Briefing 501 Trend, EU-Strategie, Wirtschaftspolitik, Mario Draghi, EZB, China, USA, Wandel, Herausforderung
Mario Draghi war jener Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), der den berühmten Satz „Whatever it takes“ gesprochen hat, als es darum ging, ob und wie viel die EZB an Staats- und anderen Anleihen von Euro-Staaten bzw. aus Euro-Staaten kauft, um notleidende Länder zu retten und deren Schuldenpapiere der Marktspekulation zu entziehen.
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Die Folge war u. a. eine beispiellose Niedrigzinspolitik, die für Deutschland zu der Zeit nicht die passende war. Andererseits ist darüber zu diskutieren, ob damit nicht die EU und vor allem der Euroraum erhalten wurden. Wir sind nach wie vor der Ansicht, dass der Euroraum in seiner bestehenden Form nicht die Lösung ist und dass die sehr unterschiedliche Aufstellung verschiedener in ihm zusammengefasster Länder das behindern wird, was Mario Draghi in einer interessanten Rede gestern vorgeschlagen hat.
Mario Draghi: Radikaler Wandel – das ist das, was wir brauchen (https_geopolitique.eu)
Deswegen erwähnt er ein Modell, das schon oft in Rede stand und zu selten angewendet wurde: Das Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Nur Staaten, die miteinander kompatibel genug sind, sollten bestimmte Integrationsschritte so schnell wie möglich vornehmen, die anderen bekommen mehr Zeit.
Wir haben während des Lesens dieser Rede vielfach genickt: Eine strategische Wirtschaftspolitik für Deutschland, nicht nur nach außen, sondern auch nach innen, fordern wir seit nunmehr fast 14 Jahren. Wir haben grundsätzlich vorausgesehen, was sich in China entwickeln wird und wie gefährlich es für Europa ist. Was wir nicht geahnt haben: Dass sich auch die USA brüsk von der Freihandelsideologie abwenden und protektionistisch werden. Dadurch wird Europa noch mehr unter Zugzwang gesetzt, als wenn es nur die chinesische Herausforderung eben würde. China wird sich außerdem mehr und mehr in noch lohngünstigeren Ländern Südostasiens und in Afrika ausbreiten, wogegen die EU bisher überhaupt keine Handhabe hat – auch aufgrund ihrer historischen Belastungen durch den Kolonialismus. Aber gerade dort, in Asien, in Südamerika, könnte Deutschland, das in diesen Regionen weniger involviert war als andere, eine Rolle als Türöffner spielen. Genau das Gegenteil ist aktuell der Fall. Und dann ist da noch Frankreich, das stur auf seiner geopolitischen und generellen Sonderrolle in Europa beharrt und sich als Großmacht geriert, zum Schaden aller.
Und dann Indien. Der nächste Konkurrent für Europa ist schon in Sicht, der sich möglicherweise ebenso nicht an das halten wird, was einmal als Welthandelsregelwerk angesehen wurde, wie dies bei China und zunehmend bei den USA der Fall ist. In dieser Lage, viel zu spät, aber immerhin aussagekräftig, hält Mario Draghi eine Rede, die wir im Ganzen so bewerten: Vieles ist richtig, einiges wird verschwiegen, besser spät als nie. Denn der europäische Markt ist größer als der US-amerikanische und gegenüber den USA kann sehr wohl Gleichberechtigung und eine neue Form von Gemeinsamkeit auf dieser Basis hergestellt werden.
Wir fangen mit dem Eingestehen von Fehlern an:
Der Ansatz, den wir nach der Staatsschuldenkrise in Bezug auf die Wettbewerbsfähigkeit in Europa gewählt haben, schien ihm Recht zu geben. Wir verfolgten eine bewusste Strategie, die Lohnkosten im Verhältnis zueinander zu senken – und in Kombination mit einer prozyklischen Fiskalpolitik war der Nettoeffekt nur, dass unsere eigene Binnennachfrage geschwächt und unser Sozialmodell untergraben wurde.
Im Grunde ist das auch eine Kritik an Deutschland, die sich allerdings vor allem auf die Schröder-Ära beziehen müsste, also die Zeit vor der Staatsschuldenkrise, als der Niedriglohnsektor hierzulande eingeführt wurde. Allerdings hat es auch nach der Schuldenkrise lange gedauert, bis ins Jahr 2017, dass in Deutschland endlich ein Mindestlohn eingeführt wurde. Stiegen in den 2010ern die Lohnkosten anderswo zu schnell oder in Deutschland immer noch zu langsam?
Wir sehen vor allem ein anderes Problem, das speziell die für die EU wichtige deutsche Wettbewerbsfähigkeit untergraben hat: Die Flutung der Märkte mit billigstem Kapital, die zu erheblichem Wachstum und zu Preissteigerungen in konservativen Branchen wie der Immobilienwirtschaft geführt hat, zu hohen Mieten und Kaufpreisen für Immobilien, zu geringeren Renditen und dem Zwang zu weiteren Steigerungen, um Vermögenswerte gut darstellen zu können.
Die guten Wirtschaftsdaten Deutschlands nach der Finanzkrise waren auch dadurch bedingt, dass schlicht mehr Kapital akkumuliert wurde, nicht etwa durch Steigerungen der Produktivität oder die Ausweitung der Produktion. Das Produktivitätsproblem in Deutschland setzte augenfällig mit der Zeit nach der Staatsschuldenkrise ein und verschärft sich immer weiter, auch im Vergleich mit anderen europäischen Staaten steht das Land diesbezüglich besonders schlecht da.
Geradezu logisch ist es, dass Deutschland in den letzten Jahren permanent Plätze bei der industriell-technischen Wettbewerbsfähigkeit verliert. Mario Draghi erwähnt die Krisen der letzten Jahre als Probleme für die europäische Wirtschaft und man könnte beifügen: Besonders, in allen Fällen, gilt das für Deutschland. Und damit lahmt die gesamte EU. Denn die industriellen Kapazitäten Deutschlands haben auch in anderen EU-Ländern für Wachstum und Arbeitsplätze gesorgt. Ein Aspekt, der von jenen, die Deutschland für seine Exportstärkte gescholten haben, geflissentlich verschwiegen wurde. Außerdem leiten wir auf Draghis strategischen Ansatz hin: Frankreich hat beispielsweise gegenüber Deutschland eine negative Handelsbilanz, insgesamt aber war sie in den 2010ern überwiegend ausgeglichen oder leicht positiv. Wenn man nun den deutschen Handelsüberschuss als Ausgleich für exportschwache EU-Länder sieht, die von Deutschland aber mit finanziert werden, wird erst ein Schuh daraus: Ohne die deutsche Wirtschaftskraft wäre die EU noch weit weniger konkurrenzfähig im Ringen um globale ökonomische Erfolge.
Deswegen ist es richtig, die EU durch Skaleneffekte zu stärken, einerseits. Sie aber auch tatsächlich und statistisch mehr als gemeinsamen Wirtschaftsraum hervorzuheben. Würde man das tun, würde man übrigens bemerken, wie dumm die deutsche Schuldenbremse ist. Niemand sonst erlegt sich ein solches Hemmnis auf. Die Frage darf allerdings gestellt werden, wofür die Schulden getätigt werden. In Deutschland wären sie jetzt nötig, um in Zukunft die Rendite zu erzielen, wären als Investitionen auf Kredit, wie in der Wirtschaft üblich. Das würde auch die EU stärken. Für uns sind solcherlei Schulden aber nicht das Gleiche wie die Fütterung von Privilegien und das Perpetuieren von nicht nur staatlicher, sondern auch privater Ineffizienz. Insofern ist der Begriff Reformzwang durchaus nicht nur ein neoliberaler Spin zur Schädigung der Sozialsysteme, sondern im Bereich von Bürokratie, Korruption und Ineffizienz auf allen Wirtschaftsgebieten und allen Entscheidungsstufen ein Faktor, der in den Blick genommen werden müsste, wenn in Europa tatsächlich viele Aspekte der Wirtschaft weiter vereinheitlicht und mit Skaleneffekten die Erfolgsaussichten verbessert werden. Dass Mario Draghi dabei besonders die fragmentierte Verteidigung in den Blick nimmt, liegt derzeit nah, es gilt aber auch für andere Branchen.
Nehmen wir nun an, es käme auf europäischer Ebene zu dem, was wir für Deutschland schon so lange fordern, nämlich zu einer strategischen Wirtschaftspolitik. Wie sollte das Problem gelöst werden, dass Europa, anders als die USA und China, über viele wichtige Rohstoffe nicht verfügt, die am Beginn vieler Lieferketten stehen? Es wird nur durch eine kooperative Politik gegenüber Staaten machbar sein, die sich nicht von China oder den USA komplett dominieren lassen wollen. Europa müsste als Partner die Wahl sein, die nicht Pest oder Cholera heißt. Dies würde aber bedeuten, dass alle künftigen Handelsabkommen auf Gleichheit mit diesen Partnern ausgerichtet sein müssen, in der Folge auch, dass dies die Gewinne in Europa schmälern und den Partnern mehr Raum zur Entwicklung geben müsste. Die riesige Chance darin wäre, dass die Partner in der Folge, ähnlich wie das British Commonwealth, zu einer erweiterten Gemeinschaft zusammenwachsen könnten. Leider verhindert Frankreich mit seiner nach wie vor kolonialistisch und auf Superiorität orientierten Außenpolitik z. B. Afrika gegenüber schon im Ansatz eine solche Entwicklung, und die gegenwärtige, komplett antistrategische deutsche Politik folgt dem ohne Widerstand, als hätte sie keine Kapazitäten, einen eigenen Weg zu entwickeln und ihn in Europa den willigen kleineren und mittleren Staaten als Alternative zum französischen Dominanzgehabe anzubieten. Das wäre langfristig auch für Frankreich selbst eine Befreiung aus einer Position, die vor allem in Afrika unhaltbar geworden ist.
Auch wenn Nützlichkeitserwägungen mitschwingen, ist es auch ethisch notwendig, dass die EU endlich anfängt, eine postkoloniale Politik auf gemeinsamer Basis zu entwickeln, denn Aufbereitungsbedarf diesbezüglich haben mindestens alle Länder, die Kolonien besaßen oder immer noch besitzen, wie das bei Frankreich faktisch mit einigen besonders eng angebundenen Übersee-Territorien der Fall ist. Die EU könnte gegenüber China und den USA einen zivilisatorischen Fortschritt erzielen, der belegt, dass die Europäer am modernsten und kooperativsten denken und damit sowohl dem gemeinsamen ökonomischen Gedeihen mit maßvollem Wachstum, dem Weltklima und dem Frieden einen unschätzbaren Dienst erweisen. Das wäre, historisch betrachtet, der Beginn eines Ausgleichs für das, was europäische Staaten über Jahrhunderte überall auf der Welt und auch untereinander angerichtet haben. Das Friedensprojekt Europa ist genauso wenig vollendet wie die europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), die 1957 als Vor-Vorläuferin der EU in Rom gegründet wurde. Die EGKS (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl) war wiederum die Urzelle für die EWG. Die Rede hat Mario Draghi anlässlich des 70-jährigen Bestehens der EGKS gehalten.
Diesen Themenkomplex lässt Mario Draghi in seiner letztlich europazentrierten Rede aus. Es ist eine Rede, die nationales Handeln zwar erweitert und einen Großraum vor Augen hat, der sich wirtschaftlich weiter vereinheitlichen soll, aber außerhalb dieses Raums werden nur die Konkurrenten in den Blick genommen, die nicht mehr nach den alten Regeln spielen oder es nie getan haben. Es waren Regeln, die vom Westen gesetzt wurden, das dürfen wir dabei nicht vergessen. Deswegen ist es unterschiedlich zu bewerten, ob man sich in China sagt, der Westen wird aufgrund unseres größeren Marktes künftig nach unseren Regeln spielen oder ob die USA ihre eigenen Verbündeten unter Druck setzen und ihre eigenen Vorgaben für das welthandelsrechtliche Geflecht revidieren. Letzteres wird sich als Bumerang erweisen, wenn die USA nicht verstehen, dass sie Europa nicht wirtschaftlich bekriegen dürfen, wenn der Westen insgesamt eine Chance haben will, die Zukunft seinerseits gleichberechtigt mitzugestalten.
Im Grunde nutzt Draghi den Mangel an Erkenntnis in den USA dazu aus, die Vertiefung wieder auf den Weg zu bringen, die vor allem die Regierung Merkel stets etwas gebremst hat. Nicht zu Unrecht, in manchen Punkten, deswegen muss man genau hinschauen, was aus Draghis Aufforderung zu mehr Gemeinsamkeit nun folgen soll. Die gemeinsame Beschaffungsstrategie, das gemeinsame Schuldenportfolio oder segelt das eine sozusagen unauffällig im Kielwasser des anderen? Vor allem müsste aber die Steuer- und Sozialpolitik angepasst werden. Und zwar nicht nach unten, sondern nach oben, und das können einige Länder nicht stemmen, auch manche Euro-Länder nicht. Dass man die rechtlichen Vorgaben anpasst, heißt außerdem lange nicht, dass auch die Wirtschaftsleistung sich anpassen wird. Nicht umsonst gibt es in Deutschland bei einheitlichem Normengefüge auch nach 75 Jahren BRD und 34 Jahren Wiedervereinigung Ausgleichsmechanismen und wirtschaftlich sehr unterschiedlich aufgestellte Regionen, die demgemäß unterschiedlich stark von den Vorteilen des für EU-Verhältnisse großen deutschen Gesamtmarktes profitieren.
Wir waren immer schon Verfechter des Europas der unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Bei jedem Integrationsschritt muss überlegt werden, wie weit ist bei den Teilnehmern wirtschaftliche Kompatibilität und Mentalitätsähnlichkeit vorhanden. Auch wenn wir nun zum dritten Mal Frankreich erwähnen: Die deutsch-französische „Achse“, ein Begriff, den wir ohnehin aus historischen Gründen für problematisch und für zu exklusiv halten, ist in manchen Punkten eher ein Hindernis für die weitere Entwicklung, als dass sie sie vorantreiben würde. Die Enarchen, die in Frankreich das politische Sagen haben, sind ganz auf die Durchsetzung nationaler Vorteile hin geschult, nicht anders als die Eliten in den USA oder in China. Wenn Europa mental einen neuen Weg gehen will, dann darf dieses Denken aber nicht diesen Weg torpedieren und Europa einmal mehr unglaubwürdig wirken lassen, was seine Behandlung weiterer Staaten angeht.
Wir können sogar mit einem pragmatischen Aspekt eines weniger auf Dominanz ausgerichteten Weges aufwarten. Mario Draghi spricht ihn an, aber in einem anderen Kontext: Die zunehmende Fremdenfeindlichkeit in Europa wird es erfordern, die vorhandenen nationalen Ressourcen an Arbeitskräften stärker zu integrieren, sagt er. Eine Revision dieser Tendenz scheint er als Realpolitiker, welcher er als Chef einer immer mehr politischen EZB auch war, nicht in den Blick zu nehmen. Die Zuwanderungszahlen werden hoch bleiben, das sagen wir für die nächsten Jahre voraus.
Langfristig aber könnte der neue europäische Weg dazu führen, dass endlich die Rhetorik von der Bekämpfung der Fluchtursachen vor Ort endlich Realität würde. Mehr Teilhabe für den globalen Süden und besonders für Afrika nebst einer durch europäische Kooperationspolitik leider nicht zu lösenden Nahostfrage könnten dazu führen, dass Europa in Afrika investiert, anstatt dass Menschen, die dort keine Perspektive haben, in immer größerer Zahl hier einwandern. Sei es der wirtschaftliche Notstand, in dem viele Menschen dort immer noch leben, während die Eliten auch in dieser Region immer reicher werden, sei es der Klimawandel, es gibt Möglichkeiten für Europa, sich anders zu präsentieren als bisher. Dann wäre auch eine immer weitere Begrenzung der legalen Zuwanderungsmöglichkeiten nicht mehr notwendig, sofern man sie jetzt als notwendig erachtet.
Eine bessere Ethik ist langfristig oft auch ein pragmatischer Vorteil, das stellt sich in einer Welt, in der eine kleine Anzahl technologisch führender Nationen nicht mehr so dominant auftreten kann, wie die Europäer und Amerikaner das über Jahrhunderte taten, immer mehr heraus, ist auch in der Praxis ein Vorteil für alle.
Dafür wäre der Text, es wenigstens in Europa zu ehrlicher Partnerschaft zu bringen, sehr geeignet. Es gibt in Europa weiterhin einen Kern von Staaten, der vorangehen könnte, dazu zählen auch Mitglieder im Norden, während die Osterweiterung nach der Auflösung der Blöcke die EU bisher aufgrund des Verhaltens einzelner Länder nicht integrativ wirken ließ, sondern auf eine Belastungsprobe stellte, die viel Energie gekostet hat und noch kostet, die für die Neuaufstellung Europas nach außen hin benötigt würde. Einige EU-Länder, besonders, wenn noch große, aber wirtschaftlich schwache Staaten wie die Ukraine hinzukommen dürfen die Modernisierung der EU nicht bremsen, deshalb muss es ein Europa der mehreren Geschwindigkeiten auch innerhalb der EU geben.
Ein Punkt, den Draghis Aufforderung zur EU-Strategie umfasst, wird das besonders deutlich: Weniger Verwaltungsaufwand, koordinierte Subventionen, möglicherweise in großem Umfang, weniger Verwaltungsbürokratie; wir fügen bei, sofern Letzteres nicht auf geringere Umweltstandards hinausgeht. Diese Koordination wird vor allem Ländern nützen, die überhaupt noch eine halbwegs konkurrenzfähige Industrie haben und wird von jenen nicht mitgetragen werden können, die sehr nationalistisch orientiert sind. Zum vierten Mal benennen wir Frankreich, das seine wichtigsten Märkte strategisch komplett abschirmt, gerade die benannte Energiewirtschaft, aber z. B. in Deutschland beim Expandieren offene Türen vorfindet.
Gerade bei der Energiewirtschaft meint Draghi aber vermutlich mit „Dekarboinisierung“ auch das Bestehen auf Atomenergie, und diesbezüglich ticken die beiden „Achsenländer“ bekanntlich sehr unterschiedlich.
Es ist, was wir oben bereits erwähnt haben: Altes Denken beherrscht die neuen nationalen Größenfantasien in China, die offene Proklamation von America First, aber es ist auch in Europa zuhause und behindert damit, kurios oder nicht, die bessere Aufstellung gegenüber den USA und China. Vieles in Europa ist nicht nach Best Practice ausgerichtet, sondern nach Vorstellungen, die einer vergangenen Großmachtposition geschuldet sind. Hier ist es selbstverständlich, dass Mario Draghi keine Nationen benennt, denn er hat immer EZB-Politik sehr stark im Interesse genau jener Nationen gemacht, während Deutschland eher in der Pflicht war, dies mitzutragen, um nicht als Zerstörer der EU dazustehen. Die Verwaltung der Bankenkrise ist ein Beispiel dafür, wie es künftig nicht laufen darf, und wieder: Darum muss Europa sich unterschiedliche Geschwindigkeiten der Reintegration gönnen. Ideologie ist hier ganz fehl am Platz. Was zählt, ist, einen Wettkampfaufzunehmen, in dem man sowieso weit zurückliegt, und, so bitter es klingen mag, dabei muss man erst einmal die Schnellsten in einer Mannschaft zusammengefasst werden. Wenn Deutschlands Politik nicht aufpasst, wird es übrigens nicht mehr dazugehören, und das wäre dann wirklich ein bitteres Ergebnis jahrzehntelanger verfehlter Politik für oder gegen Europa.
Schon heute könnten die skandinavischen Länder, die baltischen Staaten als diejenigen Konversionsnationen, die am weitesten vorgerückt sind, Belgien, die Niederlande, Luxemburg, Österreich, vielleicht sogar die iberischen Länder, eine Reihe guter Gründe finden, warum Deutschland bei den nächsten Integrationsschritten nicht mehr die erste Partnerwahl sein sollte. Es wäre dann in einem Topf mit jenen, die ihm politisch nicht besonders wohlgesonnen sind. Undenkbar? Wieso? Nicht nur die Größe zählt, sondern auch die Fortschrittlichkeit. Deutschland bremst schon jetzt die EU und droht, deren Standards nicht mehr zu heben, sondern zu senken. Daran müssen Länder, die es besser machen, sich nicht orientieren oder es als nivellierend akzeptieren, wenn es um weitere Integrationsmodule geht.
Der Sprung von der „Welt von gestern“, auf die Europas Strukturen gemäß Mario Draghi noch ausgelegt sind direkt in die Welt von morgen ist sehr groß, das schwerfällige Deutschland wird ihn schon jetzt nur mit Mühe schaffen, weil besonders die Rechts-Neoliberalen noch nicht gemerkt haben, woher der Wind weht und sich an etwas Klammern, das vielfach sowieso eher ideologische Schaumschlägerei war als jemals Realität.
Mehrfach erwähnt Mario Draghi einen Bericht, mit dem ihn Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen beauftragt hat und den er der Kommission vorlegen wird. Darin nennt er bestimmte strategische Felder, die vorrangig bearbeitet werden sollen, mithin wird sich die Kommission beim Vorschlag von Integrationsschritten auch auf Draghis Autorität als dem Mann stützen, der als EZB-Chef die EU durch die Finanzkrise geführt hat. Seine Finanzpolitik lässt sich glücklicherweise nicht auf die Wirtschaftsstrategie im weltweiten Wettbewerb übertragen, das weiß er sicher auch selbst.
Sie könnte aber als positives Element beinhalten, mehr und gezielter zu investieren. Auch in den USA stehen Bundesstaaten in Konkurrenz miteinander um Industrieansiedlungen, aber sie fühlen sich eben doch mehr einem gemeinsamen Ganzen zugehörig als die europäischen Staaten, die ebenfalls mindestens gefühlte Benachteiligungen aushalten müssten, wenn es zu einer gebündelten Strategie kommt. Bisher konnte man immer sagen, das Ausland, fair oder nicht, hat es geschafft, Investoren anzuziehen, wir nicht. Warum war das so? Meist wird die eigene Politik adressiert, wenn es um die Fehler geht. Je mehr auf die EU-Ebene verlagert wird, desto mehr wird aber den Europafeinden in die Hände gespielt, wenn nicht alles sorgsam austariert wirkt. Wir hoffen, dass diese Herausforderung gesehen und berücksichtigt wird. Denn anders als bei der Verteilung von EU-Institutionen spielt immer noch die Entscheidung eines Investors die Hauptrolle dabei, wo er ein Werk errichtet.
Und das führt uns nun zu einem Kardinalfehler, den freilich ein Systempolitiker wie Draghi unweigerlich macht: Nur eine supranationale EU-staatliche Koordination, die frei von Lobby-Einflussnahme und doch wieder Dominanz von Stärkeren wäre, kann für mehr Gleichheit sorgen, nicht nur vertikal, also soziale Politik in den einzelnen Staaten betreffend, sondern auch horizontal, die EU-Territorien in den Blick nehmend. Das wird alles andere als einfach werden. Die EU ist weder eine Diktatur wie China, wo die KPCh bestimmt, was wo investiert wird und sie ist kein gewachsener Staat wie die USA. Das wird von Integrationsförderern und -forderern wie Draghi und auch von der Leyen zu leicht außer Acht gelassen.
Die schönste Strategie nützt nichts, wenn die Menschen in den Ländern so wählen, dass sie nicht umgesetzt werden kann, indem sie nationalistische Bremserparteien bevorzugen. Deshalb, und darauf hätte Draghi gerade vor dem Publikum, vor dem er gesprochen hat, viel ausführlicher eingehen müssen: Die Sicherung der Sozialsysteme in den einzelnen Ländern mindestens auf aktuellem Niveau ist die Grundvoraussetzung dafür, dass unfallfrei und mehr strategisch weiter integriert werden kann.
Wir haben über Jahrzehnte beobachtet und erlitten, wie in Deutschland keine strategische Wirtschaftspolitik auf den Weg gebracht wurde, wir haben daher ein Gefühl dafür, wie viel Vertrauen innerhalb der EU notwendig wäre, um sie auf dieser höheren Ebene umzusetzen. Natürlich, man kann die nationale Ebene gleich überspringen, in Deutschland herrschte ja das angesprochene Vakuum. Aber Deutschland würde dann auch zu den Profiteuren der EU-Strategie zählen, weil es ein Plus erhält gegenüber seiner bisherigen Politik. Zum fünften Mal müssen wir leider auf Frankreich eingehen: Dort sieht man das schon deshalb anders, weil man ja eine Strategie hatte. Sie ging nicht immer auf und war in Relation zur Größe des Landes überdehnt, aber sie wurde gelehrt und soweit möglich umgesetzt, auch zulasten Deutschlands natürlich, wie die vielen Eingriffe Frankreichs in die deutsche Wirtschaft belegen, die sich letztlich für keine Seite rechneten, dem französischen Staat und den von ihm enger als bei uns geführten Privaten aber den einen oder anderen Franc oder Euro wert waren, um den Wettbewerb „einzuhegen“.
Ein weiteres Problem ist, dass die EU im Zuge der vorgeblich so progressiven Strategie der Vereinheitlichung in Wirklichkeit versucht, selbst altes Denken weiter durchzusetzen. Öffentliche Gemeinschaftsinvestitionen ja, aber auch Rekommunalisierung oder Renationalisierung oder gemeinsam von den Staaten der EU betriebene Unternehmungen – oder doch lieber umgekehrt, obwohl sich die maßlose Privatisierung, die von der EU gefördert wurde, vielfach als Falle erwiesen hat? Es ist nicht gesagt, dass die stark staats- und staatseinflusslastige chinesische Wirtschaft am Ende wirklich effizienter sein wird, es gibt einige Anzeichen, die schon jetzt dagegen sprechen, dass es immer so weiterlaufen kann, aber gerade in Deutschland müsste zu einer sinnvollen Strategie für die Zukunft auch zählen, alle Elemente der direkten Daseinvorsorge vom Gewinnerzielungszwang zu befreien und somit günstiger, respektive oder additional qualitativ hochwertiger anbieten zu können.
Ein Beispiel:
Der größte Teil der Investitionslücke muss jedoch durch private Investitionen geschlossen werden. Die EU verfügt über sehr hohe private Ersparnisse, die jedoch größtenteils in die Einlagen der Banken fließen und das Wachstum nicht in dem Maße finanzieren, wie sie es auf einem größeren Kapitalmarkt könnten. Aus diesem Grund ist die Weiterentwicklung der Kapitalmarktunion ein unverzichtbarer Bestandteil der allgemeinen Strategie für Wettbewerbsfähigkeit.
Die Kapitalmarktunion war immer schon ein Lieblingsprojekt des Bankers Mario Draghi, der, daran dürfen wir immer wieder einmal gerne erinnern, in der US-Investmentbank Goldman Sachs tätig war. Das muss nicht heißen, dass er mit seiner Rede in Wirklichkeit US-Interessen vertritt, mit solchen linearen Spins sind z. B. Verschwörungstheoretiker viel zu schnell bei der Hand. Es heißt aber, dass er ein klassischer Neoliberaler ist, der auf dem Weg der neuen Europa-Strategie dem Kapital weitere Akkumulationsmöglichkeiten will.
Seine Niedrigzinspolitik hat die Reichen in Europa viel reicher gemacht und kleine Sparer, die keine Spekulations-Experten sind, allein in Deutschland mehr als eine halbe Billion Euro Realwert gekostet. Die Vermögensschere ist während der 2010er Jahre ständig gewachsen.
Wir sehen in diesem Fall den Vorteil nicht, denn selbstverständlich kann ein gemeinsames Projekt von mehreren nationalen Banken finanziert werden. Viele Investionen werden von Instituten unterstützt, die nicht dort angesiedelt sind, wo das Unternehmen seinen Sitz hat oder überwiegend tätig ist. Das sieht man auch daran, welche Bank Emissionen von Unternehmen an den Kapitalmärkten federführend leitet. Das Problem ist das risikoscheue Denken vieler Europäer, Banken, aber auch staatliche Förderagenturen und private Anleger sind zu konservativ. Die Deutsche Bank war einst groß genug, um alleine die wichtigsten Investitionen aller deutschen Startups anschieben zu können, hat es aber nicht im möglichen Maße gemacht, sondern sich lieber beim Zocken verspekuliert. In der Folge kam es dazu, dass Mario Draghi „Whatever it takes“ sagen musste, was nur eine Notenbank tun kann. Vereinfacht ausgedrückt, das versteht sich von selbst.
Da Draghi den Auftrag der EZB also faktisch um die Staats- und Unternehmensfinanzierung erweitert hat, ist doch das Instrument, echte europäische Champions mit viel Geld heranzuzüchten, schon vorhanden. Die EZB kann außerdem sehr wohl auch private Konsortien zusammenführen und anleiten, es muss nicht alles auf Micro-Crowdfunding-Basis ablaufen. Sie kann auch Risiken eingehen und Verluste verschmerzen, sie kann, ohne selbst in Not geraten zu können, andere Banken absichern.
Freilich wäre auch dazu eine extensive Geldpolitik vonnöten. Sie würde dann aber nicht in Deutschland noch einmal sinnlos in erzkonservative Branchen zum Nachteil der Kaufkraft der Mehrheit führen, sondern die technologische Zukunft Europas gestalten. Damit hätte Frankfurt doch eine positive und progressive Funktion: Die EZB als Koordinationsstelle für die ganz großen strategischen Aufgaben zu beherbergen, die auch die Geduld aufbringen kann, Investments langsam, aber nachhaltig in die Gewinnzone zu führen, sofern diese angestrebt ist, siehe öffentliche Dienstleister. Wir haben diese Verstaatlichung, für die die EZB selbstverständlich ebenfalls Mittel bereitstellen könnte, aber aus guten Gründen nur im Bereich der Daseinsvorsorge als „Best Practice“ identifiziert.
Damit würde die EZB zu einer großen Geschäftsbank, mit dem Unterschied, dass sie keine Privatkunden hat, die sowieso ihr Geld gemäß Draghi immer nur sammeln. Ist sie das nicht schon längst? Man sollte es vielleicht institutionalisieren. Über die vorhandene EIB hinaus, die viel älter ist als die EZB, die aber in Luxemburg als einer Stelle, die eher für den Abfluss als für den Zufluss von Investitionskapital sorgt, falsch angesiedelt ist. Daran können wir testen, wie ernst gemeint und wie ausgerichtet eine Kapitalunion sein würde: Holt die Investitionen dorthin, wo sie hingehören, zur EZB und in ein Land, in dem es investitionsrelevante Unternehmen gibt und hoffentlich künftig verstärkt geben wird.
Letztlich würde dies aber die Gründung überstaatlicher Staatsunternehmen bedeuten, an denen also mehrere Staaten aufgrund der Skaleneffekte gemeinsam beteiligt sein müssten. In der Privatwirtschaft ist das ganz und gar üblich, aber auf Staatsebene fällt uns derzeit zum Beispiel kein Versorgungsunternehmen ein, das gleichberechtigt mit den Versorgern anderer Staaten verbunden ist, ein Gegenbeispiel ist die Bundesnetzagentur. Sie hat keinen ausländischen Partner, mit dem zusammen sie Größenvorteile erzielen könnte. Die Logik wäre, Anteile an Gemeinschaftsagenturen nach der Größenordnung der Umsätze zu bestimmen, aber dann würden sich kleinere Länder wieder majorisiert fühlen, ähnlich wie bei den Sitzen im EU-Parlament.
Es gibt nur ein Unternehmen, das in etwa, nicht vollständig als Vorbild im größeren Maßstab gelten könnte: Airbus. Es funktioniert, wie die Tatsache zeigt, dass damit ein Weltmarktführer entstanden ist. Es funktioniert, wenn man viel Geld in die Hand nimmt und an einem Strang zieht. Natürlich musste der Sitz in Frankreich sein, anders hätten die Franzosen es nicht getan. In der Folge wird Airbus vielfach als „überwiegend frankreichbasiert“ wahrgenommen, obwohl die französischen und deutschen Anteile daran gleich groß und weitere Länder beteiligt sind. Doch immerhin ist es ein Beispiel dafür, was die Europäer können, wenn sie sich zusammentun. Schade, dass es keine weiteren dieser Beispiele in relevanter Größenordnung zu vermelden gibt. Vielleicht die Europäische Raumfahrtagentur, aber diese ist doch, wenn es um Großprojekte geht, recht stark von der amerikanischen NASA abhängig, die Eigenständigkeit und Relevanz sinken sogar wieder, besonders, seit auch Private anfangen, im Wettbewerb um Raumfahrtechnologie mitzuwirken. Man sieht also, wie viel Zeit schon verstrichen ist, ohne dass weitere strategische Unternehmungen von Weltrang in die Märkte eintraten, die auf dem Willen der europäischen Staaten zur vereinten Kraftanstrengung fußen.
Was Mario Draghi fordert, bedingt eine gewaltige Kraft zum Schöpfen, zum Vertrauen, zur Gemeinsamkeit. Wenn man Airbus erwähnt, hat nämlich die Schattenseite gleich ungenannt mitgemeint: Es ist in den letzten Jahrzehnten, weder privat noch staatlich, ein europäisches Weltmarktführungsunternehmen im Bereich moderner Technologien entstand. Ob Soft- oder Hardware, ob Technologien, die auf Mobilfunk oder dem Internet basieren, überall dominieren Asiaten und Amerikaner. Die Branchen, in denen Europa einigermaßen mithalten kann, sind vergleichsweise uralt, während neue, wie die Solar- und Windenergie, von einer antistrategischen, aber sehr lobbyorientierten Politik geradezu torpediert wurden. Die Ampel muss das jetzt übrigens richten, deswegen verkneifen wir uns hier auch Einlassungen zu den jüngsten Fehlern.
Die Schwäche, Innovationen in großem Stil marktreif zu machen, ist in Europa viel älter, sie besteht im Grunde seit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Kein europäisches Unternehmen, das ab diesem Zeitraum gegründet wurde, ist ein Weltmarktführer. Zumindest gilt dies für die großen Konzerne, einige jüngere „Hidden Champions“ gibt es, aber auch sie werden leiden, wenn die Wettbewerber aus Asien und den USA deren Technologieführerschaft brechen können. Diese Gefahr besteht jederzeit, weil Basistechnologien zu selten aus Europa kommen.
Das Interessante auch an Akteuren wie Mario Draghi ist, dass immer wieder Brüche erkennbar werden im grundsätzlich marktliberal ausgerichteten Konzept einer fortschreitenden Wirtschaftsordnung. Wenn es um die Ressourcenbeschaffung geht, sollen nämlich die Staaten für die Privaten in die Bresche springen, die offenbar als für zu klein, zu wenig systemrelevant im Weltmaßstab, angesehen werden, und, das ist ganz wichtig, er verweist auf die USA und wir können dadurch auf die Brüche im System verweisen: Solche Aufgaben werden dort nämlich in der Tat mehr staatlich koordiniert als in Europa, im Land der vorgeblich freien Möglichkeiten. Das heißt in den USA natürlich, der Staat muss sich ständig dafür von sehr vielen im Land beschimpfen lassen, dass er ein Dienstleister für die Privatwirtschaft ist, ohne den diese nicht so viele Wettbewerbsvorteile hätte. Das gilt auch für Subventionen, übrigens. Der freie Markt ist in den USA in Teilen eine Fassade, die von europäischen Neoliberalen gerne so dargestellt wird, als stünde tatäschlich die gesamte gegebene Ordnung der Wirtschaft als Bau dahinter. Die Fassade glänzt nur durch massive Staatsinvestitionen, und dafür werden die Schulden gewaltig in die Höhe getrieben.
Am anderen Ende Deutschland, wie wir wissen. Keine Schulden, kein Wachstum. Und damit zu einem weiteren Problem, das Darghi sehr wohl kennt, aber nicht anspricht: Wie weit soll letztlich die Wettbewerbsfähigkeit schuldenbasiert sein oder ist es doch notwendig, auch um den Verlust von Weltmarktanteilen, mehr auf Protektionismus zu setzen, um die Spirale zu begrenzen. Grundsätzlich, das haben wir geschrieben, sind wir dafür, Zukunftsinvestitionen in innovationsmageren Zeiten wie diesen durch Kredite anzuschieben. Aber was, wenn sich die Welt weiterhin ein tödliches Rennen liefert, das im Bermuda-Dreieck des Kapitalismus enden wird, wenn es so weiterläuft:
Ein weiteres sozusagen Teilrennen hat Draghi nämlich ebenfalls nicht erwähnt. Die Steuersysteme. Eine Kapitalunion ohne Steuerunion kann nach unserer Ansicht nicht funktionieren, und worauf sollte eine solche Steuerunion basieren? Darauf, dass die Reichen immer weniger zahlen und die einfachen Menschen immer mehr Steuern, wie in Deutschland, wie in Frankreich, hier ist man sich also einig?
Oder auf dem skandinavischen Modell des Ausgleichs, das in Europa trotz seiner vielen Vorteile aber nicht mehrheitsfähig ist, weil große Volkswirtschaften wie die Deutschlands und Frankreichs eher von kleinen, mächtigen Lobbys als von der Bevölkerung gestaltet werden? In Deutschland sogar noch mehr, weil hier das Gegengewicht einer strategischen, im Ernstfall zu staatlichen Eingriffen bereiten Wirtschaftspolitik vollkommen fehlt.
Immer mehr Investionen, von denen letztlich nur das Kapital profitiert, immer mehr Schulden und für die Profiteure davon immer weniger Steuern. Das ist eine beinahe weltweite Tendenz, und wenn die EU zu deren Bremsung nicht eine Meta-Strategie hat, dann nützen die Einzelstrategien der Mehrheit der Menschen in den EU-Ländern wenig und dann wird die EU weiter in Misskredit geraten, weil sie Schulden macht, ohne dass wir alle wenigstens ein bisschen etwas davon habe. So, wie es eben seit einigen Jahren läuft.
Das heißt auch, dass Mario Draghi in Wirklichkeit, wenn er „Die EU“ meint, das Kapital der EU meint, das zugunsten von privaten Investoren auch durch den Staat erhöht werden soll. Mindestens in der zweiten Instanz, nachdem die Staaten oder die EU schön strategisch gehandelt und günstige Voraussetzungen geschaffen haben, wie etwa billige Energie, gesicherte Rohstoffe zu Preisen, die vermutlich wieder keinen fairen Umgang mit den Produzenten gewährleisten können und alles dies – dann werden diejenigen davon profitieren, deren Unternehmen davon profitieren. Nur jedoch, wenn dies zu vielen hochwertigen Arbeitsplätzen, mehr kooperativer Wirtschaftspolitik nicht nur international, sondern auch in der EU selbst, innerhalb der einzelnen Staaten und mit allen beteiligten Akteuren führen sollte, insbesondere mit jenen, die die tatsächliche Arbeit leisten, wäre dies ein Deal. Ein Deal, der eine Strategie in Praxis und Ethik nachhaltig fundieren würde.
Wenn also Draghi in seiner Rede die Sozialpartner adressiert, dann sind vor allem die Unternehmen gefragt: Mehr Weiterbildung, bessere Bezahlung, faire Behandlung der Arbeitenden. Und mehr Mitwirkung. Wenn Draghi das alles meint, dann ist es in Ordnung. Ansonsten geht es nicht um die Mehrheit der Menschen, sondern nur darum, wie sich das europäische Kapital Vorteile vor dem Kapital anderer Wirtschaftsblöcke aufgrund einer gemeinsamen EU-Strategie sichern kann. Es ist schon schwierig genug, die Interessen der EU-Arbetenden über die anderer Blöcke zu stellen, deswegen auch unsere Aufforderung zu mehr Kooperation aus pragmatischen und ethischen Gründen mit den noch „Blockfreien“. Aber natürlich kann man nicht, wenn die Regierungen anderer Staaten die EU-Ökonomien zerstören wollen, dem tatenlos zusehen. Es ist ohnehin alles auf Verteidigung, nicht auf Expansion ausgerichtet, denn die EU verliert seit vielen Jahren Weltmarktanteile in der weitüberwiegenden Mehrzahl der Branchen. Ausnahme: Airbus, wiederum, besonders gut nachvollziehbar, weil es ab einer gewissen Größenklasse von Flugzeugen weltweit nur zwei Hersteller gibt. Noch. Auch das wird sich ändern. Auch da werden neue Herausforderungen auf die EU zukommen und es ist ein klassisches Beispiel, warum die EU auf jeden Fall etwas tun muss: China ist groß genug, um eine solche Industrie alleine zu entwickeln bzw. sich die Technologie aus dem Westen anliefern zu lassen, sie zu analysieren und zu kopieren. Die EU ist auch groß genug, aber nur als Ganzes und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Riesenmärkte wie der chinesische irgendwann für EU-Produkte dicht sein könnten.
Wir werden selbst mit einer wie auch immer ausgerichteten Strategie eine quantitative Schrumpfung sehen, die nur schwer vom Wachstum in bisher kleinen Ökonomien aufgefangen werden kann. Deswegen kleben ja Unternehmen so am chinesischen Markt, auch wenn die Konditionen, unter denen man dort arbeiten darf, langfristig toxisch sind. Aber so ticken private Unternehmen, die nicht strategisch koordiniert und eingehegt werden.
Was muss also ebenfalls ein Ziel jeder EU-Strategie sein? Diesen Schrumpfungsprozess so zu organisieren, dass er nicht zu massiven Wohlstandsverlusten bei der ohnehin gebeutelten Normalbevölkerung führt, während das Kapital keine EU-Strategie kennt, sondern nur seine eigene, die weltweite Akkumulation, die ihm im gegebenen System immer möglich sein wird und die ohnehin ein Fragezeichen hinter jede politische Strategie setzt, gerade dann, wenn auch eine Kapitalmarktunion neoliberal ausgerichtet ist.
Dies wiederum kann nur eines bedeuten. Qualität, Qualität, Qualität. Nachhaltigkeit, Nachhaltigkeit, Nachhaltigkeit. Zurück den Wurzeln und nach vorne zu ökologischer Gerechtigkeit.
Die EU muss nicht nur die Frage beantworten, wie sie enger zusammenarbeiten will, um globale Herausforderungen bestehen zu können, ohne daran zu zerbrechen. Sie muss und kann auch entscheiden, welchen Weg sie dabei gehen will. Selten in den letzten Jahrzehnten war die Chance so günstig, die EU nachhaliger, sozialer und gerechter zu gestalten, die Demokratien wieder sicherer zu machen und damit auch für ökonomisch stürmische Zeiten besser gerüstet zu sein. Wird man diese Chance ergreifen? Wir wissen nicht, was in Draghis Report an die Kommission steht oder stehen wird, aber in der Rede zur Strategie fehlen wichtige Aspekte einer zukunftsträchtigen Ausrichtung der EU, die gerade in einer Rede vor „Sozialpartnern“ hätten enthalten sein müssen. Dafür sind Vorschläge enthalten, die wir schon kennen, die jetzt offenbar als im Trubel der Zeiten besser durchsetzbar erachtet werden, deren Mehrwert für die Menschen sich aber nicht erschließt.
Die EU muss ernsthaft über vieles nachdenken. Zuvorderst aber darauf, ob sie sich als eine Gemeinschaft von Staaten definieren will, die endlich eine Vorbildrolle in der Welt einnehmen kann, durch gute Außenpolitik, durch die Sicherung von sozialen, ethischen und ökologischen Standards auf dem höchsten derzeit möglichen Niveau und unter Abschöpfung von mehr Kapital als bisher, anstatt nur mehr Schulden zu machen.
Wer investiert, und wenn es der Staat ist, muss auch einen Return dafür sehen. Das ist wirkliche Marktwirtschaft. Wer eine Wirtschaft nachhaltig organisieren will, muss die Menschen im Wirtschaftsraum so stellen, dass sie nachhaltig und regional konsumieren können, auch wenn es etwas teurer ist als Billigprodukte von weiter weg.
Auf dem Gebiet ist die EU grundsätzlich wegen ihrer Vielfalt unschlagbar. Sie muss endlich auch den kulturellen Reichtum ihrer Mitgliedsstaaten richtig einsetzen, um mehr Lebensqualität zu generieren. Das trifft besonders auf Deutschland zu. Letztlich wird jede Strategie daran gemessen werden, von uns, von vielen Wähler:innen, die darüber abzustimmen haben, ob die EU für sie einen Erfolg darstellt: Wie wirkt sich die Gemeinsamkeit auf die individuelle Lebensqualität aus? Da gibt es einiges zu tun, gerade in Deutschland. Dabei könnte die EU helfen, aber die Lage durch ihre Entscheidungen und Vorgaben auch weiter verschärfen. Es kommt auf die Qualität der Strategie im Sinne der Menschen an. Sicher hat Mario Draghi als EZB-Präsident den Menschen in einigen Staaten auch geholfen, weil er ein akutes Auseinanderfallen des Euroraums verhindert hat. Man kann auch sagen, erh hat ihnen, ihren Regierungen, kurzfristig Unnanehmlichkeiten erspart. Für das eine oder andere Land wäre ein Ausstieg aus dem System mit (abermaligem) Schulden-Cut besser gewesen als das Weiterwurschteln, denn an eine Rückführung von Schulden im Euro-System ist derzeit gar nicht zu denken. Diese Probleme wiederum belasten die wirtschaftlichen Möglichkeiten der EU insgesamt. Überschlägig und langfristig hat vor allem das Kapital von der EZB-Politik vieler Jahre profitiert, nicht der „Normalbürger“. Auf der nochmaligen Verstärkung dieses Trends darf eine gemeinsame Wirtschaftsstrategie nicht mehr aufgebaut sein. An einer Stelle wirkt es, als habe Draghi das eingesehen. Stimmt das aber, wenn er sich dabei nur auf die Lohnpolitik in einzelnen Staaten und nicht auf die Geldpolitik der EZB und nicht auf die Steuerpolitik bezieht? Entscheiden Sie selbst, vergleichen Sie seine Rede mit unserem Kommentar.
TH
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