Briefing 489 Update Geopolitik, Ukraine, Russland, Ukrainekrieg, Verteidigungsminister, Boris Pistorius, Interview
Sven Lilienström, der Initiator von „Gesichter der Demokratie“ hat einen Politiker interviewt, der aktuell zu den wichtigsten in Deutschland zählt: Verteidigungsminister Boris Pistorius. Entgegen unserer ursprünglichen Absicht verlinken wir nur zur Originalpublikation, weil wir uns nicht sicher sind ob eine wörtliche Wiedergabe gestattet wäre.* Wegen der Wichtigkeit des Beitrags schreiben wir trotzdem einen Artikel dazu und posten ihn als Update zum gestrigen Beitrag „Frieden an Ostern: unmöglich.“
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– „Perspektivisch werden wir eher mehr als weniger ausgeben müssen.“
– „Ob die NATO-Quote am Ende bei 2,0 Prozent oder 2,4 Prozent liegt, ist nachrangig.“
Sehr geehrter Herr Hocke,
der russische Überfall auf die Ukraine bedeutet auch für Bundeswehr und NATO eine „Zeitenwende“. Mit einem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro soll die Truppe „Krieg führen können, um ihn nicht führen zu müssen“. Zeitgleich treibt die NATO ihre Norderweiterung durch die Aufnahme Schwedens und Finnlands voran. Und über allem schwelt die Frage, wie unverrückbar sich ein künftiger US-Präsident – sollte dieser wieder Donald Trump heißen – zur Bündnispflicht bekennt.
Im Interview mit Sven Lilienström, dem Gründer der Initiative Gesichter der Demokratie, betont Verteidigungsminister Boris Pistorius deshalb: „Was unsere eigene Sicherheit in der EU betrifft, müssen wir noch mehr tun“. Und ergänzt: „Ob die NATO-Quote am Ende bei 2,0 Prozent oder 2,4 Prozent liegt, ist nachrangig. Für uns muss handlungsleitend sein, was zu tun ist, um unser Land und unsere Bündnispartner verteidigen zu können!“ Das Interview finden Sie hier.
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Kommentar
Es ist selten, vielleicht gab es das noch nie: Das sein Verteidigungsminister der beliebteste deutsche Politiker ist. Dank der Möglichkeit, das Interview wieder im Ganzen verwenden können, was bei den letzten Gesprächen nicht der Fall war, die Sven Lilienström mit bekannten Persönlichkeiten geführt hat, erhalten Sie also fast exklusiv ein Interview mit einem Mann, von dem niemand behaupten kann, er sei nicht eine der wichtigsten Personen, wenn es um das Schicksal des Landes in schwieriger werdender Zeit geht. Insgesamt finde ich das Interview gut, weil es recht geschickt das beinhaltet, was wir im Grunde wissen, mit ein paar kleinen Anmerkungen, aus der man die Haltung von Pistorius ablesen kann, ohne dass sie fordernd oder gar „geschlossen“ wirkt, wie man vor allem anhand seiner Einlassungen zur Dienstpflicht erwähnt. Er hätte darauf nicht insistiert, wenn er nicht dafür wäre, aber sie der demokratischen Diskussion anheimgestellt. Unsere Nachfrage beim Copilot bestätigt das:
Boris Pistorius, der deutsche Verteidigungsminister, hat die Debatte über die Wiedereinführung der Wehrpflicht wieder aufgenommen12. Er hat öffentlich erklärt, dass es rückblickend ein Fehler war, die Wehrpflicht auszusetzen1. Pistorius zieht Modelle in Betracht, wie das schwedische Modell, bei dem alle jungen Männer und Frauen eingezogen werden und nur eine ausgewählte Gruppe ihren Grundwehrdienst leistet1. Diese Überlegungen sind Teil seiner Bemühungen, die Bundeswehr attraktiver zu machen und die Personalprobleme der Bundeswehr zu lösen12. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass diese Diskussionen noch im Gange sind und keine endgültige Entscheidung getroffen wurde12.
Aus verschiedenen Artikeln von uns, unter anderem, als wir auf eine betreffende Umfrage reagiert haben, wissen Sie, dass wir für die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht waren, schon bevor der Ukrainekrieg begann. Aus gesellschaftspolitischen Gründen. Und natürlich, weil wir es noch so kennen und daher finden, dass die Bundeswehr mehr Vielfalt braucht und dass es problematisch ist, eine Berufsarmee in einem Land zu führen, dessen Demokratie, wie auch Pistorius sagt, aus verschiedenen Richtungen unter Beschuss steht – und in dieser Berufsarmee sind überwiegend Rechte tätig, wie in jeder Berufsarmee. Geradezu geschmunzelt habe ich, als er die Skandinavier als Vorbild erwähnt. Ich glaube, wir würden uns in der Hinsicht, wie man „Best Practice“ anstrebt, verstehen, zumal wir die Nordländer auf vielen Gebieten für vorbildlich halten, nicht nur bei der Einstellung zur Landesverteidigung und deren Ausgestaltung. Ich würde mich sehr freuen, wenn mit Pistorius wenigstens ein Politiker in Deutschland unserer in letzter Zeit stärker akzentuierten Aufforderung nachkäme, sich endlich in Ländern umzuschauen, in denen verschiedene Dinge besser laufen als bei uns, um die Demokratie zu stärken. Gerade die skandinavischen Länder haben wir gerade erst in unserem gestrigen Artikel hervorgehoben:
Allerdings müssen wir noch mehr in den Vordergrund rücken, dass „Best Practice“ nicht nur von der Politik abhängt. Die Politik allein kann die Aufgabe nicht vollbringen. Diese Mentalität muss in den Köpfen der Menschen etabliert sein, das ist sie in Deutschland nicht. Solange hierzulande mit egoistischen, neoliberalistischen Populismen erfolgreich Politik gemacht wird, ist die Bevölkerung gar nicht bereit dazu, denn ohne ihre Zustimmung gäbe es diese Politik nicht. Hier wird eher in den Haudrauf-Staat USA geschielt, weil es gigantomanischer und spektakulärer ist, als die kleinen Scandics genauer zu betrachten. Wenn die Europäer sich mehr auf sich selbst stellen müssen, erhört sich vielleicht die Chance, dass den Besten in Europa mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird, aber sicher ist das nicht. Die deutsche Gesellschaft ist ein schwieriger Fall, eigentlich ein pathologischer. Das kann nicht ohne Auswirkungen auf die hiesige Politik bleiben. Deswegen müssen wir auch ständig schreiben, dass die Demokratie in Gefahr ist. Boris Pistorius sieht Menschen, die gegen rechts auf die Straße gehen, aber auch viele Verfassungsfeinde. Wir sehen auch beides. Unser Eindruck ist allerdings, dass eine gefährliche Mehrheit, die unsichtbar bleibt, die Demokratie eben nicht verteidigen würde, wenn es darauf ankäme, dies gegen einen Angriff von außen zu tun.
Was wir auch schon einmal geschrieben haben: Was, wenn Trump als nächster Präsident der USA sagt, die Bündnispartner müssen nicht zwei Prozent, sondern mehr bringen, um von den USA beschützt zu werden? 2,4 Prozent sind dabei auch keine gute Richtmarke, denn wir trauen Trump durchaus zu, dass er verlangt, dass andere genau so viel tun wie die USA selbst (etwa 3,5 Prozent des BIP für die Streitkräfte ausgeben), und dass die zwei Prozent vor Trump beschlossen wurden, ist keine Gewähr dafür, dass Trump nicht auch in dieser Sache nur nach den eigenen Regeln spielen will. Die Europäer müssen sich stärker zusammenschließen, diesen richtigen Schluss zieht Pistorius allerdings, und, ebenfalls richtig, auch wenn Biden es noch einmal schaffen sollte ins Weiße Haus von Washington.
Boris Pistorius hatte gleichermaßen gute wie schlechte Startvoraussetzungen. Die Zeitwende war schon erklärt, die Bundeswehr gilt als marode, schlechter als seine Vorgängerin Christine Lambrecht konnte Pistorius seinen Job kaum machen. Und er kann vieles verbessern und bekommt viel Geld dafür. Ein Traum, im Vergleich zu der Knapserei, die man in anderen Ressorts jetzt wahllos und unstrategisch durchführen muss, um die fehlgeleitete Schuldenbremse inklusive des Anwendungsgebots durch das BVerfG auf die Reihe zu bekommen. Als Manager ist Pistorius gefragt und wir werden sehen, was er leistet. Als Politiker ist er derzeit privilegiert wie kein anderer, weil er der einzige Minister der Bundesregierung ist, der expansive Nachrichten verkaufen kann, die außerdem aufgrund der Weltlage auf großes Interesse stoßen. Zum Taurus-System hat er sich übrigns gar nicht geäußert, auch, weil Lilienström ihn nicht nach seiner Meinung gefragt hat. Vielleicht wurde das so abgesprochen. Durchaus denkbar, dass Pistorius anders tendiert als Kanzler Scholz, diesem aber nicht in den Rücken fallen will durch Andeutungen oder gar Festlegungen seiner Position in einem Interview. Insofern können wir hier keinen Sensationen vermelden, aber man lernt den Verteidigungsminister etwas besser kennen.
Es sind aber ein paar Punkte enthalten, die ihn durchaus noch fordern könnten: Das von den Russen geleakte Telefonat über das Taurus-System fällt nun einmal in seinen Zuständigkeitsbereich. Und wenn die IT der Bundeswehr doch einmal Schaden durch Cyberkriegsführung nehmen sollte, steht er mit seiner positiven Einschätzung im Wort. Das wäre aber auch ohne das Interview nicht viel anders gewesen.
Was ich in seinem Fall auch richtig finde: Dass er sich zwar positiv zu den Demos gegen rechts geäußert hat, aber es vermied, eine Linie zur Bundeswehr und deren Personal zu ziehen, die Lilienström ihm nicht abverlangt hat. Zum Beispiel zu hinterfragen, ob auch Soldat:innen privat dort mitgemacht haben. Nach unserer Ansicht waren das sicher nicht viele.
Dass „Die Truppe“ nicht diskriminierungsfrei ist, versteht sich bei ihrer gegenwärtigen Aufstellung fast von selbst, was wiederum für eine Dienstpflicht spricht, die Diversität fördern würde. Wäre ich homosexuell und bei der Bundeswehr, würde ich mich vermutlich nicht outen. Allerdings dürfte es Homosexuelle dort nicht in Scharen hinziehen. Das ist anders als im Sport, wo es um großes Talent geht und ob die sexuelle Ausrichtung bei dessen Entfaltung hinderlich sein könnte, was nicht der Fall sein sollte. Menschen, die zur Armee gehen, tun das aber vor allem aus Gesinnungsgründen, wenn sie nicht dazu verpflichtet sind. Zu dieser Gesinnung sollte natürlich eine positive Einstellung zum Land und seiner Verteidigung gehören, aber meist ist im Paket auch eine gesellschaftspolitisch nicht progressive Haltung inkludiert.
Das alles wird aber in nächster Zeit nicht im Vordergrund stehen. Die Zeiten sind nicht progressiv, wegen der Bedrohungslage, wegen der Entwicklung der Gesellschaft in Deutschland, können sie es nicht sein. Eigentlich gute Zeiten für einen Politiker, der vor allem dafür sorgen muss, dass die Abwehr funktioniert, nicht der Fortschritt, abgesehen von Fortschritten bei der Abwehr. In unser aller Interesse, auch als Mensch, der sich eine kompetent geführte und damit von innen wie nach außen stärkere Demokratie wünscht, wünsche ich ihm eine gute Hand dabei.
TH
*Ein ausdrückliches Verbot der wortwörtlichen Wiedergabe war dieses Mal in der Einleitung nicht enthalten, anders als bei vorausgehenden Gesprächen dieser Art. Trotzdem haben wir uns im Verlauf der Bearbeitung entschlossen, auf der vorsichtigen Seite zu bleiben und bitten um Verständnis dafür. Uns ist es vor allem wichtig, die Meinung eines wichtigen Politikers ohne von mglw. uns selbst verursachte Probleme an Sie zu vermitteln.
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