Wehrpflicht wieder einführen? (Umfrage + Kommentar) | Briefing 524 | PPP, Politik, Personen, Geopolitik, Verteidigung

Briefing 524  Gesellschaft, PPP, Geopolitik, Bundeswehr, Wehrpflicht-Wiedereinführung, Gemeinschaftsaufgabe, Boris Pistorius, CDU, FDP

 Eines von vielen Themen, die sich mit den neuen Konfliktlagen und Kriegen der letzten Jahre verbinden, kommen auf eine nachvollziehbare Weise auf den Tisch. Im Fall der Wehrpflicht geht es um die Reaktivierung einer Gemeinschaftsaufgabe, die erst in den 2010ern vom damaligen Verteidigungsminister zu Guttenberg beendet wurde, einem Politiker der CSU. Nun wird die Wiedereinführung der Wehrpflicht diskutiert, dazu hat Civey eine Umfrage erstellt:

Civey-Umfrage: Wie bewerten Sie die Pläne der CDU, die Wehrpflicht schrittweise wieder einzuführen? – Civey

Der Begleittext aus dem aktuellen Newsletter:

Wir werden die Aussetzung der Wehrpflicht schrittweise zurücknehmen und die Wehrpflicht in ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr überführen”. So lautet die Forderung der CDU, die Teil des neuen Grundsatzprogramms „In Freiheit leben – Deutschland sicher in die Zukunft führen“ ist. Es wurde auf dem CDU-Parteitag letzte Woche beschlossen. Aktuell könnte Deutschland sich nicht gegen eine Aggression von außen verteidigen, argumentierte JU-Chef Johannes Winkel laut ARD. Dies sei angesichts der neuen Sicherheitslage ein unhaltbarer Zustand. 

Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) prüft aus ähnlichen Gründen mehrere Modelle, um den Personalmangel in der Bundeswehr zu beheben. Letzten Herbst forderte er bereits einen Mentalitätswechsel in der deutschen Gesellschaft, wonach eine reale Kriegsgefahr ernst genommen werden müsse. Aus diesem Grund wolle er Deutschland „kriegstüchtig” machen, sagte er dem ZDF. Der ARD nach will der Verteidigungsminister über eine mögliche Wiedereinführung der Wehrpflicht bis zum Sommer entscheiden. 

Die zunehmende Militarisierung stößt teils auf Ablehnung. Mit der Wiedereinführung der Wehrpflicht würde man sich wieder einmal gegen den Willen junger Menschen entscheiden, beklagte die Vorsitzende des Deutschen Bundesjugendrings Daniela Broda im MDR. Zwang sei ihr zufolge nicht das richtige Mittel, um Solidarität und Gemeinsinn in den Menschen zu verwurzeln. Auch die FDP lehnt die Wehrpflicht laut Partei-Webseite „als schweren Eingriff in die Freiheit junger Menschen“ ab.

Als diese Umfrage zum letzten Mal gestellt wurde, im November 2023, hatten sich zu dem Zeitpunkt, zu dem wir abgestimmt haben, 56 Prozent mit „eindeutig ja“ geäußert, obwohl es damals explizit nur um die Wehrpflicht ging, nicht um die Wehrpflicht im Rahmen einer allgemeinen Dienstpflicht, wie es der CDU vorzuschweben scheint, was darauf hindeuten würde, dass sie Wahlmöglichkeiten offen lässt.

Aktuell stimmen 48 Prozent der Abstimmenden mit „eindeutig ja“, 25 Prozent sind komplett dagegen. Wir werden uns heute kurz fassen, denn in diesem Beitrag zur vorausgehenden Umfrage haben wir einen längeren Kommentar geschrieben und zusätzliche Informationen recherchiert. Diesen Artikel sollten Sie lesen, auch, falls Sie bereits abgestimmt haben.

Wehrpflicht wieder einführen? (Umfrage + Zusatzinfos + Kommentar)

Unsere Meinung hat sich seit dem Spätherbst des vergangenen Jahres nicht geändert, deswegen verzichten wir hier auch auf weitere Informationen und Begründungen. Wir werden aber nach der Entscheidung von Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius im Sommer einen zusammenfassenden Artikel zur Sache schreiben, denn das Thema interessiert uns.

Es interessiert uns, weil wir meinen, gute Gründe für eine Wiedereinführung der Wehrpflicht zu haben und weil wir es noch heute richtig finden, dass wir selbst den Wehrdienst unter der Ägide der Endphase des Kalten Krieges abgeleistet haben. Zwischenzeitlich sah es tatsächlich danach aus, als ob man es viel ruhiger angehen lassen könnte, aber etwas hat uns immer gestört, und deswegen halten wir auch das Argument des Jugendbundes für verfehlt: Gerade das Berufssoldatentum schafft eine Militarisierung, weil es eine Art von Parallelgesellschaft herausbildet. Man kann durch sehr gute innere Führung verhindern, dass dieser Effekt dazu führt, dass eine Armee nicht auf den Füßen der Verfassung steht, wie es in vielen Ländern, auch in Deutschland in den 1920ern, schon der Fall war. Damals gab es keine Wehrpflicht, übrigens. Berufsarmeen mögen auch effizienter sein, aber sie sind nicht um so vieles effizienter, wie eine größere Armee generell mehr Möglichkeiten hat.

Außerdem gibt es heute kaum noch Reservisten, das war zur Zeit unserer Dienstableistung vollkommen anders. Viele Wehrpflichtigen waren im Anschluss auch Reservisten.

Dass die „Freiheitlichen“ wieder einmal dagegen sind, zeigt lediglich deren falsches Freiheitsverständnis. Es gibt auch eine Schulpflicht in Deutschland, vermutlich sollte man die nach Ansicht der FDP auch abschaffen, damit nur noch Kapitalistenkinder Bildung erhalten, deren Eltern sich teure Privatschulen leisten können. Auf den ersten Blick wirkt dieses Argument ziemlich weit weg von der Wehrpflicht, ist es aber nicht.

Verteidigungsbereitschaft ist für uns, wie die Bildung, eine Gemeinschaftsaufgabe. Und davon kann man sich nicht in individualistisch-klassistischer Weise freikaufen. Und zum Glück gibt es in Deutschland bei den Streitkräften, anders als im Bildungswesen, nicht die Möglichkeit, sich mit viel Geld nach oben abzusetzen, und es sollte natürlich auch nicht die Möglichkeit geben, sich von Diensten unter Zahlung einer Geldsumme befreien zu lassen – Bestechung inklusive, denn eine offizielle Möglichkeit wird es, und das ist nicht immer so gewesen, nicht geben. Wir werden, wenn uns mehr Zeit nehmen können, auch nachschauen, ob wir uns 2011, als der „erste“ Wahlberliner gegründet wurde, zur Abschaffung bzw. Aussetzung der Wehrpflicht geäußert haben. Die damaligen Argumente würden wir in einem zusammenfassenden Artikel nicht unterschlagen, falls sie andersgerichtet waren.

Grundsätzlich halten wir eine Bürger:innenarmee, in der viele unterschiedliche Menschen zusammentreffen und die viel enger mit der Gesellschaft verzahnt ist als eine Berufsarmee, für richtig. Sie wäre ein Element, mit dem man der Spaltung dieser Gesellschaft etwas entgegensetzen könnte, das sich aus einer aktuellen Notwendigkeit  heraus ergibt und nicht kunstvoll erdacht werden muss, ohne dass eine Annahme des Angebots verpflichtend wäre. Dass die Zivildienstleistenden früher auch für das Gesundheits- und Sozialwesen enorm wichtig waren und deren Abwesenheit jetzt den Mangel an Arbeitskräften verstärkt, darf hingegen nur vorsichtig als Begründung herangezogen werden, warum eine Dienstpflicht reinstalliert werden sollte. Dienst an der Gemeinschaft ja, aber nicht Lücken stopfen, weil Jobs in bestimmten Branchen zu schlecht bezahlt werden. Dass das eine das andere mitbedingt, ist klar, aber es ergibt einen Unterschied, worauf man die Begründung einer zu begrüßenden Wiedereinführung stellt. Wenn man so will, einen angezielten Primäreffekt und einen Side-Effekt, der ohnehin heute nicht mehr ausreichen würde, um die Situation erheblich zu verbessern, da vor allem Fachkräfte fehlen.

Dass der Vorschlag jetzt von der CDU kommt, ist ärgerlich. Vor allem, weil eine unionsgeführte Regierung die Wehrpflicht ausgesetzt hat, aber es gehört auch zur aktuellen Marschroute, um den passenden Begriff zu verwenden: Die Ära Merkel, die übrigens keineswegs überall sozial und mittig war, soll zu den Akten gelegt werden. Man fühlt sich nicht mehr als die Partei, die fast alle heutigen Probleme des Landes maßgeblich mitverursacht hat, in Kollaboration mit denen, die sie gewählt haben, selbstverständlich.

Trotzdem ist der Vorschlag nicht falsch, weil er von der CDU kommt und weil diese immer mehr nach rechts ausgreift. Wenn also Boris Pistorius (SPD) eine Dienstverpflichtung wieder einführen lässt, dann werden wir zustimmend kommentieren. Mit der immer notwendigen Einschränkung, dass wir uns die genaue Ausprägung noch anschauen müssen.

Dass die FDP dagegen ist, bestärkt uns hingegen eher darin, dass wir mit unserer Einschätzung richtig liegen. Die FPD versucht immer, den Freiheitsdrang junger Menschen zu adressieren, was ja zuletzt auch gemäß Wahlergebnissen funktioniert hat. Was sie verschweigt: Die jungen Menschen, die nicht bereits privilegiert sind, landen dann in der Ausbeutungsmaschine des Kapitals, dem die FDP wirklich dient.  Dort darf dann jeder alleine sehen, wie er klarkommt; ohne entwickelten Gemeinschaftssinn, dafür aber mit einer von den Neoliberalen vergifteten Egomanen-Mentalität ausgestattet, die das Land tatsächlich spaltet und krisenanfällig macht. Die individuelle Selbstermächtigung eben nicht stärkt, sondern in den meisten Fällen gerade verhindert, weil nicht erkannt wird, dass sie nur auf einem funktionierenden Gemeinwesen basiert sein kann. Beim Wehrdienst, aber auch beim Zivildienst, lernt man, dass es nur miteinander geht, und das gefällt der FDP nicht, solange das Miteinander nicht in Form kapitalistischer Lobbys organisiert ist.

TH

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