Briefing 526 Binnenflucht, Geopolitik, Naturkatastrophen, Klimawandel, Krieg, Bürgerkrieg, Gesellschaft, Zivilisation
Heute haben wir relativ kurze Informationen & Kommentare für Sie im Angebot, im zweiten Artikel des Tages werfen wir einen Blick auf die Geflüchteten. Nicht diejenigen, die nach draußen fliehen, zum Beispiel nach Europa, sondern diejenigen, die innerhalb ihrer Länder vor Naturkatastrophen oder Gewalt fließen mussten. Es sind weitaus mehr Menschen als jene, die den Weg nach draußen schaffen.
Infografik: Wie viele Menschen sind im eigenen Land auf der Flucht? | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz CC BY-ND 4.0 Deed | Namensnennung-Keine Bearbeitung 4.0 International | Creative Commons erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.
75,9 Millionen waren Ende 2023 laut Internal Displacement Monitoring Centre (IDMC) im eigenen Land auf der Flucht – so viele wie noch nie zuvor. 90 Prozent dieser Binnenvertriebenen mussten ihre Heimatorte wegen Krieg und Gewalt verlassen. Etwas anders sieht das Bild aus, wenn nur die Geflüchteten berücksichtigt werden, die 2023 vertrieben wurden. Hier nennt das IDMC 26,4 Millionen Menschen, die durch Naturkatastrophen gezwungen wurden, ihr zuhause zu verlassen. Die wichtigsten Ursachen waren hier Überflutungen und Stürme sowie Erdbeben. Am stärksten betroffen waren China, die Türkei, die Philippinen, Somalia und Bangladesch. Dagegen wurden 20,5 Millionen Menschen von Krieg und Gewalt zur Flucht gezwungen. Verantwortlich waren überwiegend bewaffnete Konflikte und Kriege zwischen Staaten. Besonders betroffen waren der Sudan, die Demokratische Republik Kongo, Palästina, Myanmar und Äthiopien. Warum trotzdem zum Jahresende deutlich weniger Katastrophenflüchtlinge gezählt wurden? Wenn die Flut zurückgeht oder die Erde nicht mehr bebt, können die Menschen oft zurückkehren. Dagegen dauern Kriege oder andere bewaffnete Konflikte in der Regel deutlich länger an.
In China war es ein Erdbeben, ebenso in der Türkei, in Bangladesch eine Flutkatastrophe, die 2023 zu Millionen von Binnenflüchtlingen geführt hat. Die Fluchtbewegungen wegen Gewalt und Krieg spiegeln hingegen die Hauptkonflikte des Jahres 2023 wieder. Interessant ist, dass die Ukraine nicht zu den Ländern mit den meisten Binnengeflüchteten zählt. Dabei dürfte eine Rolle gespielt haben, dass Ukrainer:innen relativ gut Zuflucht in anderen Ländern gefunden haben, in Deutschland u. a. deswegen, weil sie generell als asylberechtigt anerkannt wurden.
Palästina steht an dritter Stelle, möglicherweise wird das auch 2024 nicht anders sein. Das weist darauf hin, dass reine Zahlenvergleiche ihre Grenzen haben. Es kommt auch auf die Totalität einer humanitären Katastrophe an, die sich aus Krieg und Vertreibung ergibt. Auch, wenn die gesamte Bevölkerung von etwa 2,3 Millionen Menschen (so viele waren es vor dem 7. Oktober 2023) innerhalb der Binnengrenzen des Gazastreifens flüchten und immer weitergetrieben würde, würde diese Fluchtbewegung nicht die Dimensionen wie in größeren Staaten erreichen, es sei denn, man würde jeden neuen Vertreibungs- und Fluchtvorgang bei derselben Person gesondert berechnen. Das wäre technisch aber wohl kaum möglich.
Trotzdem gibt das iDMC, auf dessen Daten die Grafik beruht, die Zahl der Geflüchteten mit 3,4 Millionen an – alle politisch, alle 2023. Das würde doch darauf schließen lassen, dass eine Erfassung nach Vorgängen, nicht nach Personen stattfindet.
In China sind hingegen wegen Naturkatastrophen nicht weniger als 4,7 Millonen Menschen innerhalb des Landes geflüchtet. Sie verschwinden statistisch in einer riesigen Bevölkerung von 1,4 Milliarden, aber für sich genommen ist die Summe gewaltig. Auch viele Länder in Europa zeigen kleinere blaue Kreise, nicht mit Zahlen. Deutschland ist mit 3.300 Personen dabei, die wegen Fluten ihr Zuhause verlassen mussten. Am Ende des Jahres blieben davon 100 Personen, die nicht zurückkehren konnten oder kein neues Heim gefunden hatten. Nur wenige Länder weisen überhaupt keine Einwohner auf, die wegen Naturgewalten auf der Flucht waren.
Naturkatastrophen sind also 2023 eine ganz wesentliche Ursache für Binnenflucht gewesen. Man kann sie mit dem Klimawandel in einen Kontext setzen, aber muss dabei etwas vorsichtig bezüglich der Kausalität sein. Fluten waren die Nummer eins der Ursache, Stürme knapp dahinter die Nummer zwei, sie lösten 9,8 bzw. 9,5 Millionenfluchten aus, 6,7 Millionen Menschen mussten vor Erdbeben flüchten, davon 2/3 in China, wie oben erwähnt. In Kanada kam es zu 185.000 Binnengeflüchteten wegen Waldbränden, davon hört oder liest man bei uns ebenfalls nicht sehr viel.
Bei Krieg und Gewalt hingegen ist es recht eindeutig: Keine dieser geflüchteten Personen würde in einer friedlichen Welt ihre Heimat oder ihr Heim verloren haben. Und über viele Konflikte wissen die meisten von uns im Westen recht wenig. Damit, diese Konflikte so umfassend zu beleuchten, wie es gegenwärtig beim Ukrainekrieg und beim Gazakrieg getan wird, damit könnte man sich verdient machen, aber man träfe kaum auf Interesse. Dabei finden doch gerade die Fluchtbewegungen innerhalb Afrikas ihren Ausdruck auch in einer hohen Zahl von Menschen, die den Kontinent verlassen.
Unsere Prognose: Es werden mehr werden. Überall werden rücksichtslos Konflikte aufgebaut und eskalieren. Manches bekommen wir in Deutschland sogar noch weniger mit als die Vorgänge in Afrika. Spanien hat zum Beispiel hohe Zugänge an Asylbewerbern aus dem hispanischen Raum Südamerika. Die Zahl der Binnengeflüchteten dort liegt, pro Land, nicht unter den Top 5 weltweit und ist daher nicht in der obigen Grafik abgebildet.
Manche Länder sind doppelt betroffen, wie Äthiopien, 600.000 Menschen flohen vor der Natur, 700.000 vor Gewalt, ohne die Staatsgrenzen zu überschreiten, in Myanmar waren die Zahlen noch höher: 1,0 und 1,3 Millionen, in Somalia flohen 2 Millionen vor allem vor Dürre und noch einmal 600.000 vor bewaffneten Konflikten.
Die Naturkatastrophen, die Menschen in die Flucht treiben, werden sich nicht ganz ausschalten lassen, man durch Klimaschutz lediglich zu deren Verminderung beitragen und natürlich werden auch diese Katastrophen uns noch zu schaffen machen, in Europa. Mehr Menschen als bisher werden als „Klimageflüchtete“ auch versuchen, bei uns eine neue Bleibe zu finden. Dabei sieht es ökologisch gerad ein Deutschland auch nicht so gut aus, es zählt zum Beispiel zu den Ländern mit hohem Wasserverlust in den letzten Jahrzehnten. Gleichwohl würde kaum jemand, der aus Afrika hierherkommt, von einem dürren Land sprechen.
Die politischen Gewaltkonflikte wiederum, die zu so vielen Vertreibungen führen, sind überwiegend nicht-internationale, also interne Konflikte verschiedener Länder. Die größte Ausnahme dürfte der Ukrainekrieg darstellen, der Gazakrieg hingegen dürfte nicht als binationaler Krieg gezählt werden, da es nach wie vor keinen Staat für die Palästinenser gibt. Selbstverständlich müssen der Gazastreifen und das Westjordanland in der Tabelle gesondert ausgewiesen werden, um die Fluchtbewegungen dort vom offiziellen Staatsgebiet Israels abgrenzen und sichtbar machen zu können.
Es gibt eine weitere erschütternde Zahl. Nimmt man nicht nur die Zahl derer, die 2023 in die Flucht getrieben wurden, sondern alle, die noch auf der Flucht sind, so sind das bei politischen Konflikten fast 70 Millionen Menschen, bei Naturkatastrophen 7,7 Millionen. Letztere, Statista hat es erklärt, kehren in der Regel schneller in ihre früheren Wohngebiete zurück, daher liegt deren Anteil am Jahresende 2023 wesentlich niedriger als bei der politisch intendierten Flucht, die vieljährige Vertreibung zur Folge haben kann. Man sieht den Unterschied daran, dass der Sudan mit seiner großen Bewegung im Jahr 2023 zwar auch langfristig vorne steht, aber an zweiter Stelle kommt immer noch Syrien, aufgrund der Nachwirkungen des Krieges, der im Wesentlichen von 2011 bis 2015 dauerte, aber immer noch nicht komplett beendet ist. Auch der Jemenkrieg wirkt nach, das Land steht bei dieser Berechnung auf Platz 5.
Weltweit nehmen Binnenfluchtbewegungen zu und erzeugen natürlich auch Druck nach draußen, vor allem dann, wenn die humanitäre Lage in den Ländern nicht mehr zu bewältigen ist. Trotzdem stellt sich dadurch eine Frage: Sind diejenigen, die es nach draußen schaffen, nicht eher privilegiert und vergleichsweise mobil? Wir können uns nicht vorstellen, dass nicht viele, die unter schrecklichen Bedingungen in riesigen Lagern dieser Länder ausharren müssen, nicht lieber diese Länder und den betreffenden Kontinent verlassen würden. Aber woher die Mittel für die nicht billige internationale Flucht nehmen? Deswegen ist „Fluchtursachen vor Ort bekämpfen“ auch keine Hohlformel, keine billige Phrase: Natürlich kann man humanitär vor Ort helfen, um die Not einzudämmen. Ob man damit die Migration nach Europa senken kann, ist eine andere Frage, wir sind skeptisch. Es geht aber um die Ärmsten der Armen, die nicht verhungern dürfen.
Vor allem aber es um eine Politik, die endlich aufwachen und Mechanismen finden muss, Konflikte nicht einfach laufen zu lassen oder sie gar zu schüren, wie alle Großmächte das auf ihre Weise mit ihren verfehlten spätkolonialistisch-imperialistischen Politikansätzen tun, die komplett rücksichtslos gegenüber den Betroffenen sind. Wir wollen hier nicht wieder auseinanderhalten, wer wieviel Schuld daran trägt, dass kein Friede einkehrt, zumal wir oben geschrieben haben, dass die Mehrzahl der politischen Fluchtbewegungen landesinterne Gründe hat, wir können im Zusammenhang damit an dieser Stelle auch nicht besprechen, welche dieser internen Gründe wiederum von außen in welchem Maß befördert wurden. Aber der Zustand der Zivilisation lässt sich sehr gut daran ablesen, wie viele Menschen wegen Krieg und Gewalt auf der Flucht sind. Es werden immer mehr. Nicht kontinuierlich, aber die Jahre 2022 und 2023 waren besonders schlimm, mit den höchsten Fluchtzahlen der letzten 11 Jahre. Weiter reichen die Grafiken in dem Report nicht zurück, den wir uns angeschaut haben. Die Erfassung der Daten zur Binnenflucht begann im Jahr 2008.
Hier noch einmal der Link:
IDMC-GRID-2024-Global-Report-on-Internal-Displacement.pdf
TH
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