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Liebe Leser:innen, unsere Berichterstattung zur EU-Wahl 2024 führen wir nun doch noch ein wenig fort. Vielleicht ist es auch ganz gut, dass der nachfolgende sehr kritische Text, der gleichwohl oder gerade deswegen pro-europäisch ist, erst heute für uns lesbar wurde. Wir werden aber wählen gehen und möchten die Republikation nicht als Aufforderung verstanden wissen, dies nicht zu tun. Wir kommentieren im Anschluss an den Originaltext des Verfassungsblogs, den wir gemäß den Regeln der Publikation weiterveröffentlichen dürfen.

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Das EU-Projekt auf der langen Bank? – Verfassungsblog / Alberto Alemanno

Eine selbstverschuldete Situation durch mangelnden politischen Integrationswillen

Während die Bürgerinnen und Bürger in 27 Mitgliedstaaten ihre Stimme abgeben, um ihre Vertreter im EU-Parlament zu wählen, zeichnet sich auf dem Kontinent politische Unsicherheit ab. Denn trotz des viel beschworenen Zeitenwende-Gefühls dieser EU-Wahlen wurde den Wählerinnen und Wählern keine überzeugende Erklärung angeboten, warum und wie unsere Teilnahme an diesen Wahlen die Zukunft der Union beeinflussen könnte. Die Frage, wie sich unsere individuellen Präferenzen auf die künftige Ausrichtung der Union auswirken, bleibt also für viele ein Rätsel.

Vorneweg: es ist wenig bis gar nichts Europäisches an den Wahlen zum Europäischen Parlament.

Erstens stimmen die EU-Wählerinnen und Wähler zu unterschiedlichen Terminen ab – die Niederländer am 6. Juni, die Iren am 7., die Slowaken und Malteser am 8. und alle anderen am 9. Juni.

Zweitens gelten dabei unterschiedliche Wahlgesetze in den verschiedenen Mitgliedstaaten. In einigen Ländern wie Österreich, Belgien und Deutschland dürfen 16-Jährige wählen, in Griechenland muss man 17 Jahre alt sein, in anderen Ländern 18.

Drittens, es gibt in der EU kein EU-weites politisches Parteiensystem. Die Wählerinnen und Wähler sind aufgefordert, ihre Stimme für Kandidaten abzugeben, die von nationalen – nicht europäischen – Parteien aufgestellt wurden. Obwohl die meisten nationalen Parteien, die bei den EU-Wahlen antreten, zu europäischen politischen Parteien wie der Europäischen Volkspartei (EVP), der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten (S&D) oder der Identität und Demokratie (ID) gehören, bleiben letztere für den Durchschnittswähler und die Durchschnittswählerin unsichtbar – und ihre Kandidatinnen und Kandidaten unbekannt.

Viertens, es besteht keine Verpflichtung für nationale Parteien, sich einer der bestehenden europäischen Parteien anzuschließen. Wenn sie es dann aber tun, dann geben sie ihre EU-Zugehörigkeit nur selten auf den Logos an, die auf den nationalen Stimmzetteln erscheinen. Wie viele deutsche Wählerinnen und Wähler wissen, dass sie mit ihrer Stimme für die CDU auch die italienische Forza Italia, die polnische Bürgerplattform von Donald Tusk oder die französischen Les Republicains unterstützen? Wie viele Italiener wissen, dass sie mit ihrer Stimme für Giorgia Melonis Brüder Italiens auch die polnische Partei Recht und Gerechtigkeit, besser bekannt als PiS, die spanische rechtsextreme Vox und vielleicht bald auf EU-Ebene die ungarische Fidesz unter der Führung des unbelehrbaren Viktor Orbán bestärken?

Letztendlich bestehen die Europarteien aus schwachen, außerparlamentarischen und weitgehend unsichtbaren Zusammenschlüssen von Parteien aus mehreren EU-Mitgliedstaaten, die eine dünne politische Affinität verbindet.

Unter diesen Umständen sind die EU-Parlamentswahlen kaum mehr als 27 parallele nationale Wahlen. Diese Schlussfolgerung wird durch ein zusätzliches strukturelles Merkmal der EU-Demokratie noch verstärkt.

Nach wie vor gibt es in der EU keine gesamteuropäische Medienlandschaft. Im Ergebnis erschwert das die Herausbildung einer genuinen europäischen öffentlichen Meinung. Trotz der Interdependenz der Staaten in Fragen, die das tägliche Leben ihrer Bürgerinnen und Bürger betreffen – von der Wirtschafts- über die Klima- bis hin zur Verteidigungspolitik – erhalten die Europäerinnen und Europäer ausschließlich nationalen Darstellungen der Entwicklungen in der EU. Diese Darstellungen sind zwangsläufig parteiisch, oft schlecht informiert und in der Regel irreführend, was zum Teil darauf zurückzuführen ist, dass nationale Politiker die Verantwortung abschieben und die EU zum Sündenbock machen. Daher ist es nicht weiter verwunderlich, dass die meisten Kandidaten für das Europäische Parlament ihren Wahlkampf mit nationalen – nicht-EU-Themen – führen.

Infolgedessen mangelt es der EU an einem europäischen politischen Raum, der in der Lage ist, einen echten transnationalen Raum der Debatte und des Dialogs – sowohl innerhalb als auch außerhalb der Institutionen – zu schaffen, in dem die Bürgerinnen und Bürger die Entscheidungen, die ihre gemeinsamen Interessen als Europäer und Europäerinnen betreffen, verstehen, beeinflussen und sich daran beteiligen können. In Ermangelung eines echten politischen Europas ist es nicht an den Bürgerinnen und Bürgern, sondern an ehemaligen Staats- und Regierungschefs der EU wie Enrico LettaSauli Niinistö und Mario Draghi, durch technokratische Berichte die zukünftige Richtung der EU zu gestalten – sei es in Bezug auf die Zukunft des Binnenmarktes, die zivile und militärische Bereitschaft Europas oder die Wettbewerbsfähigkeit der EU.

Jeder Versuch, den Wahlwettbewerb zu europäisieren, wie es der Vertrag von Lissabon 2009 vorsah, als er zaghaft eine Form der Parlamentarisierung der Union einführte, ist weitgehend gescheitert. Und das, obwohl Ursula von der Leyen nach ihrer abenteuerlichen Wahl zur Kommissionspräsidentin 2019 versprochen hatte, die „Spielregeln der EU-Demokratie“ mit Hilfe zufällig ausgewählter Bürgerinnen und Bürger, mit nationalen und EU-Vertretern in einer transnationalen Beratungskonferenz über die Zukunft Europas ganz neu zu schreiben.

Der Vorschlag des EU-Parlaments für ein neues EU-Wahlgesetz hätte jeder Wählerin und jedem Wähler zwei Stimmen gegeben: eine für die Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments in den nationalen Wahlkreisen und eine in einem EU-weiten Wahlkreis (bestehend aus 28 zusätzlichen Gruppen). Der Vorschlag hat es aufgrund der Ablehnung der Mitgliedstaaten nicht einmal auf den Tisch des Rates der Europäischen Union geschafft. Trotz der geringen Anzahl der transnational zugewiesenen Sitze wäre diese Reform ein game-changer hin zu einem EU-weiten Wahlwettbewerb. Indem zum ersten Mal jede einzelne nationale Partei, die an den EU-Wahlen teilnimmt, verpflichtet wird, ihre politische Zugehörigkeit zur EU gegenüber ihren Wählerinnen und Wählern in der gesamten Union offenzulegen, hätte sie dazu beigetragen, eine Verbindung zwischen dem Votum der Bürger und der politischen Färbung der nächsten EU-Kommission herzustellen. Im Zuge der Entwicklung eines verständlicheren Wahlverfahrens hätte dies wiederum der Verpflichtung des Europäischen Rates, die Ergebnisse der EU-Wahlen bei der Auswahl der Kandidatinnen und Kandidaten für den Kommissionspräsidenten zu „berücksichtigen“, mehr ins Licht gerückt einen echten Sinn verliehen.

By requiring for the first time every single national party running in the EU elections to disclose its EU political affiliation to its electorate across the entire Union, it would have contributed to establish a link between citizen’s vote and the political colour of the next EU Commission. Amid the development of a more intelligible electoral process, this would have in turn provided true meaning to, and shed greater light on, the obligation of the European Council to ‘take into account’ the results of the EU elections when selecting the candidate Commission President.[1]

Erinnert sei daran, dass der Vertrag von Lissabon die Bezeichnung der Abgeordneten des Europäischen Parlaments als die „Vertreter der Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten“ in die „Vertreter der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger“ geändert hat.

Stattdessen sind die EU-Wahlen 2024 nach einem Jahrzehnt der zaghaften Europäisierung des politischen Diskurses – wie sie von den europäischen Grünen und anderen wirklich transnationalen politischen Parteien wie Diem und Volt vorangetrieben wurde – in erster Linie eine nationale Angelegenheit.

Dieser Rückzug der EU-Politik innerhalb des Nationalstaates erscheint nicht nur paradox, sondern auch ahistorisch, wenn man den transnationalen Charakter der meisten wichtigen Ereignisse der letzten Zeit bedenkt, mit denen die Union konfrontiert war, von Covid-19 über die russische Invasion in der Ukraine bis hin zum aktuellen Gaza-Krieg.

Aus einer solchen Perspektive erscheint der lang vorhergesagte Aufschwung rechtsextremer politischer Parteien, die einen exklusiven nationalistischen Essentialismus praktizieren, als ein selbstverschuldeter Schaden der etablierten Parteien.

Indem sie jede Form der Europäisierung des politischen Raums der EU verhindern, berauben sich die politischen Führungen Europas nicht nur selbst der Möglichkeit, die EU-Integration zu einem Zeitpunkt voranzutreiben, an dem sie am dringendsten nötig ist, sondern spielen auch nationalistischen Parteien in die Hände. Zum ersten Mal könnten rechtsextreme, gegen das System gerichtete Parteien etwa 25 % der Sitze im nächsten EU-Parlament erringen.

Zwar regieren genau diese Parteien – direkt oder indirekt – in mehr als ein Dutzend EU-Mitgliedstaaten, darunter auch EU-Mitgliedstaaten der ersten Stunde wie Italien und die Niederlande, wo sie im Laufe der Zeit ein beispielloses Ansehen erlangt haben. Der gleiche Normalisierungsprozess hat jedoch auf EU-Ebene noch nicht stattgefunden.

Im Gegensatz zu den alarmistischen, oft dystopischen Schlagzeilen der Mainstream-Medien werden diese EU-Wahlen die EU nicht an die Rechtsextremen ausliefern. Doch während sie das EU-Projekt für ein breiteres Spektrum von Stimmen öffnen, bieten sie diesen Parteien die Möglichkeit, alle weiteren Integrationsbemühungen zu vereiteln.

Einen Vorgeschmack auf das, was als Nächstes kommen wird, geben die Ereignisse der letzten Monate, als die scheidende Kommissionspräsidentin unter dem Druck der rechtsextremen Parteien in der EU und den Protesten der Landwirte und Landwirtinnen von ihrem Vermächtnis – dem Green New Deal – abrückte. Sie tat dies, um das Vertrauen ihrer eigenen Partei, der EVP, zurückzugewinnen, aber auch das vieler Liberaler, wie der deutschen FDP, oder des französischen Präsidenten Macron, der eine „Klimaregulierungspause” forderte. Zuvor hatte sie auch die EU-Migrationspolitik von einer humanitären Herausforderung zu einem Sicherheitsproblem gemacht, indem sie die von den Rechtsextremen vorgegebene Blaupause weitgehend übernahm.

So gesehen werden diese Wahlen einen Rechtsruck beschleunigen, der innerhalb der EU bereits großflächig stattgefunden hat, und ihn auf ein neues Niveau heben.

Wenn die EU-Klimaambitionen ein Kollateralschaden dieses Prozesses sein werden, so steht auch die breitere, traditionell integrationsorientierte Agenda der EU mit auf dem Spiel. Die Erweiterung der Union, die eng mit der institutionellen Reform verknüpft ist, wird unter dem Einfluss der Rechtsextremen wahrscheinlich verlangsamt oder sogar gestoppt werden. Der nächste langfristige EU-Haushalt, über den das Europäische Parlament 2026 verhandeln wird, wird voraussichtlich schrumpfen. Dies kann zu einer gefährlichen Kluft zwischen den wachsenden Erwartungen der Bürger an die EU bei der Bewältigung der großen Herausforderungen und den Mitteln, die ihr dafür zur Verfügung stehen werden, führen. Dies kann der Glaubwürdigkeit der EU nur schaden, was der neuen rechtsextremen politischen Klasse gegenüber ihrer nationalistischen, europafeindlichen und fremdenfeindlichen Wählerschaft unmittelbar zugute kommt.

Ein starkes Abschneiden der Rechtsextremen könnte ihnen daher – zum ersten Mal überhaupt – die Chance geben, die integrationsfreundliche Agenda des Mainstreams durch Verlangsamung oder Unterbrechung zu vereiteln.

Das ist es, was bei diesen Wahlen auf dem Spiel steht. Eine beispiellose und regressive Transformation dessen, was realistischerweise vom EU-Projekt erwartet werden kann.

Unser Kommentar

Für uns ist dieser Artikel essenziell. Darin sind Gedanken niedergelegt, die wir so bisher für uns nicht ausformuliert haben. Wenn wir die EU kritisieren, geht es vor allem um ihre wirtschaftliche, zu neoliberale Ausrichtung, um spezielle Einwirkungen auf nationales Recht und nationale Handhaben zu EU-Vorgagen, die wir für gefährlich für die Demokratie halten, es geht auch um die erheblichen Fehler der EU im Themenbereich der Geopolitik.

Was oben steht, wissen wir zwar im Wesentlichen, zum Beispiel, welche Partei welcher Gruppe im Europäischen Parlament angehört und daher auch in etwa, wen wir mitwählen, wenn wir in Deutschland einer bestimmten Partei unsere Stimme geben. Wir haben uns anhand einiger Darstellungen der letzten Zeit, für die wir recherchiert haben, auch dem System der europäischen Fraktionen etwas gewidmet, diese Aufstellung aber nicht kommentiert. Zuletzt haben wir im Zusammenhang mit dem Ausschluss der AfD aus der „ID“-Fraktion einen Blick auf dieses System geworfen.

Es gibt sie tatsächlich nicht, diese europäische Öffentlichkeit, und was viele leichtfertig als ihr Mindset bezeichnen, nämlich „Ich bin Europäer“, basiert vielfach auf Unkenntnis der erheblichen nationalen Disparitäten, die in Europa sogar stärker werden, anstatt sich abzuschwächen. Und selbst die wenigen multinationalen Medien, wie der deutsch-französische Sender Arte, bieten vor allem Ausschnitte aus nationalen Programmen an, kaum jedoch gemeinsame Foren. Man kann dann über das jeweils andere Land einigermaßen Bescheid wissen, aber es mangelt an der steten offenen, für alle Bürger:innen zugänglichen Diskussion, die gerade zwischen Deutschland und Frankreich immer noch notwendig und wichtig für das Bestehen der EU ist. Uns ist kein Format bekannt, mit dem auf bilateraler Ebene zum Beispiel das Verhältnis Scholz-Macron mit Teilnehmern beider Länder diskutiert wird. Geschweige denn, dass die EU im Ganzen transparent gemacht würde.

Es ist nicht wie in den USA, transnationale, EU-weite Medien hätten schon das Grundproblem, in allen Sprachen zugänglich sein zu müssen. Sich nur auf Englisch als Transmissionssprache zu  kaprizieren, zumal das UK gar nicht mehr Mitglied der EU ist, das ist zu wenig. Gemeinsame Konzepte, die überall erfolgreich sein könnten, scheitern teilweise schon an der Verfassung der Mediensysteme. Nur Länder, die einen starken öffentlich-rechtlichen Rundfunk haben, könnten solche Formate bestücken, denn Privatsender haben kein Interesse an hochwertigen politischen Features. Gerade in dem Sinne ist es schade, dass die BBC nicht mehr dabei ist, das weltweite Vorbild für öffentlich-rechtliche Medien.

Also wird es schwierig sein, den politisch-medialen Raum herzustellen, von dem im Artikel des Verfassungsblogs die Rede ist. Selbstverständlich gibt es immer die Möglichkeit, sich nationale Printmedien anzuschauen und sie sich in Deutsch oder Englisch übersetzen zu lassen. Aber das ist ein mühsames Verfahren, das der Art, wie gerade junge Menschen Medien rezipieren, ziemlich zuwiderläuft. Da bräuchte es wirklich eine politische Arena, ein System europaweiter politischer Talkshows. Wie das bei 27 Mitgliedsstaaten mit ausgewogener Bestückung funktionieren soll, wo schon in Deutschland immer wieder Kritik an der Besetzung solcher Runden aufkommt, ist eine andere Frage, die wir hier nicht beantworten können.

Was leider auch stimmt: Es wird vor allem mit nationalen Themen Wahlkampf gemacht. Gewisse Neugründungen im deutschen Parteiensystem zeigen ihre Respektlosigkeit Europa gegenüber darin, dass sie die Europawahlen gezielt zur nationalen Denkzettelwahl umfunktionieren möchten. Diese Spalter können Europa nicht voranbringen, so viel steht fest und in solchen Spins zeigt sich eine große Überheblichkeit auch den angezielten Wähler:innen gegenüber, weil man sie mit billigen nationalen oder nationalistischen Spins abspeisen will, anstatt Europa greifbarer zu machen – auch, wenn die Greifbarmachung kritisch ausgerichtet ist. Leider sind die Angesprochenen wohl wirklich in vielen Fällen zu simpel strukturiert, um für eine europäische Themenorientierung in Frage zu kommen, insofern, bitter aber wahr, ist es taktisch schon richtig, so vorzugehen. Aber nur, weil man Europas Zukunft nicht für wichtig hält.

Wie wichtig sie tatsächlich ist, zeigt sich an allen Herausforderungen, die wir derzeit zu bewältigen haben. Man kann die Antwort auf den Ukrainekrieg nur europäisch denken, mindestens, im nationalen Klein-Klein verpufft das Meiste an Wirkung. Aber das ist ja von bestimmten politischen Kräften auch so gewollt, die im Dienste von Putins Zersetzungskampagne unterwegs sind und Frieden zu dessen Verfügungsmasse erklären. Eine einheitliche Haltung wäre auch bezüglich das Gazakriegs notwendig, gerade dabei könnte man berücksichtigen, dass Deutschland immer etwas zurückbleiben muss hinter den klaren Worten, die andere Länder finden. Man schließt sich bis zu einem gewissen Grad an, das geht durchaus und demonstriert Gemeinsamkeit und die Lehren aus der nationalen Geschichte gleichermaßen.

Das Verfahren selbst könnte nach unserer Ansicht nur verbessert werden, wenn die Parteien sich quasi in einem nationalen und einen europäischen Arm aufteilen würden. Sie haben zwar Europa-Kandidat:innen, aber nicht nur die ohne Nennung der Namen adressierten europafeindlichen Kräfte machen eine Art Übertragung: Die FDP beisipielsweise stellt ihre nationale Ukraine-Strategie als Europa-Strategie dar, was sie nicht ist, denn in der sehr vielfältigen liberalen Parteienfamilie gibt es auch Mitglieder, die sich diese sehr an den Interessen der deutschen Rüstungsindustrie orientierten Kampfansage nicht ohne Weiteres zu eigen machen würden.

Die SPD hingegen macht einen beinahe abstrakten Wahlkampf, obwohl sie vergleichsweise ungewöhnliche Wege geht, um Menschen zu erreichen, wie uns zum Beispiel dadurch, dass sie einen amerikanischen Internet-Sender bespielt, um auf Deutsch Werbung für sich und Europa zu machen. Da muss die Not groß sein, könnte man witzeln, wenn das Ganze nicht so ernst wäre. Jedenfalls sind die Plakate so betextet und auch bestückt, nämlich mit der EU-Spitzenkandidatin und dem Kanzler, dass man nicht groß nachdenken muss, um eine europäische Dimension zu ermitteln, denn Frieden und Arbeitsplatzsicherung sind natürlich auch nationale Themen. Hingegen wird niemand auf die Idee kommen, ein Wahlplakat zu fertigen, das den europäischen Asylpakt in den Vordergrund rückt, obwohl sich auch dieses Thema in den einzelnen Ländern gut spiegeln lässt. Es ist aber schon zu konkret, um es beurteilen zu können, muss man Details wissen, und steht von links wie von rechts in der Kritik.

In einer Sache könnten rechte Erfolge zur Besinnung führen  und eine Atempause sogar als eine gute Idee kenntlich machen. Dabei geht es um die territorialen Erweiterungen. Wir haben vielfach beschrieben, warum diese der Stabilität der EU schaden und die Fliehkräfte verstärken würden. Das ist aber keine rechte Einstellung, nur weil gewisse rechte Parteien sie vertreten, sondern eine Einstellung pro Demokratie und Qualität, und beides lässt schon in den meisten derzeitigen Mitgliedsstaaten nach. Was noch fehlt, wäre eine Absenkung der Standards, damit Länder in Osteuropa, falls man sie überhaupt noch geografisch zu Europa zählen kann, sozusagen in allen demokratischen Belangen hinkend in die EU hineinstolpern können und sie außerdem wirtschaftlich in erheblichem Maße schwächen würden. Kein geopolitischer Schachzug kann so wertvoll sein, dass er die Tatsache überlagern darf, dass die EU dadurch immer weiter Schaden nimmt. Schon die Osterweiterung nach der Wende erweist sich heute als zunehmend problematisch, aber damals war die alte EG noch stark genug oder fühlte sich stark genug, um diese Länder hochzuziehen. Die Geschichte lehrt uns immer wieder, dass man sich nicht überschätzen soll, aber natürlich erlaubt sie keinen Ausblick auf die Zukunft und nie sind Vorgänge im Hier und Jetzt exakte Abbilder früherer Lagen und Ereignisse.

Deswegen ist die sogenannte Kontextualisierung auch nicht schwer: Die EU muss, das geht aus dem Artikel hervor, erst einmal intern verbessert werden, um robust genug für weitere Expansionen sein, und neue Länder sollten von Beginn an die EU nicht vor allem als Zapfstelle für gigantische Fördertöpfe sehen, sondern es muss den Regierungen klar sein, dass sie viel Macht abgeben müssen und dass sie sich einer EU-weiten Öffentlichkeit stellen müssen, womit wir den Kreis zur derzeit kaum vorhandenen EU-Öffentlichkeit schließen. Vielleicht haben es dann einige gar nicht mehr so eilig mit dem Beitritt, wenn man ihnen das klarmacht.

Die EU muss dringend Qualität vor Quantität stellen, wenn sie (weiterhin, endlich wieder oder endlich überhaupt, je nach Sichtweise) ein Erfolgsprojekt sein soll. Wir würden sogar lieber ein paar Länder ziehen lassen, deren Bevölkerung sich mit dem europäischen Geist inkompatible Regierungen wählen, als immer weitere Risiken des Zerfalls einzugehen, weil heutzutage die schwächeren, nicht die stärkeren Demokratien und Standards einer aufgehetzten Bevölkerung als Vorbild dient.

Gerade der Brexit hat gezeigt, wie schnell es außerdem passieren kann, dass starke Länder die EU verlassen, weil die Bevölkerung nicht mehr überwiegend Vorteile in der Zugehörigkeit zu ihr sieht. Auch diese Entscheidung wurde nicht zuletzt von einem Mangel an europäischem Geist und Zugehörigkeitsgefühl befördert.

Das heißt auch, die EU könnte von innen zerfallen, wenn sie nicht strikt auf demokratische Fortschritt und das Wohl der Mehrheitsbevölkerung ausgerichtet wird. Was dies für die einzelnen europäischen Staaten bedeuten würde, ist wohl jedem klar. Wir sind gespannt, wie das britische Experiment ausgehen wird, aber sollte es Erfolg haben, ist die EU in höchster Gefahr, dass weitere wichtige Länder gehen, weil die neue rechtsnationale Regierungen es den Menschen versprechen und die Menschen es gut finden.

Dagegen hilft nicht ein weiteres, rücksichtsloses Vorantreiben der neoliberalen Agenda, sondern eine Demokratisierung der Institutionen. Das könnte auch heilende Wirkung in Mitgliedsstaaten auslösen, in denen antidemokratische Tendenzen vorherrschen oder stärker werden. Insofern muss eine europäische Öffentlichkeit tatsächlich offen sein, auch bezüglich der Ergebnisse von Diskussionen, die in einer wachsamen EU-Öffentlichkeit entstehen. Ob es dabei gelingen würde, die EU auch als ideelles Projekt mehr in den Vordergrund zu rücken, wäre spannend zu sehen. Bisher ist sie vor allem ein ökonomischer Mechanismus, der nicht dazu führt, dass Animositäten zwischen den Nationen abgebaut werden. Es ist sehr auffällig und betrifft gerade uns in Deutschland, dass es hierbei erhebliche Mängel gibt und fast 70 Jahre seit der Gründung der EWG noch immer erhebliche Defizite an Gemeinsamkeit offenbaren

TH

[1] Möglicherweise handelt es sich bei der deutschen Version um eine gute, aber nicht perfekte automatische Übersetzung, die bei diesem langen Satz gestolpert ist, wir haben daher das Original dazugestellt.


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