Briefing 536 Ukrainekrieg, Russland, Ukraine, Geopolitik, Fußball-EM 2024, die Entwicklung der letzten 18 Tage.
Liebe Leser:innen, am 31. Mai haben wir zuletzt ein Ukraine-Update geschrieben (es ist unten angehängt, hier aber auch der Link). Wir wollten das fortsetzen und lassen uns auch nicht von der aktuelle dominierenden Fußball-EM stoppen.
Wir finden es gut, dass einmal ein anderes Ereignis die Kriege etwas aus dem Schlagzeilen nimmt. Psychologisch fänden wir es auch gut, wenn Deutschland bei der Heim-EM weit nach vorne käme, unabhängig von unserer Einstellung, dass Patriotismus keinesfalls die internationale Solidarität ersetzen oder mindern darf. Aber dieses Land war noch nie in einer so schlechten mentalen Verfassung. Noch nie? Und was war nach dem Zweiten Weltkrieg? Es war anders, und wir behaupten sogar, es war nicht so deprimierend. Weil zum Beispiel bei einigen das befreit sein und bei allen Überleben eine Mentalität, die m an mit „kaum zu glauben, aber wir haben es überstanden, jetzt muss es einfach weitergehen“ beschreiben könnte, eine Rolle spielte. Das ist nicht mit den heutigen Verlustängsten zu vergleichen, die Generationen von heute sind anders als die damaligen.
Deswegen ist es auch so schwierig, im Ukrainekrieg einen guten Kurs zu halten, wir haben das Dilemma vielfach beschrieben. Um etwas mehr Dampf in die Informationsverarbeitung zu bringen, haben wir heute folgende Quellen als Basis für den folgenden Artikel ausgewählt, die in der Zeit seit unserem letzten Update erschienen sind:
Wladimir Putin heißt russische Zusammenarbeit mit AfD gut | WEB.DE
„Wenn wir so weiter machen, dann wird die Ukraine das nicht überstehen“ (msn.com)
Putin äußert sich ausführlich zu möglichem Atomschlag | WEB.DE
Scholz begründet Waffen-Entscheidung für Ukraine – Die Lage im Überblick | WEB.DE
Deutsche Raketen auf Russland: Sind wir längst im Krieg? (t-online.de)
Ukraine-Krieg: Deutsche Waffen gegen Russland – wer stoppt uns? (msn.com)
a) Informationsblock
Putin verteidigt Zusammenarbeit mit AfD und droht mit Vergeltung
Auf dem Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg hat der russische Präsident Wladimir Putin die Zusammenarbeit mit der AfD verteidigt. Er erklärte, Russland werde „mit allen zusammenarbeiten, die mit Russland arbeiten wollen“ und sehe „keine Anzeichen von Neonazismus in den Handlungen der AfD“. Gleichzeitig warf er der AfD jedoch vor, keine „systematischen Beziehungen“ mit Russland zu pflegen.
Bundeskanzler Olaf Scholz kritisierte Putins Lob für die AfD scharf und nannte es „peinlich“, dass die Partei eine enge Beziehung zu Putin pflege. Führende AfD-Politiker wie Alice Weidel hatten in der Vergangenheit prorussische Positionen vertreten. Es gibt Vorwürfe, dass russisches Geld an AfD-Politiker wie Maximilian Krah und Petr Bystron geflossen sein soll.
Putin drohte zudem mit einer „asymmetrischen Antwort“, sollte die Ukraine mit westlichen Waffen russisches Territorium angreifen. Er deutete an, Russland könnte dann Waffen in anderen Weltregionen stationieren, von denen aus Angriffe auf russische Ziele gestartet werden könnten.
Zuvor hatten mehrere Länder wie Deutschland und die USA der Ukraine erlaubt, mit westlichen Waffen russische Ziele anzugreifen.
Zum Einsatz von Atomwaffen äußerte sich Putin ausführlich. Er betonte, Russland werde Nuklearwaffen nur im äußersten Notfall einsetzen und habe derzeit keine Notwendigkeit dafür. Die russische Nukleardoktrin sei jedoch ein „lebendes Instrument“, das sich an veränderte Umstände anpassen könne. Putin bezweifelte zudem, dass die USA im Falle eines russischen Angriffs auf Europa in einen strategischen Atomkrieg eintreten würden.
Mögliche Lieferung von Taurus-Raketen
Eine weitere Drohkulisse baute Putin im Hinblick auf eine mögliche Lieferung deutscher Taurus-Raketen an die Ukraine auf. Dies würde die deutsch-russischen Beziehungen „zerstören“, warnte er. Die Taurus-Rakete hat eine Reichweite von mehreren Hundert Kilometern und kann gehärtete Ziele wie Bunker angreifen. Polen drängt auf eine Lieferung der Raketen an die Ukraine.
b) Meinung in pro und contra + Zusammenfassung
Zu Putin und der AfD
- Putins Äußerungen auf dem Wirtschaftsforum zeigen einmal mehr, wie der Kreml-Chef versucht, den Westen einzuschüchtern und zu spalten. Die Verteidigung der Zusammenarbeit mit der rechtsextremen AfD ist dabei ein gefährliches Spiel. Einerseits ist es nicht überraschend, dass Putin die AfD unterstützt. Die Partei vertritt seit Jahren prorussische Positionen und steht der NATO und EU äußerst kritisch gegenüber. Andererseits ist es mehr als fragwürdig, dass der russische Präsident einer demokratischen Oppositionspartei in Deutschland seine Zustimmung erteilt. Dies zeugt von einer Missachtung der politischen Souveränität Deutschlands.
- Der Westen mischt sich auch in die Souveränität anderer Staaten ein, indem er klare Ansagen macht, welche politischen Kräfte er dort bevorzugt. Dies sind nicht immer demokratische Kräfte. So wurde Russlands Kremlkritiker Alexej Nawlny nicht zuletzt nach seinem Tod auf ein Podest gehoben, das ihm nicht zukommt. Nawalny ist ein Rechtsradikaler und Rassist gewesen, das ist durch Aussagen von ihm belegt. Die Sympathie für ihn ausschließlich auf seine Gegnerschaft zu Wladimir Putin aufzubauen, wäre vor allem dann gefährlich gewesen, wenn er Putin tatsächlich hätte ablösen können. Russland wäre dann keineswegs mehr in die Mitte und in Richtung Demokratie gerückt.
Zu den westlichen Waffenlieferungen
- Putins Drohungen im Zusammenhang mit Waffenlieferungen an die Ukraine sind ebenfalls höchst besorgniserregend. Die Androhung einer „asymmetrischen Antwort“ und die Stationierung von Waffen in anderen Regionen zeigt, dass der Kreml bereit ist, den Konflikt weiter zu eskalieren und auszuweiten. Dies ist ein unkalkulierbares Risiko für die internationale Sicherheit. Besonders alarmierend sind Putins Äußerungen zum Einsatz von Atomwaffen. Auch wenn er deren Einsatz nur für den äußersten Notfall in Aussicht stellt, ist die bloße Erwähnung dieser Option eine nicht hinnehmbare Drohgebärde. Der Kreml scheint bereit, alle Tabus zu brechen, um seine Interessen durchzusetzen.
- Die atomaren Drohungen von Putins und seines Beißers Medwedews Seite sind so alt wie der Ukrainekrieg. Dass Putin sich wirklich darauf verlässt, dass die USA nicht für Europa eintreten würden, ist allerdings ein Punkt, den wir bereits mehrfach besprochen haben: Wir haben ebenfalls die Befürchtung, dass vor allem unter einer Regierung Trump die USA sich ihren Bündnispflichten versuchen würden zu entziehen. Deswegen versucht die NATO nun mit Eigeninitiativen gegenzusteuern, die bereits einen möglichen Regierungswechsel in den USA im Blick haben und vorher unumkehrbare Fakten schaffen sollen. Unsere Befürchtungen sind allerdings nicht mit dem strategisch notwendigen Kalkül von Wladimir Putin gleichzusetzen, welches auch die das Risiko beinhalten muss, dass die NATO doch zusammenhält.
- Richtig ist es auf jeden Fall, dass die NATO sich auf die Drohungen aus dem Kreml einstellt und Vorsorgemaßnahmen trifft. Ein direktes Contra schreiben wir deshalb bei diesem Punkt nicht, denn wie auch immer man die Gründe für die Entstehung der aktuellen Lage bewertet, die Verteidigungsbereitschaft des Westens muss in dieser Lage gewährleistet werden.
Spielen die Wahlergebnisse der Europawahl Putin in die Karten? Dieser Punkt war nicht in einer der oben verlinkten Quellen beschrieben oder analysiert worden. Wir beschränken uns im Wesentlichen auf ein knappes Statement zur EU und auf Deutschland.
- Das ist der Fall, denn in vielen europäischen Ländern wurden rechtsnationale Kräfte gestärkt, die den Zusammenhalt der EU schwächen wollen und teilweise, wie die AfD, auch dezidiert pro Putin sind. Eine schwächere EU kann Putin nur recht sein, zumal, siehe oben, auch die Zuverlässigkeit der USA in Rede steht.
- Nicht alle Rechten in Europa sind putinfreundlich, das gilt zum Beispiel nicht für die regierende italienische Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni. Die AfD hingegen wurde bei den Europawahlen nicht stark genug, als dass man ihr Abschneiden als mehrheitlichen Willen der deutschen Bevölkerung interpretieren könnte. Die ihr bei vielen innenpolitischen Themen am nächsten stehenden rechten Parteien CDU/CSU und FDP sind außenpolitisch anderer Ansicht als die AfD, sie sind die stärksten Befürworter der Ukrainehilfen neben den Grünen. Die nächste Bundesregierung wird wohl nicht eine Fortsetzung der Ampel sein, aber mit einer die nächste Regierung anführenden Union würde sich außenpolitisch in Deutschland nicht viel ändern.
Wie muss der Ukrainekrieg im Westen weitergedacht werden?
- Insgesamt zeigt sich Putin von seiner skrupellosesten Seite. Er sät Zwietracht in Deutschland, droht der Ukraine und dem Westen unverhohlen und spielt sogar mit dem Gedanken an einen Atomkrieg. Dies ist die Sprache eines Diktators, der jeglichen Realitätssinn verloren hat. Der Westen muss in dieser Situation Stärke und Einigkeit zeigen. Appeasement-Politik gegenüber Putin hat in der Vergangenheit nicht funktioniert und würde nur zu weiteren Eskalationen führen. Stattdessen müssen die Sanktionen gegen Russland aufrechterhalten und die Unterstützung für die Ukraine fortgesetzt werden. Nur wenn der Kreml erkennt, dass Aggression keinen Erfolg bringt, besteht eine Chance auf eine friedliche Lösung des Konflikts.
- Zu den Sanktionen haben wir uns bereits an anderer Stelle kritisch geäußert, vor allem, nachdem sich gezeigt hatte, dass sie nur dazu führen, dass Putin sich enger an das mächtige China anschließt und außerdem die deutsche Wirtschaft zu stark unter ihnen leidet. Jetzt plötzlich alles zu drehen, ist leider auch keine Option, man hat sich für diesen Weg entschieden und könnte ihn nutzen, um selbst wirtschaftlich autarker zu werden. Das ist auch wegen des zunehmenden ökonomischen Drucks wichtig, den China auf andere Länder ausübt und den wir, anders als den Ukrainekrieg, haben kommen sehen. Chinas Politik ist im Grunde nicht schwer zu interpretieren.
- Wir hatten lediglich eine Quelle mitgenommen, die sich klar gegen weitere westliche Hilfe ausspricht, die wollen wir nicht ganz unter den Tisch fallen lassen. Wir glauben aber nicht, dass die darin ausgedrückten Ängste ein guter Ratgeber in der aktuellen Lage sind und dass sie außerdem mehr als fragwürdige Analogien enthält. Die Zerstörung Moskaus durch die Russen selbst vor dem Einrücken der Grande Armee Napoleons, damit diese Armee dort keine verwendbare Logistik mehr vorfindet und dass diese aus allergrößter Not geborene Taktik funktioniert hat, als Beleg dazu zu verwenden, dass Putin bewusst eine atomare Zerstörung Russlands durch einen Dritten Weltkrieg riskieren würde, um seinen Traum (von was eigentlich?) durchzusetzen, ist eine ganz und gar fehlgehende historische Analogie, schon gar nicht ist die aktuelle Situation mit dem Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion 1941 zu vergleichen, das weiß sicher auch Wladimir Putin. Man darf die Russen nicht unterschätzen, sie aber auch nicht an der falschen Stelle bezüglich ihrer Leidensfähigkeit so überhöhen, dass man ihnen unterstellt, sie würden sich auf Befehl Putins in der heutigen Zeit lieber komplett selbst vernichten, als nicht die ganze Ukraine an Russland anschließen zu dürfen.
- Bei all dem wird es trotzdem zu einem Kompromissfrieden kommen müssen. Es ist unrealistisch, dass die Ukraine die durch Russland bereits eroberten Gebiete komplett zurückholen kann. Vor allem die Absicherung eines kompromissweisen Friedens ist sehr wichtig, damit Putin nicht bei der nächsten günstigen Gelegenheit wieder zuschlägt. Das trauen wir ihm ohne Weiteres zu, nicht nur in der Ukraine, sondern auch in anderen Ex-Sowjetrepubliken. Es ist nur eine Frage der Risikoabwägung, und darin ist er geschult: genau so weit zu gehen, wie es gerade noch möglich ist, ohne dass die Lage komplett außer Kontrolle gerät. Wenn der Westen einknickt, wird Putin die Ukraine komplett unterwerfen, wenn der Westen sich nicht kompromissbereit zeigt, wird dieser Krieg noch sehr lange dauern. Es muss im Westen ernsthaft darüber diskutiert werden, wie viele hunderte von Milliarden Dollar oder Euro noch dorthin fließen sollen, ohne dass auch nur das Vorkriegsergebnis restituiert werden kann. Ein Totrüsten Russlands wäre möglich, angesichts der gewaltigen ökonomischen Überlegenheit des Westens, aber nicht eine Restitution der Ukraine im Zustand vor der Krim-Eroberung 2014 ohne den Einsatz westlicher Bodentruppen.
- Wir sind nach wie vor gegen den Einsatz westlicher Bodentruppen, auch wenn diese Diskussion, wie wir seit Langem fürchtet haben, nun auch immer mehr an Fahrt aufnimmt.
Es bleibt beim Balanceakt und beim Ukraine-Dilemma, das wir bereits in mehreren Varianten beschrieben haben. Der Einsatz ist grundsätzlich richtig, aber er muss verhältnismäßig bleiben, wie jede vernunftgesteuerte Politik. Geopolitisch hat der Westen ohnehin den Schaden, er ließe sich bloß dadurch abwenden, dass Russland diesen Krieg tatsächlich komplett verliert. Das Dilemma: Den maximalen Einsatz zu bringen und das maximale Risiko einzugehen, das hat im Westen niemand vor, auch wenn gewisse Großschnauzen immer wieder vorpreschen, in Wirklichkeit aber viel weniger für die Ukraine tun als zum Beispiel Deutschland. Wir haben bei der Europawahl nach langer Abwägung doch nicht die SPD gewählt, aber den rhetorisch vorsichtigen Kurs von Kanzler Olaf Scholz unterstützen wir nach wie vor und konzentrieren uns darauf, was wirklich geleistet wird. Das ist eine ganze, große Menge. Kein anderes Land hängt sich so weit rein wie Deutschland, keine andere Regierung faktisch so weit aus dem Fenster wie die Bundesregierung.
Wir tendieren dazu, lieber eine weitere geopolitische Schlappe des Westens in Kauf zunehmen und danach endlich zu überlegen, wie man bessere Weltpolitik machen kann, als die Hilfen für die Ukraine summenmäßig und zeitlich gegen unendlich tendieren lassen zu wollen. Wir wissen, dass ein Rückzug des Westens Putin ermutigen würde. Aber wären deshalb die europäischen Demokratien gefährdert? Nur dann, wenn sie morsch sind, kann Putin sie wirklich beschädigen. Darauf sollten deutsche Regierungen achten, dass die Demokratie weiterhin von der Bevölkerung getragen wird. Dazu gehört auch, nicht in allem nur Kriegslogik in den Vordergrund zu stellen, Stichwort Ambiguität, sondern einen Plan zu entwickeln, der in der Bevölkerung diskutiert werden kann. Wir meinen damit nicht einen Friedensplan mit Putin, das ist nach wie vor unrealistisch. Es geht darum, nach innen mögliche Szenarien offener zu kommunizieren. Darin ist leider Scholz ganz besonders schlecht und trägt mit dazu bei, dass die Bevölkerung bei allem, was die Ukraine angeht, beinahe 50/50 gespalten ist – vor allem bei Erweiterungen aller Art, die kriegslogisch sind, aber auch Ängste wachrufen.
Eines muss ebenjene Bevölkerung aber wissen: Wenn sie 2025 eine rechtskonservative Regierung wählt, wird sich entweder erweisen, dass sie ein Papiertiger ist, die Ukraine betreffend, oder sie muss Deutschland gemäß ihrer aktuellen Rhetorik einem noch größeren Kriegsrisiko aussetzen und wird die Mehrheit zugunsten der Ukraine und zugunsten der reichen Profiteure noch mehr schröpfen, um das alle zu finanzieren. Die Wähler:innen werden sich also fragen müssen, ob sie dazu bereit sind. Ansonsten steht ihnen die nächste politische Enttäuschung nach der Ampel gewiss ins Haus und das wird wiederum die AfD stärken.
Die Ukraine-Russland-Politik bleibt extrem schwierig, aber eines steht fest: Sie darf Deutschland nicht noch über viele Jahre hinweg so belasten wie seit Februar 2022. Entweder müssen endlich positive Gegenakzente auf andere Gebieten gesetzt werden oder man muss sich eingestehen, dass man zwar wirtschaftlich immer noch potenter ist als Russland, aber nicht stärker, weil ein Diktator die Wirtschaft nun einmal viel leichter auf Krieg trimmen kann, als es in einer Demokratie möglich ist, die nicht selbst angegriffen wurde.
TH
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