen Ämtern und Ehrenämtern, die er bekleidet oder anzielt, zu einem Karriereknick führen würde. Tatsächlich?

Das wirkt übermotiviert, vor allem angesichts der brutalen Ausführung des Mordes und dem sicher bis dahin korrekten Leumund des Täters, aber rücksichtslos ist er schon, der Herr Buchenhöfer, der den unschwäbischen Vornamen Henry trägt und auch nicht schwäbelt – was ansonsten zu Bienzle-Zeiten noch üblich war und Gottseidank im Rest der Republik besser verstehbar ist als manch anderes Regional-Idiom.

Aber es sorgt für eine tolle Schlusszene auf dem Dachboden, im Turm, auf dem Turm des Klosters, inklusive Glockengeläut. Für einen Moment dachten wir, sie werden tatächlich den Hitchcock-Klassier „Vertigo“ nachspielen. Dann hätte aber der Buchenhöfer aus dem Turm heraus in den Tod stürzen müssen, und das war aufgrund der hohen Brüstung draußen nicht ohne weiteres möglich. Und sicher war es Absicht, diesen Knalleffekt zu vermeiden.

Dass man die frühe Erkennbarkeit des Täters wohl inkauf genommen hat, kommt in einem frühen Moment zum Ausdruck: Der Zuschauer beobachtet aus Christians Perspektive, als er unter dem Schreibtisch sitzt und den Mord wahrnimmt, ohne aus dieser Stellung ein Gesicht erkennen zu können, und kann deutlicher erkennen, dass der Täter einen Ehering trägt. Den trägt sicher nicht der homosexuelle Chorleiter und auch nicht Christians Vater, der seit vielen Jahren alleinerziehend ist. Und dann dieses Schachbrettmuster der Schuhsohlen und wie die Schuhe später so auffällig entsorgt werden. Offensichtlich hat ist man bei der Ehering-Sache schon so verfahren: Wer sehen will, kann sehen und die Spannung auf dem Weg aufrecht zu erhalten, dass man möglichst lange rätseln muss, wer der Täter ist, das ist uns nicht so wichtig wie einige andere Aspekte dieses Tatorts.

Die Nebenhandlung mit Hannelore, die junge Männer Modell sitzen lässt, um schöne Akte zu malen, bringt uns ausgerechnet in einem Krimi, der im kirchlich-jugendlichen Milieu angesiedelt ist, einen nackten, sehr ansehnlichen Penis aufs Bild, das wirkt ein wenig seltsam und ist vermutlich einer der letzten Darstellungen dieser Art in einem Tatort – die heutigen Filme der Reihe sind viel „cleaner“ und sexfreier als noch vor fünfzehn oder noch früher. Manchmal bedauerlich, dass man alles immer mehr sterilisiert, und das ist nicht sexistisch gemeint. Die Zeiten der Befreiung sind vorbei, insofern passt diese Veränderung ins Zeitbild und wir mussten darüber schmunzeln, dass ausgerechnet der traditionelle Bienzle eine späte Konfrontation mit dem jugendlichen Eros hinnehmen muss.

Zur Inszenierung müssen wir uns auf jeden Fall äußern, bevor wir das Fazit schreiben: Als wir im Vorspann den Namen Arend Agthe lasen, dachten wir sofort, da wollten sie bei einem Tatort, in dem Kinder wichtige Rollen haben, auf Nummer sicher gehen – und dieser Ansatz hat sich bewährt. Der Regisseur hat mehrere Filme mit Kindern gedreht, für die Sesamstraße gearbeitet und wir haben seine einfühlsame Regie – in diesem Fall mit einem Menschen mit Handicap – schon bei „Bienzle und der Tod in der Markthalle“ gewürdigt. Wir meinen, „Bienzle und der geheime Zeuge“ ist noch besser inszeniert, sehr geschlossen und alle Schauspieler wirken sehr in ihren Rollen zuhause, auch wenn die Rollen bzw. das, was die Akteure tun müssen und wie sie sich verhalten, nicht frei von Fragezeichen ist. Das aber ist Sache des Drehbuchs, und die Regie hat aus dem Buch etwas sehr Gutes gemacht.

Schließlich kommen wir an Ludwig Trepte nicht vorbei. Er gilt als „Autodidakt“, weil er keine Schauspielschule besucht hat, aber schon bei seiner Christian-Figur wird das Naturtalent deutlich, das er mitbringt. Er hatte zu dem Zeitpunkt schon Serien-Erfahrung, als er den Chorjungen spielte, den er wundervoll verkörpert. Sein Talent hat ihm auch dazu verholfen, vom Kinderdarsteller zum Erwachsenen-Schauspieler zu werden, er hat mittlerweile u. a. den Grimme-Preis erhalten und in Großproduktionen wie „Unsere Väter, unsere Söhne“ mitgewirkt. Eine wirklich spannende junge Karriere im mittlerweile so stark institutionalisierten deutschen Schauspielwesen, in dem es schon beinahe ist wie in „Normalberufen“ – ohne „Schein“, also ohne Abschluss an einer Schauspielschule, geht wenig, und unzählige Zufallstalente werden nicht entdeckt.

Finale

Wegen aktueller Rückstände bei der Sichtung aufgezeichneter Filme zu Rezensionszwecken haben wir „Bienzle und der geheime Zeuge“ am Ende einer langen Freitagabend-Filmsitzung angeschaut – erst um Mitternacht. Trotzdem sind wir nie eingeschlafen, wie es uns bei solchen Versuchen, die langweiligeren Nächte zu nutzen, leider häufig passiert. Das heißt, trotz der früh abflachenden Spannung bezüglich der Täterperson, die den Film beinahe zum Howcatchem werden lässt, waren wir offensichtlich immer im Geschehen und haben uns nie gelangweilt.

Wir haben einzelne Macken des Tatorts überproportional herovrgehoben, das müssen wir zugeben. Wenn man die Rezension gelesen hat, wird man kaum vermuten, dass wir für diesen Bienzle eine hohe Punktzahl vergeben werden. Doch die eingangs im Teil „Plusminus“ anhand der Gewichtung schon zu sehen, dass wir diesem Film gegenüber positiv eingestellt sind.

Die Einzelfehler und Fragezeichen fallen nicht so sehr ins Gewicht, dass man den Film etwa für misslungen halten könnte. Die schönen Chorszenen, die gut aufgelegten Darsteller, die Liebe zum Detail und das ungewöhnliche Setting mit seiner sakralen Atmosphäre lassen einen besonderen Tatort entstehen – gäbe es die angesprochenen Fehler nicht, dann wären wir wohl noch höher gegangen. Warum soll Bienzle nicht einmal nach den Sternen greifen, er gut ist? Außerdem ist er einer der wenigen Tatorte, mit denen wir uns so ausführlich befasst haben, dass wir beinahe das Feature „Die große Rezension“ erreicht hätten (ab 3.000  Wörter).

8/10 

© 2024, 2015,2014 Der Wahlberliner, Thomas  Hocke
Kursiv und tabellarisch: Wikipedia

Regie Arend Agthe
Drehbuch Felix Huby
Produktion
Musik
Kamera Hans-Jörg Allgeier
Schnitt Carola Hülsebus
Premiere 6. Mai 2001 auf Erstes Deutsches Fernsehen
Besetzung

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