Wie entwickeln sich die Löhne in Deutschland? (Statista + Kommentar: Zehn Jahre für nichts) | Briefing 540 | Wirtschaft, Gesellschaft, PPP Politik, Personen, Parteien

Briefing 540 Wirtschaft, Reallohnentwicklung, Nominallöhne, Inflation, Corona-Einbruch, Energiekrise

Sie werden im untenstehenden Begleittext zur Grafik lesen, dass sich derzeit die Reallöhne positiv entwickeln. Sie werden in unsrem anschließenden Kommentar lesen, wie das Bild zurechtgerückt werden muss, und zwar nur insofern, als es sich bereits aus der Grafik selbst ergibt:

Infografik: Wie entwickeln sich die Löhne in Deutschland? | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz CC BY-ND 4.0 Deed | Namensnennung-Keine Bearbeitung 4.0 International | Creative Commons erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Die Reallöhne sind in Deutschland im ersten Quartal 2024 erneut angestiegen. Wie die Statista-Grafik auf Basis der neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamts (Destatis) veranschaulicht, liegt das Plus im zweiten Quartal des laufenden Jahres gegenüber dem Vorjahresquartal bei 3,8 Prozent. Das war der vierte Anstieg in Folge und das stärkste Reallohnwachstum im Vorjahresvergleich seit dem Jahr 2008.

Zu dieser Entwicklung trugen laut Destatis auch die Auszahlungen von Inflationsausgleichsprämien bei. Die steuer- und abgabenfreie Prämie kann bis zu 3 000 Euro betragen und ist eine freiwillige Leistung der Arbeitgeber, die noch bis Ende 2024 ausgezahlt werden kann. Auch die beschlossenen Lohnsteigerungen und Einmalzahlungen sowie Inflationsausgleichsprämien in Tarifverträgen, die im 1. Quartal 2024 an viele Beschäftigte ausgezahlt wurden, seien maßgeblich für den Reallohnanstieg.

Überdurchschnittliche Verdienststeigerungen sind laut Destatis in den Wirtschaftsabschnitten „Öffentliche Verwaltung, Verteidigung; Sozialversicherung“ (+9,1 %) und „Erziehung und Unterricht“ (+8,0 %) festzustellen, wo die große Mehrheit der Beschäftigten nach einem Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst (TVöD) entlohnt werde.

Der Reallohnindex ist in der Volkswirtschaftslehre das Verhältnis von Nominallohn und Preisniveau beziehungsweise von Nominallohnindex und Preisindex. Er nimmt zu, wenn der Nominallohn rascher steigt als die Güterpreise. Steigt der Nominallohn langsamer als die Güterpreise, dann sinkt der Reallohn.

Vielleicht wird angesichts der oben beschriebenen Entwicklung der Öffentliche Dienst ja doch seine Personalsorgen noch los. Vielleicht machen wir auch mit. Jedenfalls hatten wir schon vor Jahren das Gefühl, dass jedwede politisch-wirtschaftliche Wetterlage dort besser abgefedert wird als in der privaten Wirtschaft. Freilich ist das auch eine Berliner Sichtweise, denn hier wird in der Privatwirtschaft nach wie vor erschreckend wenig gezahlt, während die Kosten immer weiterdavonlaufen.

Wenn Sie sich die Grafik ein bisschen genauer anschauen, fällte Ihnen natürlich sofort auf, dass mit dem vierten Mal Reallohnsteigerung in Folge nur Quartale, nicht Jahre gemeint sein können. Vor allem aber: Dass es noch lange dauern wird, bis der Corona-Einbruch und der noch stärkere Inflations-Energiekrise-Einbruch (2020 und 2022) aufgeholt sein werden. Die Einschläge waren so massiv, dass sie summarisch die gesamten Reallohnsteigerungen im abgebildeten Bereich seit 2014 konsumiert haben. Damit ist die überdurchschnittliche Entwicklung in Deutschland während der 2010er Geschichte, es wird alles wieder quasi auf Null gestellt, wenn man es von der Bankenkrise im Jahr 2008/2009 aus betrachtet.

Und jetzt kommt es: Wenn man den klassischen Ansatz verfolgt, dass Reallöhne aus Produktivitätssteigerungen erwachsen müssen, dann ist das sogar richtig. Die deutsche Wirtschaft verliert nicht nur an Wettbewerbsfähigkeit, sie verzeichnet seit Mitte der 2010er auch keine Produktivitätszuwächse mehr. Immer mehr Teilzeit, immer mehr Jobs in Branchen ohne hohe Wertschöpfung, nachlassende Exzellenz in Sachen Infrastruktur, Bildung, Innovation tragen zu diesem Phänomen bei. Und natürlich die immer noch von Linken gehypte Niedrigzinspolitik, die nur zu einem Boom in erzkonservativen Branchen geführt, Sparer ärmer, Mieter klammer und Immobilienspekulanten reich gemacht hat. Damit ist in Wirklichkeit die Erosion Deutschlands vorangetrieben worden, aber, klar, es war ein Wirtschaftswachstum aufgrund ständig anziehender Preise zu verzeichnen, deren Plus weit über dem der allgemeinen Inflation lag.

Deswegen sollte der obigen Darstellung eine folgen, die ausweist, wo die Reallohnsteigerungen seit 2014, gerne auch im Vergleich von vor und nach der Bankenkrise, besonders deutlich waren und wo es kaum Zuwächse gab. Ganz sicher wird sich dabei zeigen, dass Branchen, in denen nicht viel Produktivität erzeugt wird, weit vorne liegen und dass vor allem die Gehälter am oberen Rand stark angestiegen sind und damit den gesamten Index nach oben gezogen haben.

Ein Gefühl von Einbuße hatten viele zwar wegen ihrer dahinschmelzenden Spareinlagen, aber nicht wegen der Preise beim Einkaufen, weil die Inflation während der Zeit gering war. Freilich hängt das vom persönlichen Warenkorb ab, zum Beispiel wurden Kraftstoffe zu Beginn der 2010er erst teurer, dann gaben die Preise nach.

Daraus entsteht eine weniger negative Gefühlslage, als wenn fast alle Preise so davonschießen wie zuletzt. Wenn wir einkaufen gehen, haben wir das Gefühl, der Auftrieb ist immer noch nicht gebremst, auch wenn die jüngsten Inflationsdaten etwas anderes suggerieren. Aber die Lebensmittelinflation liegt ohnehin deutlich höher als die Gesamtteuerung (sie betrug von 2021 bis jetzt über 30 Prozent) und das weist auf etwas anderes hin: Vor allem ärmere Haushalte, die von der Teuerung des Grundbedarfs besonders betroffen sind, haben erhebliche Realeinkommensverluste zu verkraften. Dass im nächsten Jahr zudem eine Bürgergeld-Nullrunde stattfinden soll, ist reiner Populismus, nicht durch reale Daten gedeckt.  

Theoretisch müssen die Reallöhne gar nicht immer steigen, damit eine Gesellschaft intakt bleibt. Wenn zum Beispiel endlich die Hocheinkommen mehr zu den Gemeinschaftsaufgaben beitragen würden, hätte das am oberen Ende gewisse Einbußen zur Folge, die wiederum die Ungleichheit, die immer größer wird und durch die Entwicklung der letzten Jahre massiv befördert wurde, etwas zu dämpfen. Wir sehen diese Tendenz nicht, was wiederum klarstellt, dass in Deutschland alle Parteien mehr oder weniger dieselbe vor allem am Wohlergehen des Kapitals orientierte Agenda haben.

Die Vermögenden sind mitten in der Krise seit 2020 erheblich reicher geworden, die Schätzungen reichen, je nachdem, wie man die Maßstäbe gestaltet und ob man weltweit schaut oder nur in Deutschland, von einem Plus von 35 Prozent bis zu 100 Prozent. Damit kann man natürlich auch die Inflation locker aussitzen und profitiert sogar von dem Preisauftrieb, weil er eben nicht nur durch höhere Kosten verursacht war, sondern, weil Unternehmen so kräftig wie nie zuvor an der Gewinnschraube gedreht haben. Vor allem einst günstige Produkte der Grundversorgung wurden im Sinne von Krisengewinnlerei geradezu exzessiv verteuert. Bester Beleg dafür, dass das Energieproblem nicht der Hauptgrund dafür ist: Die Energiepreise sinken längst wieder, der Brotpreis tut es nicht.

Wir haben heute gerade einen neuen Stromvertrag abgeschlossen, dessen Preis kaum noch über Vorkrisenniveau liegt. Auch das muss man einmal erwähnen, bevor man politischen Spins folgt, die uns etwas von einem Durchschnittspreis von 41 Cent/KWh erzählen wollen. Die muss man nicht mehr  berappen, wenn man etwas flexibel ist, und natürlich freuen wir uns darüber, dass mal ein Problem so gewuppt wurde, dass beinahe der vorherige Stand wieder erreicht wurde (konkret: wir werden ab Juli 25 Cent/KWh zahlen, nach zuletzt 30 Cent, im Jahr zuvor  40  Cent inklusive Strompreisdeckel, vor der Energiekrise waren es zuletzt 23 Cent).

Wir haben uns, als es plötzlich hochschoss, massiv über die Ampel geärgert, aber man muss der Regierung auch geben, was ihr gehört, und dazu zählt, dass es wieder normal läuft, wenn auch auf dem in Deutschland hohen Preisniveau, an das wir uns zuvor über Jahrzehnte gewöhnt hatten, ohne dass ein politisches Erdbeben zu verzeichnen war. Es läuft fast wieder normal, obwohl eine erhebliche Umstellung bei den Energielieferanten und auch beim Energiemix zu bewältigen war. Wenn am Ende herauskommt, dass diese Krise die Dekarbonisierung befördert hat und die Preise vernünftig bleiben, wollen wir also mit dem Schreck und der Wut des Jahres 2022 unseren Frieden machen. Das gilt aber ausdrücklich nur für den Sektor Enerige und hier nur für den Strompreis. Wie die Gasrechnung in der BKA 2023 aussehen wird, wird erheblich über unser Gesamtbefinden mitbestimmen, denn diese Kosten konnten wir nicht beeinflussen.

Wir reden also nur von Strom, einem der wenigen Märkte, auf denen echter Wettbewerb herrscht und die aufgrund von Vergleichsportalen transparent und durch ein flexibles Kundenverhalten auch bis zu einem gewissen Grad beeinflussbar sind.

Gleichwohl ändert dies nichts daran, dass viele Preise nie mehr zurückkommen werden, dass vor allem die Superreichen, in deren Taschen die Gewinne aus der Überkompensierung der Kosten durch Preiserhöhungen fließen, in extremem Maße weiter privilegiert werden, anstatt etwas von diesen Übergewinnen an die Gesellschaft zurückgeben zu müssen. Allein die Anwesenheit der FDP in der Ampelregierung verhindert schon, dass im neoliberalen Deutschland auch nur ernsthaft über einen Ausgleich nachgedacht wird. Nun ja, die anderen können die Gelben auch als Feigenblatt benutzen, wenn es um die Abwesenheit von Leistungsgerechtigkeit und sozialer Gerechtigkeit geht. Das ist recht praktisch, wird die Ampel aber vermutlich im Jahr 2025 ihre Mehrheit kosten. Wird es danach besser? Überlegen Sie mal kurz, wer dann regieren wird.

Und wie rechtspopulistische Spins, mit denen auf Ärmere eingedroschen wird, reale Politik für Menschen ersetzt haben, und wie Sie als Wähler:innen darauf hereingefallen sind, falls Sie die Merz-Mittelstands-Union gewählt haben, am 9. Juni, im Herbst im Osten, bei der Wahl 2025, oder gar noch weiter nach rechts gegangen sind, darüber reden wir, wenn es so weit ist. Sie haben dann nämlich keinen Blick dafür gehabt, dass dies eine Zeit für eine sozialere, linkere Politik ist wie keine zuvor seit der Gründung der BRD, und dass Ihnen, wie diesen Populisten, der Zusammenhalt der Gesellschaft egal ist .

Das Land ist wirklich reich, auch wenn einige Politiker das in ganz falschen Zusammenhängen behaupten. Es ist aber reich: Es gibt Unmengen unverdienten Reichtums umzuverteilen, die man in Zukunftsprojekte investieren könnte. Geschieht dies, dann funktioniert es auch wieder, ohne dass dazu Unmengen neuer Staatsschulden aufgenommen werden müssen.

Nun sind wir über die Grafik mit der Lohnentwicklung ein wenig hinausgegangen, aber es hängt, wie Sie wissen, alles miteinander zusammen. Wenn wir also Linien sehen wie die obigen, denken wir immer sofort daran, zu hinterfragen, welche Personen diese Linien in welchem Maße repräsentieren.

Die Inflationsrepräsentant:innen, das sind vor allem die Ärmeren. Die Realeinkommenssteigerer, das sind die an der Spitze der Pyramide. Diese Feststellung müsste uns im Grunde dazu führen, dass wir auch diesen Artikel mit „Demokratie in Gefahr“ labeln, aber wir wollen es mal nicht übertreiben. Es ist aber auch nicht abstrakt, sondern hat mit der konkreten Lebenswirklichkeit einer Mehrheit zu tun, die so negativ gestimmt ist wie nie, seit Umfragen darüber erhoben werden. Das hat auch mit den Weltkrisen zu tun, aber es kommt eben gefühlt alles zusammen. Und das Gefühl wird durch Fakten unterlegt, wie der Einbruch bei den Reallöhnen seit 2020 klarstellt.

TH

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