Briefing 515 PPP, SPD, Olaf Scholz, Boris Pistorius, Gerhard Schröder, Parteigeschichte, Arbeiterinteressen, Arbeitende, Geschichte der BRD
Haben Sie auch oder gerade am 1. Mai ein wenig Lust auf Politik? Sie wissen, wir haben einen Kanzler, welcher der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands angehört. Da bietet sich am Tag der Arbeit die Frage an, ob die SPD die Interessen der Arbeitenden (hinreichend) vertritt.
Der Begleittext aus dem Civey-Newsletter:
Die SPD ist die älteste und traditionsreichste Partei Deutschlands. Sie wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Milieu- oder Klassenpartei der Arbeiterschaft gegründet. Mit Olaf Scholz (SPD) stellt die Partei derzeit zum vierten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik einen Bundeskanzler. Laut Grundsatzprogramm sieht sich die SPD nach wie vor als linke Volkspartei mit Wurzeln in der Arbeiterbewegung. In der Vergangenheit hatte die SPD sowohl unter Arbeitern und Arbeiterinnen als auch im liberalen Bildungsbürgertum großen Rückhalt.
Politische Beobachter:innen sehen die SPD heutzutage in diesen Wählergruppen geschwächt. Redakteur Moritz Maier von der Augsburger Allgemeinen glaubt, dass die SPD einen Teil ihrer Wählerschaft an die AfD und an Sahra Wagenknecht verloren habe, da die Sozialdemokraten nicht immer in der Lage seien, die gegenwärtigen Sorgen und „Abstiegsängste einzufangen”. Dass die SPD aktuell einerseits das Ziel der Klimaneutralität so stark betont und andererseits sozial gerechte Klimaschutzmaßnahmen anmahnt, könnten einige als Herausforderung, andere als Widerspruch betrachten.
Im letzten Bundestagswahlprogramm von 2021 gab es diverse Punkte, mit denen die SPD sich wieder als Arbeiterpartei positionieren wollte. Der Fokus lag etwa auf Vollbeschäftigung, bezahlbares Wohnen sowie die Überwindung der wachsenden Ungleichheit und Altersarmut. In der aktuellen Legislaturperiode setzte sich die SPD für einen höheren Mindestlohn und gegen eine Erhöhung des Renteneintrittsalters ein. Die SPD fordert eine Vermögenssteuer und eine Einkommensteuerreform, um kleine und mittlere Einkommen zu entlasten. Beide Ziele konnte sie aber bisher nicht umsetzen.
Sahra Wagenknechts BSW ist ja nun ein ganz neues Phänomen, die SPD war auch vor dem Entstehen der AfD schon schwindsüchtig. Trotzdem gibt es diese neuen Mitbewerber natürlich, die behaupten, die besseren Arbeiterinteressen-Vertreter zu sein.
Der dritte der vier erwähnten SPD-Kanzler hieß Gerhard Schröder und hat die Interessen der Arbeitenden mit voller Absicht missachtet. Davon hat die SPD sich nie mehr erholt und aktuell kann sie nichts von dem einhalten, was sie bei der Wahl 2021 versprochen hat. Es gibt keinen günstigen Wohnraum, ganz im Gegenteil. Die weitere Erhöhung des Renteneintrittsalters wird kommen, da sind wir ziemlich sicher. Der höhere Mindestlohn wurde von einer hohen Inflation aufgefressen.
Von der Vermögensteuer sind wir so weit weg wie die Erde vom Mond und wir können uns nicht vorstellen, dass Bankenfreund Scholz wirklich hinter dieser notwendigen, aber von kapitalhörigen Parteien nicht gewünschten Vermögensteuer steht.
Im Grunde müsste es in Deutschland längst eine linke Partei geben, die der SPD den Rang abgelaufen hat. So, wie einst sich die USPD von der SPD abspaltete und zur KPD wurde, weil die SPD zu nationalistisch und kapitaldienlich war. Gibt es aber nicht. Das hat auch damit zu tun, dass die BRD eine andere Geschichte hat als Deutschland am Abend des Ersten Weltkriegs. Die Wählerschaft ist eine andere als noch vor wenigen Jahrzehnten und bedürfte einer anderen Ansprache. Die SPD wird als altmodisch und visionslos wahrgenommen. Sie hat keine Idee, wie sich Krisenmanagement nach außen als Beginn einer neuen Ära, als Aufbruch verkaufen lässt. Möglich wäre das sehr wohl, es entspricht aber nicht dem Charakter des Kanzlers.
Olaf Scholz wurde nur Kanzler, weil die CDU im Wahlkampf 2021 extrem geschwächelt hat, das darf man nicht vergessen. Dadurch lag die SPD noch einmal knapp vorne. Es hatte sich während der Regentschaft Angela Merkels nie abgezeichnet, dass es noch einmal so kommen könnte, nachdem Merkel gegen Schröder im Jahr 2005 knapp gewonnen hatte. Die SPD war immer hoffnungslos abgeschlagen, und so sieht es in Umfragen jetzt wieder aus.
Man kann das nicht nur der mangelnden Vertretung der Arbeitenden zuschreiben, der gesamte Zeitgeist ist sehr konservativ, um es vorsichtig auszudrücken. Das war schon in den 1950ern so, wenn auch aus anderen Gründen. Auch damals hatte die SPD keine Chance, die Union zu überholen. Damals waren die Menschen mit dem Erfolg der konservativen Politik überwiegend zufrieden. Jetzt haben sie Angst vor jedem Schritt nach vorne und wollen krampfhaft bewahren, was sie sich mühsam erwirtschaftet haben.
Ausgerechnet in dieser Situation muss die SPD eine progressive Klimapolitik ebenso verkaufen wie eine Zeitenwende in der Sicherheitspolitik, ein von der bisherigen Praxis des laisser faire stark abweichende Wirtschaftspolitik, muss auf neue Krisen reagieren und zwei Koalitionspartner befrieden, die nicht miteinander können, die Grünen und die FDP. Scholz wäre ein praktikabler Kanzler für ruhige Zeiten, wie sie etwa nach der Bankenkrise, in den 2010ern, gegeben waren. Aber wir haben keine ruhigen Zeiten. Dass in den ruhigen Zeiten viel zu wenig für die Zukunft getan wurde, lässt die Zeiten jetzt noch unruhiger werden.
Scholz wirkt in dieser Situation nicht ruhig, sondern stur, und dann muss er doch immer wieder Korrekturen an seiner Politik vornehmen. Alle diese Korrekturen werden den Arbeitenden nicht viel bringen, denn es geht um andere Belange, die nichts mit ihren Interessen zu tun haben. Besser geschrieben: auf den ersten Blick nicht. Wenn man genauer hinschaut, bemerkt man, es hängt wieder einmal alles zusammen. Aber das macht es nicht besser. Im Gegenteil, die Sorgenfalten vermehren sich, wenn man sieht, wie verstrickt deutsche Politik ist und dass Kanzler Scholz nicht erkennen lässt, dass er dagegen ein Konzept hat.
Die vermutlich kurze Kanzlerschaft von Olaf Scholz wird als die bisher am wenigsten gelungene in die Geschichte der BRD eingehen. Ganz gerecht ist das nicht, weil seit Jahrzehnten am Abstieg des Landes politisch gearbeitet wird, aber die schlechten Voraussetzungen, mit denen Scholz gestartet ist, müssten offen kommuniziert werden, ohne dass es nach Jammern und Schuldverschiebung aussieht.
Man kann aber mit der Adressierung des Kanzlers nicht die gesamte Misere der SPD beschreiben. Sie hat sich, wie die Gewerkschaften, nicht auf die Veränderung der Milieus in Deutschland einstellen können. Das liberale Bildungsbürgertum ist zwar auch durch SPD-Politik erst dazu geworden, soweit es aus dem Bildungsaufstieg der 1970er resultiert, aber es wählt eher grün und hat sich von seinen oftmals aus der Arbeiterschaft stammenden Wurzeln distanziert. Ähnlich wie Kanzler Schröder gegenüber seiner Herkunftsklasse ist es heute mit am meisten snobistisch, was die Belange von Menschen angeht, die nicht diese günstigen Aufstiegsvoraussetzungen hatten.
Dieses „Juste Milieu“, wie Wagenknecht es nennt, kann die SPD nach unserer Ansicht nicht mehr zurückholen, weil es sich für soziale Belange nicht interessiert. Die SPD muss es sich antun, wieder von unten anzufangen, und da gibt es genug zu tun. Die Mittelschicht, zu der auch jenes Milieu gehört, schrumpft nämlich, die Armen werden zahlreicher und die SPD müsste nach links rücken, um wieder für die weniger Privilegierten kämpfen zu können. Dass das Industriearbeiter:innenpotenzial immer kleiner wird, darf dabei keine Rolle spielen, es gibt genug Menschen im wuchernden Dienstleistungssektor, die dringend Unterstützung durch eine starke politische Kraft bräuchten.
Aber wenn es schon die parlamentarische Linke nicht schafft, diese Menschen anzusprechen, wie soll es dann eine SPD, die nicht mehr als links wahrgenommen wird, können? Es rächt sich jetzt, dass alle Parteien sich mehr oder weniger als Vertreterinnen der Mitte positionieren wollten. Unter Kanzlerin Merkel hat das dazu geführt, dass man SPD und CDU kaum noch unterscheiden konnte, befördert wurde dieser Eindruck durch Koalitionen, die eindeutig von der Union dominiert wurden. Erst in der letzten dieser Koalitionen konnte die SPD kleine eigene Akzente wie die Einführung des Mindestlohnes setzen, der mit die wichtigste soziale Errungenschaft der letzten Jahrzehnte ist. Diese Errungenschaft steht Verschlechterungen in vielen andere Bereichen gegenüber. Von der Infrastruktur bis zu den Renten ist ein Rückgang der Leistungsfähigkeit des Landes zu verzeichnen.
Die einstige Partei des Bildungsaufstiegs hat es zugelassen, dass der Bildungssektor heute ein Notstandsgebiet ist. Sie hat nichts gegen die immer größere Ungleichheit getan bis auf die Durchsetzung des Mindestlohns, der aber lediglich für kurze Zeit die Tendenz zur Ungleichheit etwas abgeschwächt hat. Die SPD tut auch heute nichts gegen die Ungleichheit, im Gegenteil. Kanzler Scholz ist kein linker Politiker, auch nicht im SPD-Spektrum, der ernsthaft Probleme damit hat, dass das Kapital sich an jeder Krise bereichert, während die Arbeitenden bestenfalls auf der Stelle treten. Die meisten befinden sich gefühlt oder tatsächlich eher im ökonomischen Rückwärtsgang.
Man kann der SPD nicht die Schuld an der ruckigen Weltlage geben, die wir gerade sehen, nicht an allem, was in den zwei Jahren seit ihrer Regierungsübernahme passiert ist. Aber es gibt eine andere Verantwortung. Nämlich diejenige für mehr als 20 Jahre Beteiligung an der Regierungspolitik der vergangenen 25 Jahre seit Kanzler Schröder. Nur vier Jahre lang in dieser Epoche, während der CDU-FDP-Koalition von 2009 bis 2013, war die SPD keine Regierungspartei im Bund. In diesem Lichte betrachtet, muss man klar sagen, die SPD hat die Interessen der Arbeitenden nicht vertreten, denn sie hat alles zugelassen, was zu mehr Ungleichheit führt und durch die krisenhafte Zuspitzung der letzten Jahre deutlicher sichtbar wird als zuvor.
Links von der SPD ist eine Menge Raum für Politik. Er wird aber nicht genutzt, weil es keine politische Kraft gibt, die den richtigen Ansatz vermittelt. Gesellschaftspolitisch ist formal schon so viel erreicht, dass die SPD daraus keine Identität mehr schöpfen kann. Also müsste sie den schwierigen Weg gehen, sich den Kapitalinteressen insoweit entgegenzustellen, dass die Arbeitenden wieder einen echten Fortschritt für sich wahrnehmen. Dazu hat die SPD aber nicht die Kraft. Sie vermittelt diesbezüglich keine kämpferische Haltung und wird nicht als mächtige Interessenvertretung wahrgenommen.
Wir schreiben oft, es liegt auch an den Wähler:innen, wenn sie lieber nach recht schielen, als einer wirklich linken Partei ihre Stimmen zu geben. Die Wahrheit ist aber auch: Es gibt keine wählbare linke Partei, die Fortschritt und soziale Gerechtigkeit zusammenführen kann. Die parlamentarische Linke hat sich gerade gespalten und der als gesellschaftspolitisch fortschrittlich geltende Teil wehrt sich zu wenig dagegen, medial und von der Konkurrenz komplett einseitig dargestellt zu werden. Man behauptet schlicht, sie interessiere sich für nichts anderes mehr, dabei ist das falsch. Fast alle ihre Kampagnen rücken soziale Themen in den Mittelpunkt. Da kann die SPD bei weitem nicht mithalten, und was man dort wahrnehmen dürfte, ist auch: Man kann mit sozialen Themen keine Punkte bei der heutigen Wählerschaft machen, wohl hingegen damit, dass man immer weiter nach rechts rückt, wie die Union es tut, um der AfD Wähler:innen abspenstig zu machen. Auf der gesellschaftspolitischen Seite ist hingegen kein Raum für die SPD, weil die Grünen ihn besetzt haben.
Was macht man also, nachdem man fast überall die Diskursführung verloren und viele negative Entwicklungen in der Politik mitzuverantworten hat? Man könnte Politik mehr strategisch denken, beispielsweise. Das ist aber generell kein Merkmal deutscher Parteien, denn es erfordert Ziele und Wege dorthin, die beide klar an die Wähler:innen vermittelt werden. Schon Angela Merkel war nicht der Typ dafür, Scholz ist es noch weniger. Als es darum ging, dass die SPD sich neue Parteivorsitzende zu wählen hatte, waren wir auch nicht für das Team Scholz. Wir hätten damals einer Paarung den Vorzug gegeben, über die wir heute lieber schweigen. Auch, weil wir schlicht zu wenig wussten, mit wem wir es da zu tun haben. Jetzt wissen wir es und wissen, dass die SPD sich mit Politiker:innen belastet, die zu deutlich haben erkennen lassen, dass sie nicht „reliable“ sind. Ein Name muss dabei fallen: Karl Lauterbach. Eine SPD-Ministerin musste in der kurzen Regierungszeit der Ampel schon ausgetauscht werden wegen kompletter Unfähigkeit, mindestens zwei weitere stehen für uns auf einer Liste des dringenden Wechselbedarfs: Nancy Faeser und Klara Geywitz. Wir würden allerdings auch die komplette FDP-Riege und bei zwei von den Grünen geführten Ministerien einen Wechsel vornehmen, wenn wir zu entscheiden hätten, nämlich im Wirtschafts- und im Außenministerium.
Wir glauben, mit dem gegenwärtigen Personal wird Kanzler Scholz seine Ampel nicht über die nächsten Wahlen retten, und jetzt wäre noch Zeit genug, es mit einigen radikalen Veränderungen zu versuchen. Das ist aber nicht die Art von Scholz, ebenso wenig wie eine Roadmap-Kommunikation, und deswegen werden wir im Jahr 2025 einen Rechtsruck im Land bekommen anstatt einer besseren Vertretung für die Arbeitenden und ersten Ansätzen eines Narrativs für die Zukunft. Dann kann die SPD in der Opposition Buße tun, sofern sie nicht den aberwitzigen Fehler begeht, noch einmal als Juniorpartner der CDU Selbstschädigung zu betreiben. Es war ohnehin eine Hypothek, dass die SPD nach 2021 aus der Regierung heraus eine neue Regierung anführte. Sie kann sich nicht glaubwürdig von der früheren Politik absetzen, ebenso wenig wie die Union das kann. Sie müsste eine echte Erneuerung trotz Kontinuität vermitteln, und dafür ist Scholz nicht der Typ.
Sollte man also auch den Kanzler wechseln, um die Ampel zu retten? Der neue Verteidigungsminister Boris Pistorius ist aktuell der beliebteste Politiker, laut Politbarometer. Das ist einem Verteidigungsminister nie zuvor gelungen. Sein Ressort steht derzeit im Fokus, aber seine Topposition ist auch der Tatsache zu verdanken, dass alle anderen so ausnehmend unbeliebt sind. Wir meinen, es würde die Ampel nicht retten, wenn er Scholz schon vor den Wahlen beerben würde. Etwas anderes wäre es, wenn er als Kandidat für 2025 ins Rennen ginge, nachdem er wirklich ein gutes Bundeswehr-Management vorweisen konnte. Der Haken liegt auf der Hand. Es wird nächstes Jahr noch zu früh sein, um die Qualität seiner Arbeit beurteilen zu können. Mit enormen Geldsummen massives Missmanagement im Verteidigungsbereich gerade so zukleistern zu können, falls wenigstens dies gelingen wird, ist für uns noch kein Beweis dafür, dass sich etwas verbessert hat und man dies dem Minister persönlich zurechnen darf.
Auch auf dem Feld steckt die SPD in der Klemme, weil sie unter Druck Erfolge liefern muss, nachdem jahrzehntelang alles schleifen gelassen wurde. Sogar ohne direkte Beteiligung der Sozialdemokraten, die seit 2005 nicht mehr für die Streitkräfte zuständig waren. Sie können jetzt aber dieses Ministerium nicht den Kriegstreibern aus den anderen Koalitionsparteien überlassen, sondern müssen den Druck aushalten. Dabei geraten die Arbeitenden und ihre Interessen wieder einmal in den Hintergrund.
Die SPD hat es nicht leicht, das lässt sich nicht abstreiten. Aber Sie hat es auch selbst zu verantworten, dass es so gekommen ist. Trotzdem ist es möglich, dass wir die Partei nächstes Jahr erstmals wählen werden, um Schlimmeres, nämlich einen Rechtsruck, zu verhindern und unsere Stimme nicht an eine im nächsten Bundestag vermutlich nicht mehr vertretene Linke zu verschenken. Freilich müssen sehr viele Menschen so denken, um den Durchmarsch von rechts abzuwehren – und wo bleibt die Kampagne der SPD, die darauf ausgerichtet ist? Schwierig, von einer Partei eine Erzählung über die Zukunft des Landes zu erwarten, die nicht einmal sich selbst richtig erzählen kann.
TH
Entdecke mehr von DER WAHLBERLINER
Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.

