Briefing 486-UD Wirtschaft, GDL, Deutsche Bahn AG, Tarifabschluss, Tarifkompromiss, Arbeitszeit, 35-Stunden-Woche
Nachdem wir gestern den Tarifkompromiss zwischen der Deutsche Bahn AG und der Gewerkschaft der Lokführer (GDL) als überwiegend positiv beschrieben haben, muss heute die Fragen aller Fragen ergänzt werden: Wie pünktlich ist die Deutsche Bahn?
Wie pünktlich ist die Deutsche Bahn?

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz CC BY-ND 4.0 Deed | Namensnennung-Keine Bearbeitung 4.0 International | Creative Commons erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.
Die Deutsche Bahn kommt meistens pünktlich, jedenfalls im Nahverkehr. Wobei pünktlich im Sinne der Bahnstatistik alle Züge einschließt, die sich um weniger als sechs Minuten verspäten. Anders sieht es im Fernverkehr aus. Dort erreichten im Februar nur rund 67 Prozent aller Verbindungen rechtzeitig ihre Haltebahnhöfe – kein Einzelfall, wie der Blick auf die Statista-Grafik zeigt. Dass es auch anders geht macht der Blick zurück deutlich. So waren im Januar 2022 fast 81 Prozent der Fernzüge pünktlich. Den Tiefpunkt der letzten zwei Jahre bildet der November 2023 mit einer Pünktlichkeitsquote von 52 Prozent. Der starke Einbruch der Werte Anfang 2022 ist unter anderem dadurch bedingt, dass viele Baustellen den Verkehr beeinträchtigten. Dazu schreibt tagesschau.de: „Die Bahn-Infrastruktur gilt als marode und wurde in den vergangenen Jahren kaum erneuert, gleichzeitig stieg aber der Bedarf an Zugverkehr. Auf dem bestehenden Netz gibt es kaum Kapazitäten für weitere Züge.“
Nachdem nun die Lokführer:innen einen ansehnliches Plus beim Gehalt und einige weitere kleine Verbesserungen ihrer Situation erreicht haben, ist es da nicht angebracht, von der Bahn endlich Pünktlichkeit zu fordern?
Ja, das ist es. Aber nicht an die Adresse der Lokführer:innen, sondern an das Management gerichtet, das nicht nur seine Angestellten nicht gerade fürstlich bezahlt, sondern auch die Infrastruktur über viele Jahre kaputtgespart hat. Das Ergebnis sind nun erschreckend niedrige Pünktlichkeitsquoten besonders im Fernverkehr. Ein typischer Privatisierungsfail, der nicht einmal dazu geführt hat, dass die Bahn nun etwa regelmäßig Gewinne macht, wie man sich das so gedacht hat, im neoliberalen Cluster des Wahnsinns. Vor zehn Jahren gab es einmal Schlagzeilen über Milliardengewinne, aber das ist längst Schnee von gestern, sie wurden nämlich auf Kosten ebenjener Infrastruktur gemacht, die jetzt überall so marode ist, dass Verspätungen aufgrund von Reparaturarbeiten gar nicht vermieden werden können. Und dafür sind am allerwenigsten die Zugführer:innen verantwortlich, sondern ein Management, das kurzfristig gut dastehen wolle und dafür die langfristigen Investitionen vernachlässigt hat.
Leider ist diese Vorgang symbolisch und symptomatisch für den Zustand des gesamten Landes. Die Bahn ist wirklich ein Brennglas für Probleme, die man durch eine Ideologie produziert hat, die nur Fehler und Verdruss produziert. Der Witz ist, es handelt sich dabei gar nicht um Marktwirtschaft, denn auch viele Monopolisten wurden privatisiert und sind weiterhin Monopolisten, wie die Bahn im deutschen Fernverkehr. Konkurrenz würde es nach unserer Ansicht auch nicht besser machen, denn was soll dabei herauskommen als noch mehr Ausquetschung der Infrastruktur, sofern die Preise nicht massiv angehoben werden können? Die Schiene als Verkehrsader ist, wie auch das Stromnetz, nicht aufteilbar zwischen Privaten und Öffentlichen oder verschiedenen Privaten. Nicht einmal in den USA laufen die Schienen verschiedener Betreiber aus Konkurrenzgründen quasi parallel nebeneinander her. Von einigen Ausnahmen abgesehen, die es in jedem System gibt. Die Daseinsvorsorge gehört in Öffentliche Hände, und wenn sie dort vernünftig gemanagt wird, ist sie zwangsläufig privaten Modellen überlegen, weil sie nach dem Kostentragungsprinzip arbeiten kann und nicht Gewinne für haufenweise Aktionäre aus lebenswichtigen Versorgungsunternehmen herausquetschen muss. Privatisierungsfails im
- Schienenverkehr,
- im ÖPNV,
- im Gesundheitswesen,
- auf dem Energiesektor teilweise,
- beim Straßenbau,
- im Wohnungswesen
müssen dringendst revidiert werden, es muss wieder Tafelsilber gesammelt anstatt immer weiter verscherbelt werden. Sie wissen sicher, dass die Bahnangestellten einmal Beamte waren. Ob es notwendig ist, die Exzellenz, die damit verbunden war, auf diese Weise zu reetablieren, neben der Rückabwicklung der Privatisierung, darüber kann man streiten. Nach unserer Ansicht gibt es eher zu viele als zu wenige Beamte und andere Staatsbetriebe kommen auch ohne Staatsdiener aus. Jedenfalls war die Bahn in den alten Zeiten geradezu sprichwörtlich pünktlich.
TH
Über Streiks wird immer diskutiert, aber dieses Mal war es extrem. Eine kleine Schar von etwa 51.000 Lokführer:innen hielt das Land in Atem. Hielt es als Geisel, sagen die einen. Hielt dem Land den Spiegel vor, sagen die anderen. Was halten Sie von dieser Einigung, die nun erzielt wurde?
Die Umfrage kommt nach dem Begleittext aus dem Civey-Newsletter:
Nach monatelangen Streiks und Verhandlungen haben sich die GDL und die Deutsche Bahn (DB) im Tarifstreit geeinigt. Das Ergebnis umfasst drei wesentliche Punkte: Die Lokführerinnen und Lokführer erhalten einen Inflationsausgleich in Höhe von 2.850 Euro. Außerdem wird das Entgelt stufenweise um 420 Euro pro Monat erhöht. Der wichtigste Punkt ist jedoch die schrittweise Einführung der 35-Stunden-Woche bis 2029 ohne Lohneinbußen.
Die Beschäftigten sollen wählen können, ob sie die verkürzte Arbeitszeit in Anspruch nehmen oder weiterhin bis zu 40 Stunden pro Woche arbeiten. Wer weiterhin mehr arbeitet, bekommt auch mehr Geld. Lob für das Modell kommt vom Präsidenten des Münchner Ifo-Instituts, Clemens Fuest, berichtet die tagesschau. Angesichts des Fachkräftemangels sei es besser, die Beschäftigten ihre Arbeitszeit flexibel wählen zu lassen, als die Wochenarbeitszeit für alle zwangsweise auf 35 Stunden zu senken.
Weitere Streiks sind vorerst ausgeschlossen. Der neue Tarifvertrag hat eine Laufzeit bis Ende 2025 und geht in eine Verhandlungsphase mit Friedenspflicht bis Ende Februar 2026 über. Bahn-Personalvorstand Martin Seiler bezeichnete das Ergebnis als „intelligenten Kompromiss“. Das Wahlmodell gebe Flexibilität und helfe der DB bei der Transformation. GDL-Chef Klaus Weselsky sprach von einem „Erfolg fast auf der ganzen Linie“, kritisierte aber, dass der neue Tarif für einige Beschäftigte – etwa in der Infrastruktur – der Bahn nicht gelte.
Derzeit verdienen Lokführer laut Angaben der Bahn zwischen 44.500 und 53.400 Euro pro Jahr. Mit der Gehaltserhöhung würde das Jahresgehalt dann bis zum 1. April 2026 auf bis zu 58.440 Euro ansteigen. Das klingt eigentlich ganz gut, aber ist es angemessen? Wirklich anstrengend ist der Job heute nicht mehr, aber es ist ein Beruf mit Verantwortung und er ist systemrelevant. Wir finden nicht, dass Lokführer:innen nach dem neuen Tarif überbezahlt sind, aber andere Tätigkeiten sind weiterhin unterbezahlt. Zum Vergleich einmal der Verdienst in Pflegeberufen.
Der Pflegemindestlohn steigt in zwei Schritten1:
- Ab dem 01.12.2023 beträgt der Pflegemindestlohn 14,15 € brutto je Stunde.
- Ab dem 01.05.2024 beträgt der Pflegemindestlohn 15,50 € brutto je Stunde.
- Ab dem 01.07.2025 beträgt der Pflegemindestlohn 16,10 € brutto je Stunde.
Die aktuell gültige Pflegemindestlohn-Verordnung ist noch bis 31. Januar 2024 gültig23. Die Mindestlöhne für Pflegehilfskräfte betragen derzeit 13,90 Euro, für qualifizierte Pflegehilfskräfte 14,90 Euro und für Pflegefachkräfte 17,65 Euro23. Sie steigen zum 1. Dezember 2023 noch einmal auf 14,15 Euro, 15,25 Euro und 18,25 Euro2.
Ob der Unterschied zwischen Fach- und Hilfskräften nicht etwas zu gering ist, angesichts der erheblichen notwendigen Investitionen in eine Fachausbildung, wollen wir an dieser Stelle nicht diskutieren. Aber was kommt bei einem Mindestlohn von 17,65 Euro jährlich heraus? Ca. 34.000 Euro, ohne Zulagen, Weihnachtsgeld etc. Und es musste ein gesetzlicher Mindestlohn eigens für diese Berufe eingeführt werden, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, weil die Gewerkschaften es nicht geschafft haben, dass die Pfleger:innen einigermaßen vernünftig bezahlt werden. Selbst Häuser mit vergleichsweise hoher Wertschätzung für ihr Angestellten zahlen nur wenige Euro über diesem Mindestlohn. Und es gibt, neben Ärzten und Ärztinnen, keinen Beruf, der mehr systemrelevant ist, sofern die kranken oder alten Menschen nicht einfach verrotten und frühzeitig versterben lassen will.
Hier spielen Aspekte der Menschenwürde eine sehr große Rolle, während es bei der Bahn um Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit geht und natürlich um Unfallfreiheit. Nach unserer Ansicht haben Pflegevollkräfte ähnliche Bezüge verdient wie Lokführer:innen. Aber das endlich zu erreichen, ist eine Kritik am Staat und an die Gewerkschaft ver.di, nicht gegen die Lokführer:innen gerichtet.
Hingegen gibt es immer noch zu viele Berufe, die komplett überbezahlt sind für das, was dort tatsächlich geleistet wird. Die Gesellschaft muss aber selbst wissen, ob sie dem Produzieren von Sprechblasen und heißer Luft anstatt echter, wertschöpfender und zur Erhaltung der Gemeinschaft unabdingbarer Arbeit weiterhin so viel Bedeutung zumessen will. Es ist ein fehlorientierter Markt, der diese Missverhältnisse verursacht hat und eine Mentalität, die Flunkern und Reibach machen privilegiert. Auch die Lokführer und die Medizinberufe könnten besser verdienen, wenn nicht am oberen Ende der Einkommenspyramide Unsummen an leistungslosen Bezügen entstehen oder diese wenigstens mehr besteuert würden.
Man mag Claus Weselsky, den GDL-Vorsitzenden, oder man mag ihn nicht, man mag den neuen Tarifvertrag für ausreichend oder nicht halten, es ist egal: Nach wie vor gute Arbeit in diesem Land keineswegs überbezahlt. Das jedenfalls muss man festhalten, alles andere ist die übliche neoliberale Unverschämtheit derjenigen, die eine funktionierende Infrastruktur für fast nichts haben, kaum Beiträge zahlen, am liebsten alles komplett kaputtsparen und sich dann darüber aufregen wollen, dass nichts richtig funktioniert. Wie zum Beispiel die Bahn, die seit der Privatisierung so unfassbar an Qualität verloren hat, dass sie ein Lehrbeispiel für die Fehlfunktion des Neoliberalismus bei der Ausführung wichtiger Infrastrukturaufgaben geworden ist. Der neue Tarifvertrag wird daran alleine nichts ändern, die Bahn muss massiv investieren, um ihren Anforderungen wieder gerecht zu werden. Dazu gehört aber auch, gute Mitarbeitende anständig zu entlohnen und ihnen ein paar Möglichkeiten z. B. bei der Arbeitszeitgestaltung zu geben.
Die Mentalität das Billigkonsums hat dazu geführt, dass zu viele glauben, Gutes gäbe es quasi für lau. Das stimmt aber nicht. Irgendwer zahlt für die Billigheimerei immer drauf: Die unterbezahlten Arbeiter:innen an den Werkbänken Südostasiens, die Umwelt, am Ende also wir alle, die Beschäftigten auch hierzulande, die keinen gerechten Lohn erhalten, und / oder die Qualität leidet und mit ihr die Nachhaltigkeit. Es kommt nichts von nichts, deswegen haben wir mit „überwiegend ja“ gestimmt. Nicht mit „eindeutig ja“, weil wir finden, dass man ein noch deutlicheres Zeichen gegen Ausbeutung hätte setzen können, indem man zum Beispiel die erst 2025 wirksamen Erhöhungen der Bezüge sofort einführt. Den „Inflationsausgleich“ gab es ja in einigen Bereichen, am höchsten fiel er natürlich dort aus, wo die Menschen ohnehin gut verdienen, etwa beim Staat. Er hat uns auf unangenehme Weise daran erinnert, dass auch der neue Tarifabschluss in Wirklichkeit keine Besserstellung bedeutet, keine Reallohnsteigerung, sondern in etwa das ausgleicht, was in den letzten Jahren an Kaufkraft verlorenging. In vielen Branchen haben die Beschäftigten diesen Ausgleich nicht erzielen können, das schlägt sich jetzt in einer Konsumflaute nieder – seit über drei Jahren sinken die realen, preisbereinigten Umsätze im Einzelhandel beispielsweise.
Auf den ersten Blick wirkt der neue Lokführer:innen-Tarif üppig, aber wenn man genauer hinschaut, ist er okay, mehr nicht. Und es war richtig, dafür zu streiken. Es ist hingegen schlimm genug, dass in anderen Bereichen nicht gleichermaßen die Arbeit niedergelegt werden kann, weil es um Menschenleben geht und Arbeitskräfte damit erpresst werden können, dass man diese nicht durch Arbeitsniederlegung in Gefahr bringen darf. Deswegen muss der Staat quasi als Ersatztarifpartner für schlagkräftige Gewerkschaften im Medizinbereich die Mindestlöhne weiterhin erheblich anheben, damit der Fachkräftemangel beseitigt werden kann. Und wenn sogar der Kapitalseite nahestende Ökonomen wie Clemens Fuest einen Tarifvertrag für in Ordnung halten, kann er nicht übertrieben sein.
TH
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