Briefing 487 Wirtschaft, Überstunden, Steuern, CDU, Kapital und Lobby
Die Union hat wieder einmal eine Idee: Überstunden sollen steuerfrei sein. Was halten Sie davon? Lesen Sie bitte nicht nur den Civey-Begleittext, sondern auch unseren Kommentar, bevor Sie abstimmen.
Civey-Begleittext:
Die Union fordert ein Sofortprogramm, das die deutsche Wirtschaft stärken soll. Zwölf Maßnahmen umfassen die Forderungen der CDU und CSU aus einem Antrag an den Bundestag im Februar dieses Jahres. Ziel ist es, den Wirtschaftsstandort Deutschland wettbewerbsfähig zu machen. In diesem Rahmen fordert die Union auch die steuerliche Begünstigung von Vollzeitangestellten, die Überstunden leisten.
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann macht sich für steuerfreie Überstunden stark. Davon würden alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer profitieren, die sich in einer Festanstellung befinden und mehr als 40 Wochenstunden arbeiten. Der Bild sagte Linnemann: „Der Staat sollte mehr Leistung belohnen: Wer mehr als 40 Stunden arbeitet, sollte auf die Zusatzstunden keine Steuern mehr bezahlen.“ Auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sieht die Politik in der Pflicht, stärkere Anreize für Menschen zu schaffen, mehr zu arbeiten. „Deswegen wollen wir Überstunden komplett steuerfrei machen, um dort einen Anreiz zu setzen, wieder mehr sich einzubringen”, so Söder.
Zweifel am Vorhaben der Union kommt seitens gewerkschaftsnaher Ökonomen. Sebastian Dullien, Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung, sieht vor allem Frauen im Nachteil. Denn sollten Überstunden künftig steuerfrei werden, könnte es für Eltern attraktiv werden, wenn eine Person sehr viel und die andere nur wenig arbeitet. „Da schon heute mehr Väter als Mütter Vollzeit arbeiten, wäre zu erwarten, dass Väter mehr, Mütter weniger arbeiten“, sagt Dullien.
Die populistische Bauernfänger-Tour der Union geht weiter. Ganze Bevölkerungsgruppen regelmäßig bashen und wenn man genau hinschaut, ist nicht viel dahinter, auf der einen Seite. Auf der anderen: Wer kann schon etwas dagegen haben, dass seine Überstunden steuerfrei sind?
Wir zum Beispiel haben etwas dagegen und es ist klar, dass wir damit bei einer Minderheit gelandet sind.
Sie wissen sicher, dass progressiver Akkord in Deutschland verboten ist, damit Menschen sich nicht so abschuften, dass sie gesundheitliche Schäden davontragen. In Japan nennt man das Koroshi, Tod durch Überarbeitung. Genau das aber sind im Grunde steuerfreie Überstunden: Erst, wenn man über seine eigentliche Arbeitszeit hinaus im Büro hockt oder wo auch immer, bekommt man mehr Geld in Form von Steuerfreiheit.
Ob Überstunden angesagt sind, sollte aber nicht davon abhängen, ob jemandem nichts Besseres einfällt, als ewig in der Firma abzuhängen und dabei seine Familie oder Freunde zu vernachlässigen, sondern allenfalls von der Auftragslage, sofern ein großer Schub nicht durch Neueinstellungen oder durch mehr Vollzeit statt Teilzeit abgefedert werden kann. Die Auftragslage werden aber nicht durch die Arbeitnehmer:innen, sondern durch das Management und natürlich die Rahmenbedingungen bestimmt. Ist die Auftragslage gut, kann das zu Überstunden führen. Bei normalem Geschäftsverlauf hingegen sollte man sich fragen, wieso so viele Überstunden produziert werden. Ein Grund dafür könnten Krankheitsausfälle sein. Aber warum sind so viele Menschen in einem Betrieb krank? Die Frage geht wieder zurück ans Management.
Dass die Union nicht auf eine viel naheliegendere Idee kommt, ist klar. Die Staatseinnahmen sollen geschmälert werden, nicht etwa die Gewinne des Kapitals. Die viel logischere Idee ist: Die Überstunden kommen dem Unternehmen zugute, also muss das Unternehmen etwas draufpacken. Damit nicht auch daraus ein progressiver Akkord entsteht, könnte man das am Jahresende in Form eines von den geleisteten Arbeitsstunden mitbestimmten Bonus für alle tun, wenn das Geschäftsjahr gut gelaufen ist. Solche Boni gibt es ja auch für viele Arbeitnehmer, freilich in zu geringem Umfang im Vergleich zu ihrer Leistung. Es kann aber nicht sein, dass der Staat, der die ganze Infrastruktur wuppen muss, nicht davon profitiert, wenn Firmen ihren Arbeitnehmenden Mehrarbeit reindrücken oder Arbeitnehmende sich selbst ohne zwingenden Grund haufenweise Mehrstunden verordnen.
Also wäre die richtige Lösung: Die Überstunden werden sehr wohl versteuert, aber die Unternehmen registrieren sie bis zum Jahresende und packen einen Zuschuss drauf. Ob dieser dann wiederum versteuert werden muss, ist Sachfrage. Es gibt Länder, in denen zum Beispiel Urlaubs- und Weihnachtsgeld nicht versteuert werden, was dazu führt, dass beinahe 15 Monats-Nettogehälter ausgezahlt werden. Dort herrscht aber auch nicht der deutsche Neoliberalismus-Wahn der Union und der FDP und dort läuft die Wirtschaft auch besser, weil das nicht so ist und die Menschen motivierter sind = die Produktivität fällt nicht, wie das in Deutschland in den letzten Jahren auffälligerweise der Fall ist.
Damit kommen wir zu einem weiteren Problem: Viele Überstunden kommen vermutlich auch dadurch zustande, weil Deutschland immer weiter in Sachen Produktivität zurückfällt. Es funktioniert vieles immer schlechter, es hakt immer mehr, die Bewältigung von Aufgaben wird aufwendiger, erfordert mehr Korrekturen und Nacharbeiten, weil immer am falschen Ende der Investitionen in moderne Technik und an der Ersetzung in die Jahre gekommener, anfälliger Apparaturen gespart wird, und das mit Steuerfreiheit zu privilegieren, ist auch ökonomisch gesehen keine gute Idee. Denn auch Arbeiter:innen müssen endlich mehr Druck machen, dass ihre Betriebe besser werden und sie selbst dadurch weniger belastet werden. Anhaltende, nicht durch kurzfristige Ausfälle von Kolleg:innen verursachte, sondern im System von Betrieben angelegte Überstunden sind nicht ein Zeichen dafür, dass es gut läuft, sondern dass etwas falsch läuft.
Die Tendenz müsste genau in die umgekehrte Richtung gehen: Die zunehmende Automatisierung, die nun durch die KI einen weiteren Schub erfahren wird, müsste zu weniger Arbeitszeitsstunden-Angebot führen, nicht zu mehr. Die Crux dabei ist, dass die Industrie, die davon wiederum am meisten profitieren wird und ihre Effizienz steigern könnte, in Deutschland gerade schwächelt, was natürlich auch den Produktivitätsschub, der dringend notwendig ist, verhindert. Überall steigt die Produktivität, wenn auch nicht mehr in dem Maße wie vor Jahrzehnten – nur in Deutschland nicht, und das nicht erst seit der Ampel. Das Phänomen ist schon seit der Bankenkrise vor fast 15 Jahren zu beobachten, die eine gewisse CDU-Regierung mit ökonomischen Fehlanreizen „bewältigt“ hat.
Was immer die CDU vorschlägt: Falls Sie zu den wirklich Arbeitenden zählen, denken Sie immer daran, dass nicht Sie profitieren sollen, sondern diejenigen, die ohnehin im Überfluss leben, dank Ihres Arbeitseinsatzes. Die Einkommens- und Vermögensschere ging schon während der Merkel-Jahre immer weiter auf, und daran wird die Steuerfreiheit für Überstunden auch nichts ändern, denn nicht die „Arbeitgeber“ müssen diese bezahlen, die davon profitieren, sondern der Staat soll wieder einmal Einnahmen verlieren, damit er wieder einmal weniger Spielraum für dringend notwendige Investitionen hat. Dieselbe Masche im Grunde, die schon mit der irren Idee etabliert wurde, eine Schuldenbremse in die Verfassung zu schreiben, die keiner Sonderlage gerecht wird.
Die Landtagswahlen im Osten rücken näher, die Bundestagswahlen 2025 sind nicht mehr so weit weg. Es wird Zeit, die unchristliche Politik der angeblich christlichen Union offener zu markieren. Bei Merz und Linnemann müssen Sie immer hinterfragen, was hinter angeblich so schlichten und populären, in Wahrheit populistischen Ideen stecken könnte. Es ist nicht, wie es scheint. Fragen Sie mal diejenigen, die sich mit der Arbeit der mächtigen Lobbys in Deutschland befassen, von denen die CDU besonders stark eingewickelt wird und die in erheblichem Maße daran beteiligt sind, dass die Gesellschaft gespalten, ihre Gruppen gegeneinander aufgehetzt und damit wehrlos dem Kapital gegenüber gemacht werden.
Gewerkschaftsnahe Ökonomen, die lediglich so argumentieren, wie Sebastian Dullien es oben getan hat, sind übrigens mit daran schuld, dass die Menschen nicht den kompletten Zusammenhang erkennen können, weil sie nur einen einzigen Aspekt herausgreifen, anstatt Kante gegenüber den Profiteuren solcher CDU-Spins zu zeigen.
Um es noch einmal klarzumachen: Überstunden werden nicht weniger anstrengend, weil sie steuerfrei sind, und wenn aus Überanstrengung Krankheitstage resultieren, schadet das vor allem der Gemeinschaft und natürlich auch den Unternehmen, die zuerst die Überstunden gerne entgegengenommen haben, aber sich dann beschweren, dass Menschen ausfallen, weil sie zu gierig auf ein paar steuerfreie Euros waren. Überstunden, die nicht anstrengend sind, sollten hingegen dringendst auf ihre Notwendigkeit hin überprüft werden, anstatt dass die Gemeinschaft sie quasi als steuerfreies Extra für Anwesenheitskünstler:innen mitbezahlt.
Überstunden, gleich ob notwendig oder nicht, machen einen Standort nicht wettbewerbsfähiger, sondern sind ein Anzeichen für eine Fehlstellung. Ganz nebenbei entlarvt sich anhand von Milliarden Überstunden in Deutschland auch ein weiteres Märchen: Dass hierzulande die Arbeitszeiten so kurz sind. Das ist nur nonimal so, nicht real, wenn man alle, auch die gar nicht erst in Überstunden erfasste, unbezahlte Mehrarbeit einrechnet. Dem steht eine große Unterbeschäftigung entgegen, die ebenfalls statistisch nicht korrekt erfasst wird. Es wird viel getrickst und (die Bürger:innen an-) gelogen, um bestimmte kapitalnahe Narrative zu bedienen, in diesem Land der angeblich Ehrlichen und Korrekten, in dem angeblich nur ein paar Migrant:innen anders drauf sind.
Nun sind Sie schlauer als die meisten, die bedenkenlos für mehr Selbstausbeutung ohne Mehrkosten für die „Arbeitgeber“ gestimmt haben. Falls Sie noch nicht Ihren Klick gemacht haben, hier noch einmal die Umfrage:
TH
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