MusicMania – Eurovision Song Contest
Wir schreiben doch ein Update unseres vorgestrigen ESC-Vorab-Info-und-Meinungsbeitrags. Die Buchmacher (siehe unten im Ausgangsbeitrag) hatten nicht ganz recht, aber fast. Wäre es nur nach dem Publikum gegangen, hätte tatsächlich Kroatien den ESC 2024 gewonnen. Doch aufgrund des Expertenvotings war die Schweiz mit einem großen Vorsprung in die zweite Runde gegangen, in der die Publikumsvotes verkündet wurden. Nach diesen wäre Israel auf Platz 2 bekommen, hatte aber einen Malus aus der Expertenrunde mitgebracht. Hier zunächst das Endergebnis:

Und hier das Zwischenergebnis nach der Jury-Runde:

Kann es sein, dass die Jurys den isralischen Beitrag bewusst „niedergestimmt“ haben? Bei keinem anderen Land hat sich nach dem Publikumsvoting eine so große Verschiebung nach oben ergeben. Wir glauben das nicht. Wir nehmen eher an, dass das Publikum mehr die Begleitumstände gesehen hat, wie die furchtbaren Bedingungen, unter denen die israelische Teilnehmerin Eden Golan antreten musste. In Deutschland hat sie das Publikumsvoting übrigens gewonnen, von der deutschen Jury wurde sie auf Platz 3 gesetzt. Nach der hiesigen Wertung hätte das insgesamt für den Sieg gereicht. Hier das komplette deutsche Voting, Jury und Publikum:
Jury
12 Punkte: Schweden: Marcus & Martinus – „Unforgettable“
10 Punkte: Frankreich: Slimane – „Mon amour“
8 Punkte: Israel: Eden Golan – „Hurricane“
7 Punkte: Armenien: Ladaniva – „Jako“
6 Punkte: Kroatien: Baby Lasagna – „Rim Tim Tagi Dim“
5 Punkte: Schweiz: Nemo – „The Code“
4 Punkte: Ukraine: Alyona Alyona & Jerry Heil – „Teresa & Maria“
3 Punkte: Luxemburg: Tali – „Fighter“
2 Punkte: Italien: Angelina Mango – „La noia“
1 Punkt: Litauen: Silvester Belt – „Luktelk“
Televoter
12 Punkte: Israel: Eden Golan – „Hurricane“
10 Punkte: Kroatien: Baby Lasagna – „Rim Tim Tagi Dim“
8 Punkte: Ukraine: Alyona Alyona & Jerry Heil – „Teresa & Maria“
7 Punkte: Schweiz: Nemo – „The Code“
6 Punkte: Frankreich: Slimane – „Mon amour“
5 Punkte: Griechenland: Marina Satti – „Zari“
4 Punkte: Armenien: Ladaniva – „Jako“
3 Punkte: Italien: Angelina Mango – „La noia“
2 Punkte: Litauen: Silvester Belt – „Luktelk“
1 Punkt: Irland: Bambie Thug – „Doomsday Blue“
Sehr auffallend: 12 Punkte für Schweden von der Jury, null Punkte vom Publikum.
Wir werden uns nicht zur Qualität der einzelnen Beiträge äußern, denn im Rahmen dessen, was er ESC mittlerweile an Vielfalt bietet, ist sowieso alles Geschmacksache. Einige deutsche Moderatoren verstiegen sich zu der Ansicht, dass sie nie wieder einen ESC moderieren werden, falls Kroatien mit diesem Beitrag gewinnt. Da haben wir ja gerade noch Pech gehabt. Wer noch einmal alle Kandidat:innen in Bild und Beschreibung sehen möchte, hier der Link. Hier geht es zum Live-Ticker von gestern Abend. Er endete mit folgendem Fazit:
Deutschland kann aufatmen – endlich mal wieder im Mittelfeld des ESC. Doch die größte Musikshow der Welt läuft alles andere als rund. In der Halle gibt es immer wieder Buhrufe.
Das leicht Schräge, das Deutschland neuerdings wieder pflegt und das mich ein bisschen an das Zwischenhoch der Guildo-Horn-Episode erinnert hat, funktionierte halbwegs, aber mehr bei den Profis als beim Publikum. In den sozialen Netzwerken herrschte ein ziemlicher Furor darüber, dass die Jurys den wahren Siegern der Herzen, des Publikums, vor allem Kroatien, den Sieg geklaut hätten.
Der ESC wird es den Leuten nie recht machen können. Als es nur die Jurys gab, wurde das als zu undemokratisch gefunden und man fand, bestimmte Länder kooperieren zu sehr miteinander, vor allem die Skandinavier. Damals war der ESC noch etwas kleiner. Die Nachwendezeit brachte dann die Demokratisierung hin zum totalen Publikumsvoting und wieder gab es Kritik, weil vor allem die mittelosteuropäischen Länder publikumsweise das taten, was man zuvor den Jurys vorgeworfen hatte. Also hat man auf eine Kombination gesetzt und von allen schlechten Möglichkeiten halten wird diese für die beste.
Ganz ehrlich, wer sich angeschaut hat, was bei diesem ESC abging oder es auch nur nachgelesen hat, der muss verstehen, dass das Publikum nicht weniger „biased“ ist als die Profis, eher im Gegenteil. Es ist hemmungslos subjektiv jenseits der Qualität der Beiträge und stimmt häufig nach nationalen Präferenzen ab und nicht selten geht es dabei auch nationalistisch zu. Die Pro- und Contra-Israel-Kommentare waren dieses Mal der Gipfel des krankhaften Hasses oder der übersteigerten Selbstgefälligkeit und nebenbei blitzte durch, dass die Vox Populi sich sowieso für unfehlbar hält, egal, wie sie tendiert. Nur eine Minderzahl von Beiträgen war generös und dort hieß es zum Beispiel: Mir persönlich hat der Beitrag der Schweiz nicht am besten gefallen, aber Glückwunsch! Nach dem Publikumsvoting wäre Nemos „The Code“ etwa auf Rang fünf eingelaufen.
Das Motto dieses Jahres war „United by Music“. Ob die Veranstalter das ironisch gemeint haben? Jedenfalls stimmte es nie so wenig wie dieses Mal. Russland durfte nicht mitmachen. Zu Recht, meinen wir. Aber bezüglich die Teilnahme Israels gab es eine Diskussion, wegen der Gleichbehandlung kriegführender Länder. Leider macht es der Kommentar auch nicht viel besser, der eine Gegenreaktion zur ARD-Anmorderation zeigt, die quasi Russland und Israel gleichgesetzt haben soll. Auch „die einen greifen an, die anderen verteidigen sich“ ist so kurz gegriffen, dass man Journalistinnen, die beim ESC eingesetzt werden, raten sollte, entweder solche Kommentierung ganz sein zu lassen oder bitte etwas tiefer einzusteigen.
Und damit sind wir bei einem Problem, das der ESC selbst schon lange hat. Er spiegelt nicht die Welt, in der wir leben, sondern eine zuckersüße Scheinwelt. Leider ist der politische Rocksong oder das politische Lied der Liedermacher nicht mehr gerade Mainstream, vermutlich haben die ESC-Macher aber auch enge Vorgaben erstellt, was politisch ausdrückt werden darf. LGBTI*-Community ja, wie man an der Schweiz sieht, Geopolitik lieber nicht, es sei denn, ein Statment wie der Ausschluss Russlands wird lanciert. Das führt aber auch zu einem Riss in der übrigen angeblich so harmonischen ESC-Community, denn nicht alle Länder haben Russland gegenüber die gleiche Einstellung, schon in Deutschland ist sie regional verschieden.
Und ist Israel überhaupt ein europäisches Land? Wir meinen, die Teilnahme am ESC ist generell berechtigt und hat schon zu vielen Siegen und einigen herausragenden Darbieten geführt. Wir meinen auch, Israel ist der EU politisch näher als die Türkei, mit der man nicht mehr weiterverhandeln sollte. Eine EU-Mitgliedschaft Israels steht allerdings auch von dessen Seite aus nicht zur Debatte. Da ist man in gewisser Weise orientiert wie die Schweiz, die beim ESC sehr wohl dabei isst und dabei war, von Beginn an, oder wie Norwegen, das auch kein EU-Mitglied ist. Es soll ja auch ein paneuropäisches Konzept sein, das Musikfestival, läuft immer der politischen Entwicklung etwas voraus, ist inklusiver und will Brücken schlagen. Schön wär’s.
Entweder markiert man diese Show als das verlogene Harmoniekonzept, das sie sein will, oder man geht den Weg, den wir befürworten würden, falls man den ESC nicht lieber ganz abschafft: Ihn realistischer zu machen. Die Konflikte lassen sich eh nicht raushalten, wenn sie derart emotionalisieren wie der Gazakrieg. Auch Schweden hat mittlerweile eine große muslimische Community und Saal war eine ganz andere Stimmung während des israelischen Beitrags, als die Publikumsvotes sie nachher für ganz Europa bzw. die teilnehmenden Länder spiegelten.
Leider hat der ESC auch wieder gezeigt, dass die Menschen nicht klüger werden. Deshalb wurde das Missgeschick mit der zerstörten Trophäe als Glas auch symbolisch gedeutet. Vermutlich wäre Panzerstahl das Material der Wahl in dieser Zeit. Wir laufen ethisch auf beängstigende Weise der Entwicklung unserer technischen Fähigkeiten hinterher, die solche mittlerweile auch bezüglich der Elektronik sehr anspruchsvollen Shows hervorbringt wie den ESC, und die Diskrepanz wird immer größer, da hilft es auch nichts, mit den Tricks moderner Technik negative Aspekte des ESC so gut wie möglich unsichtbar und unhörbar zu machen. Es schallt zu laut aus dem Konfliktraum, den diese Welt darstellt.
Ursprünglich hieß der ESC „Grand Prix Eurovision de la Chanson“ und war, wie die Sprache leicht verrät, ein von Frankreich initiiertes Projekt, das auch die Eurovision beiheimatet. 1956 fand dieser Wettbewerb zum ersten Mal statt, war von Anfang an „biased“ und doch ein Friedensprojekt, wie die gesamte europäische Einigung, die Teilnehmerzahlen waren anfangs übersichtlich und auf das alte Kerneuropa beschränkt, das in dieser neuen, freundlicheren Ordnung des Kontinents vorangehen wollte und noch heut eine vergleichsweise verlässliche politische Zone bildet. Nicht mehr wie früher, weil man immer auch Partei und Mittler und Eigeninteressent im Rahmen der größeren EU ist und manches wirkt in der Nachbetrachtung verklärend. Aber offiziell hat man den Zweiten Weltkrieg auf eine beeindruckend schnelle Weise überwunden und darauf hätte man aufbauen können. Soweit die politische Jury, die Vordenker. Das Publikum war schon damals zwar der Vorteile wegen grundsätzlich pro Europa, aber kochte immer noch sein nationalistisches Süppchen. Eine Zeitlang schien es, als seien die Deutschen mit die einzigen, die ihre allerdings auch besonders harte Lektion gelernt hatten. Auch das war ein Irrtum, wie wir mittlerweile sehen. Außerdem war der paneuropäisch-demokratische Lernprozess im Osten und in allen Ländern, die einst hinter dem eisernen Vorhang lagen, verkürzt. Das merkt man daran, wie rudimentär in den sozialen Netzwerken teilweise gestatet wird. Kommentare aus Deutschland fallen da geradezu auf – wegen ihrer vergleichsweien Dezenz. Da sind wohl überwiegend Freund:innen des Festivals unterwegs.
Im Prinzip wäre es ganz einfach, die Luft etwas rauszulassen: Man lässt die Musiker:innen nicht mehr für Ihre Länder antreten, sondern nur noch für sich selbst. In Sportarten, bei denen das der Fall ist, alles Individual- und keine Teamsportarten, geht es deutlich wengier nationalistisch auch im Publikum zu. Europa muss die Nationen zurückstellen, wenn es aus der aktuellen Krise herauskommen will. Vielleicht wäre es dazu auch notwendig, den Startmodus zu ändern und nicht pro Nation eine:n Teilnehmer:in zu nominieren, sondern sich am Erfolg der Musiker:innen zu orientieren oder welches Verfahren auch immer denkbar wäre, inklusive eines Bonus für junge Talente. Wir sind nicht generell wettbewerbsfeindlich eingestellt, aber die Priorisierung des Nationalen ist in Zeiten des wieder zunehmenden Nationalismus ein Weg, den man langsam mal überdenken sollte. Und warum sollte der ESC langfristig auf Europa beschränkt sein, wenn er doch regional eh schon darüber hinausreicht (nicht nur Israel, sondern auch seine immer weitere Ostausdehnung betreffend)?
Wenn nur Künstler:innen für sich selbst antreten würden, käme auch das Problem der Ausschlüsse nicht zum Tragen. Dass diese Menschen eine Nationalität haben, ist klar, die haben sie im Tennis, beim Golfen, in der Formel 1 auch, aber im Vordergrund stehen die Persönlichkeiten. Wir würden bei Olympia auch die Nationenwertungen abschaffen, sie widersprechen im Prinzip dem olympischen Geist. Wir schreibne das nicht, weil Deutschland da immer scheinbar immer schwächer wird und was beim ESC natürlich keine Rolle spielen sollte: Doping ist auch deshalb nicht totzukriegen, weil bestimmte Staaten es fördern, weil ihre Olympioniken und ihre Medaillen das nationale Prestige erhöhen sollen. Es geht also auch um Wettbewerbsverzerrung.
Aber wie beim ESC geht es angeblich auch um ein Festival der Völker und wären jetzt Olympische Spiele, je nachdem, wo sie ausgetragen werden, käme es auch in ihrem Rahmen zu politischen Demonstrationen. Wir werden sehen, was wir darüber in ein paar Monaten zu schreiben haben werden, denn Frankreich, das Land, aus dem der heutige ESC stammt, ist nicht gerade ein Land, in dem keine politischen Konflikte ausgetragen werden. Wird man rigide sein und alles abwürgen? Der nächste Clash wartet möglicherweise schon, da kann man fast von Glück sagen, dass Israel im Sport noch keine Großmacht ist. Was trotzdem passieren kann, hat München 1972 gezeigt. So etwas darf sich niemals wiederholen. Also müssen die Schutzvorkehrungen enorm sein, so wie jetzt beim ESC, um eine einzige Teilnehmerin vor Schaden zu bewahren.
Für uns ist das, was sich im Moment teilweise zeigt, keine legitime Protestform. Es muss möglich bleiben, ein berechtigtes Anliegen vorzutragen, und es schreibt sich von hier aus auch leicht, zu Gewaltlosigkeit aufzurufen, wo doch die Gewalt oft auch in Verzweiflung begründet ist. Wir haben zum Beispiel im Rahmen unserer Berichterstattung über soziale Proteste den Gewaltbegriff bewusst eng gezogen und ihn wirklich auf körperliche Attacken gegen Menschen beschränkt, die diesen erheblich schaden können. Da ging es aber um das Gegenüberstehen von Staatsmacht und Kapital auf der einen und sozialem Protest auf der anderen Seite, nicht darum, dass eine einzelne Person vor einem wilden Mob geschützt werden muss. So, wie wir alle Angriffe auf Politiker:innen verurteilen, verurteilen wir selbstverständlich auch die Bedrängung, in der eine Künstlerin gebracht wird, weil sie im Namen ihres Landes auftritt. Die Gewalt, die wir auch hierzulande gerade erleben, findet übrigens im Vorfeld der Europawahlen statt. Das waren Zeiten, als den Extremisten die Europawahlen für solche Übergriffe viel zu unwichtig waren und sie generell nicht so niederschwellig zur Gewalt griffen, wie das heutzutage wieder der Fall ist.
Jetzt ist alles wichtig, man kann alles verwenden, um Unfrieden zu stiften, und es geht alles den Bach runter, was die Auseinandersetzungskultur angeht. Aber nach dem Krieg ist ja auch immer vor dem Krieg, vielleicht findet er dieses Mal mehr im Inneren statt, wie schon vor 1933.
Es ist zutiefst besorgniserregend, wie Konflikte sich derzeit festfressen und gegenseitig zu einer immer aggressiveren Stimmung hin verstärken. Es ist müßig, anhand des ESC nun aufzuzeigen, wem das nützt und wie man uns manipulieren will und wir unfähig sind, dies zu erkennen. Deshalb noch ein Satz, der sich auf das oben Geschriebene bezieht: Wieso muss der ESC immer noch so organisiert werden, dass Nationalismen indn Vordergrund gerückt werden können? Denken Sie mal darüber nach. Wenn Sie für Frieden und Fortschritt sind, müssen darüber nicht viel nachdenken, Sie wissen Bescheid.
TH
10.05.2024
Ja, habt ihr denn über nichts Wichtigeres zu schreiben? Oh doch, hätten wir, und zwar haufenweise, man kann kaum drübersteigen. Aber das ist es eben: Einfach mal Abstand nehmen und ganz chillig und in Erwartung des morgigen abermaligen deutschen Desasters kurz über ein Thema schreiben, das angeblich kaum jemanden interessiert, aber es werden eben doch wieder viele zuschauen, wenn es wieder heißen wird: Germany zero points.
Infografik: Wer hat die besten Chancen beim ESC? | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz CC BY-ND 4.0 Deed | Namensnennung-Keine Bearbeitung 4.0 International | Creative Commons erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.
Alle Jahre wieder ESC. Am 11. Mai erreicht die 68. Ausgabe des Eurovision Song Contests ihren Höhepunkt. In diesem Jahr findet der Wettbewerb im schwedischen Malmö statt. Die Chancen auf einen Heimsieg sind allerdings sehr gering. Wie unsere Grafik zeigt, haben die Wettbüros Stand 06. Mai einen Favoriten auf den Sieg, auch wenn dieser im Vergleich zum Vorjahr weniger deutlich ist.
Mit einer Wahrscheinlichkeit von 26 Prozent wird der Kroatische Sänger Baby Lasagna mit dem Beitrag „Rim Tim Tagi Dim“ dieses Jahr den ersten Platz belegen. Das Ergebnis basiert auf einer Auswertung der Durchschnittswettquoten von 17 durch das Portal eurovisionworld.com analysierten Wettportalen. Während Kroatiens Hoffnung auf eingängigen Elektro-Beats liegt, setzen die Schweiz (17 Prozent) und Ukraine (14 Prozent) auf Platz zwei und drei des Rankings auf Popsongs mit Sprechgesangs-Elementen. Das Teilnehmer:innenfeld wird bis zum Finale jedoch noch schrumpfen – in den beiden Halbfinals am 07. und 09. Mai wird entschieden welche der 31 Nationen unter den 26 Mitgliedern der Endrunde sind.
Obwohl die Unterschiede auf den ersten Blick drastisch wirken, lagen die Buchmacher:innen in der Vergangenheit nicht immer richtig. In den sieben Wettbewerben zwischen 2015 und 2023 erreichten drei Mal Teilnehmer:innen mit den zweit- oder dritthöchsten Gewinnwahrscheinlichkeitsquoten den ersten Platz. Deutschland konnte die Veranstaltung seit 1956 zwei Mal gewinnen, 1982 mit Nicoles Beitrag „Ein bisschen Frieden“ und 2010 mit Lena Meyer-Landruts „Satellite“.
Deutschland werden Sie unter den neun Ländern, deren Teilnehmer als favorisiert gelten, natürlich nicht finden. Es hat auch Qualitätsprobleme, natürlich. Die Art, wie in Deutschland ausgewählt wird und wen man hier ins Rennen schicken kann, das ist für ein im europäischen Vergleich doch ziemlich großes Land äußerst dürftig, mittlerweile. Es hat auch damit zu tun, dass Deutschland kaum eine eigene, national gefärbte Musikszene hat, die mainstreamig genug für einen solchen Wettbewerb wäre. Es gibt ganz guter Liedermacher:innen (-bands), aber irgendwie scheint diese Art von Musik nicht mit dem ESC synchronisierbar zu sein.
Ein weiteres Problem ist die Veränderung des Publikumsgeschmacks durch die vielen Neuzugänge beim ESC im Laufe der Jahre. Der Osten ist in vieler Hinsicht sehr kitschlastig, das hat jahrelang auch die Gesamtqualität des ESC negativ beeinflusst. Nun ja, die Zeiten, wo wenigstens Abba noch einen ESC gewonnen haben, damals hieß er noch anders, sind lange her. Bei Deutschland muss es exakt passen, wie 1982, als Art des Vortrags und Inhalt genau im Trend lagen, ein hoher NIedlichfaktor, wie 2010, kann ausnahmsweise auch mal helfen, reicht aber selten alleine aus, um zu gewinnen. Vom Gewinnen reden wir aber gar nicht. Und wir schreiben über etwas, was wir schon seit Jahren auslassen, während wir in Sachen Fußball die Konsequenz gezogen haben, was wir nicht schauen, auch nicht zu thematisieren. Was bedeutet, dass wir gar nicht mehr über Sport schreiben, sondern lieber mal selbst wieder ein bisschen mehr davon machen, obwohl beim „ersten Wahlberliner“ unsere Liveticker Highlights bezüglich der Zugriffszahlen waren. Das war aber auch medial noch eine etwas andere Zeit (2011 bis 2016) und vor allem gab es damals nur wenige Ticker dieser Art über Frauenfußball wie die WM 2011 im eigenen Land.
In Deutschland muss man sich aber auch besonders anstrengen, um beim ESC zu gewinnen, es ist halt auch ein Beliebtheitswettbewerb. Früher waren die Skandinavier im Vorteil, weil sie sich untereinander als Club verstanden (und noch verstehen) und sich gegenseitig meist hohe Punktezahlen gaben. Mittlerweile sind viele Länder in Mittelosteuropa ähnlich drauf, und es gibt mehr Staaten dort als in Skandinavien. Deutschland gehört keiner Gruppe an, hatte lange Zeit mit regelmäßigen Null-Punkte-Ergebnissen aus Österreich und Holland zu kämpfen, egal, wie gut der Beitrag war, und die anderen waren auch nur mäßig freundlich eingestellt.
Es ist, wie es ist, der ESC ist sehr subjektiv, und wir haben sicher irgendwo schon einmal geschrieben, ob es nicht sinnvoll wäre, nicht mehr teilzunehmen. Deutschland ist zwar einer der großen Zahler der Eurovision und seine Musiker:innen müssen deshalb, wie die einiger weiterer größerer Länder, nicht die Halbfinals bestreiten, aber dieser diskussionswürdige Startvortel nützt nichts, wenn man im Finale auf dem letzten Platz landet.
Selbst schuld, bis zu einem gewissen Grad, vielleicht überwiegend. Diese Blöcke kann man nicht durchbrechen, von denen wir geschrieben haben, aber wenn man bei den Votes aus vielen Ländern einigermaßen in der Mitte dabei ist, kann man auch beachtliche Ergebnisse erzielen. Und da kommt dann doch der Geschmack ins Spiel, die Qualität.
Aber auch die Tatsache, dass Deutschland in den letzten Jahren immer unbeliebter wird. Es geht von der Politik aus, die in den 1950ern bis 1970ern doch recht erfolgreich war, vieles von den Lasten der Vergangenheit mildern konnte, als Deutschland auch musikalisch geradezu als cool galt, genau auf dem Feld Schlager, das für den ESC wichtig war, und viele Stars aus anderen Ländern auch in Deutsch sangen, das ist längst die fernere Vergangenheit, manche der besonders erfolgreichen Hits kamen von ihnen. Es ging viel internationaler zu als heute, Westdeutschland hatte eine enorme Zugkraft. Dass heute fast nur noch in Englisch gesungen wird, suggeriert eine Weltläufigkeit, die deutsche Musik selten wirklich noch hat. Es hatte zwar in den ersten Jahrzehnten nie zum Sieg gereicht, auch, weil die Interpret:innen keine Ausländer mit deutschen Texten sein durften oder sollten, aber es waren beachtliche zweite und dritte Plätze zu vermerken. Ab den 1980ern riss die Verbindung zwischen hierzulande hitfähiger Musik, die auch hierzulande gemacht wird und ESC-Bestückung dann ganz ab.
Vielleicht müssten wir mal die hiesige Musikszene etwas mehr untersuchen und die Art, wie die ESC-Beiträge ausgewählt werden, um einen Systemfehler aufzudecken, aber das werden wir sicher nicht an dieser Stelle tun, denn wollten ja ein wenig chillen mit Doomsaying bezüglich der deutschen Präsenz am morgigen Abend, nicht nach den Gründen forschen. Wir wünschen allen viel Erfolg, die es auf jeden Fall besser machen werden.
TH
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