Asylverfahren außerhalb der EU? (Umfrage + Infos + Kommentar) | Briefing 565 | Gesellschaft, Immigration, PPP Politik Personen Parteien, Asylverfahren, Geflüchtete

Briefing 565 PPP, Aslrecht, Geflüchtete, Ukraine, Immigration, Integration, Strafverfahren, Straftäter, Rechtsstaat, Gesellschaft, Aufnahmebereitschaft

2 Millionen suchen einen Asylbewerber. Während zum Beispiel die Taliban in Afghanistan versuchen, ein Geschäft mit „Rückführungen“ zu machen, lässt die deutsche Politik weitere Ideen prüfen, welche die Immigration eindämmen sollen. „Asylanträge außerhalb der Grenzen“ ist eine dieser Ideen. Daraus hat Civey eine Umfrage gemacht, mit der wir in die Woche starten: Asylverfahren außerhalb der EU? Wir kommentieren unterhalb der Erklärung der Meinungsforscher zum Thema.

Wie bewerten Sie die Forderung, deutsche Asylverfahren in Drittstaaten außerhalb der EU durchzuführen?

Der Begleittext aus dem Civey-Newsletter

Am Donnerstag diskutierten die Ministerpräsident:innen über eine mögliche Auslagerung von Asylverfahren außerhalb der Europäischen Union. Da keine Einigung gefunden wurde, sollen bis zum nächsten Bund-Länder-Treffen im Dezember konkrete Vorschläge für Drittstaaten-Modelle folgen, berichtete die tagesschau. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) versprach, man werde die Möglichkeiten überprüfen. Er verwies jedoch laut Spiegel auch darauf, dass die Anzahl der Asylanträge im Vergleich zum Vorjahr um fast 20 Prozent gesunken sei. Zugleich habe es 30 Prozent mehr Abschiebungen gegeben. 

Vor allem CDU-geführte Bundesländer sprechen sich für eine Auslagerung der Asylverfahren aus. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) forderte im Deutschlandfunk direkte Verhandlungen mit den Regierungen in Syrien und Afghanistan über Abschiebungen von Straftätern in diese Länder. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) verwies in der Rheinischen Post auf eine Expertenbefragung des Bundesinnenministeriums, wonach solche Verfahren grundsätzlich möglich seien. Irreguläre Migration müsse auch zugunsten des gesellschaftlichen Zusammenhalts beendet werden, so Wüst. 

Die meisten Expertinnen und Experten äußerten sich jedoch skeptisch – auch weil die Verfahren der SZ nach ineffizient und teuer seien. Der Wohlfahrtsverband Caritas kritisiert die Forderung laut ntv als eine „Scheinlösung“, die nur menschenfeindliche Ausrichtungen stärke. Über 300 Organisationen forderten Scholz in einem öffentlichen Brief auf, die Unionsvorschläge abzulehnen, da sie „eine Gefahr für die Rechtsstaatlichkeit“ seien. Bremens Regierungschef Andreas Bovenschulte sieht das dem WDR nach ähnlich. Er verwies auf vergleichbare Pläne Großbritanniens, die „krachend an der Realität” gescheitert seien. 

Kommentar

So ist das, wenn man den Kopf verliert und Logik und Fakten außer Acht lässt. Die Stimmung ist so migrationsfeindlich, dass nicht weniger als zwei Drittel der Abstimmenden derzeit absolut für diese Form von Drittstaatenlösung sind, bei der es nicht um Abschiebungen geht, sondern darum, dass gar nicht erst eine Aufnahme stattfindet. Sinn ergibt dies vor allem dann, wenn alle möglichen Länder zu sicheren Drittstaaten erklärt werden, in denen die Menschenrechte nachweislich verletzt werden. Nur, wenn Asylanträge mehrheitlich abgelehnt werden, kann sich das oben beschriebene System überhaupt lohnen. Natürlich wird auch für unfassbare Summen pro Person abgeschoben. Es wird auch nicht billiger dadurch, dass jemand straffällig geworden ist. Dass eine Drittstaatenlösung in Großbritannien gerade scheitert – wen kümmert’s, wenn politischer Aktionismus angesagt ist?

Vielleicht ist es daher gut, erst einmal ein paar Fakten zu checken

Infoblock 1

Es ist nicht korrekt, dass im Jahr 2024 die Zahl der Asylanträge um 20 Prozent gegenüber 2023 zurückgegangen ist und die Zahl der Abschiebungen um 30 Prozent zugenommen hat. Tatsächlich beziehen sich die verfügbaren Daten hauptsächlich auf das Jahr 2023, und es ist nicht möglich, mitten im Jahr 2024 bereits verlässliche Aussagen über Gesamtjahresentwicklungen zu treffen. Hier sind die relevanten Zahlen und Fakten:

  1. Asylanträge:

– Im Jahr 2023 wurden in Deutschland insgesamt 351.915 Asylanträge gestellt, was einer Zunahme von 51,1 Prozent gegenüber 2022 entspricht[1]. – Von diesen waren 329.120 Erstanträge und 22.795 Folgeanträge[1].

– Im Jahr 2024 wurden in Deutschland bis Ende Mai 112.609 Asylanträge gestellt. Aufs Jahr hochgerechnet, würde das in der Tat eine Verminderung gegenüber 2023 bedeuten, die Zahl wäre jedoch a.) im längjährigen Vergleich immer noch sehr hoch und b.) fallen die Monate stark unterschiedlich aus, Monate mit vielen  Anträgen können immer noch kommen.

– Dass die Zahl der Asylanträge 2023 bei Weitem nicht die Zahl von 2016 (745.545 Asylanträge) erreicht hat, liegt u. a. daran, dass Geflüchtete aus der Ukraine keine Asylanträge stellen müssen, um in Deutschland ansässig zu werden.

  1. Abschiebungen:

– Die Zahl der Abschiebungen ist im Jahr 2023 im Vergleich zu 2022 um 27 Prozent auf 16.400 gestiegen[3].

– Von Januar bis April 2024 wurden rund 6.300 Menschen von Deutschland in ihre Heimatländer abgeschoben[5].

  1. Ausreisepflichtige Personen:

– Ende 2022 lag die Zahl der Ausreisepflichtigen bei 304.300, darunter 248.100 mit einer Duldung[3].

– Im Jahr 2023 hat sich die Zahl der Ausreisepflichtigen um 61.700 (20 Prozent) auf etwa 242.600 reduziert[3][2].

– Die Zahl der Geduldeten sank um 54.200 auf 194.000 (22 Prozent)[3].

Es ist wichtig zu beachten, dass der Rückgang der Ausreisepflichtigen im Jahr 2023 hauptsächlich auf die Einführung des Chancen-Aufenthaltsrechts zurückzuführen ist, nicht auf vermehrte Abschiebungen. Etwa 55.500 Aufenthaltserlaubnisse wurden nach diesem neuen Recht erteilt[3].

Das kommt davon, wenn man Texte ungenau abfasst. Gemeint war wohl das Jahr 2023 gegenüber 2022, nicht 2024 gegenüber 2023.  

Die Abschiebezahlen lassen darauf schließen, dass es nicht so leicht ist, hier auf höhere Werte zu kommen und sie erfassen nicht, wer nach einer Abschiebung wieder eingereist ist.

Wir haben uns zu den gegenwärtig nur 14 Prozent der Abstimmenden gestellt, die sich eindeutig gegen die obigen Ideen ausgesprochen haben. Straftäter müssen bestraft werden, das gilt für alle, aber es fehlt hier an staatlichem und justizseitigem Durchgriff. Gefängnisstrafen in Deutschland werden viel zu selten ausgesprochen und tatsächlich angetreten. Das Problem, Straftäter rechtsstaatsmäß zu sanktionieren, lässt sich aber nicht durch ultrateure Abschiebungen lösen:

Infoblock 2

Die Kosten für alle Abschiebungen in Deutschland im Jahr 2023 sind nicht vollständig und detailliert öffentlich verfügbar. Allerdings gibt es einige Hinweise auf die hohen Kosten einzelner Abschiebungen, die eine grobe Schätzung ermöglichen.

  1. **Einzelne Abschiebungen**:

   – Ein Flug von Frankfurt nach Nigeria am 16. Mai 2023 kostete fast 400.000 Euro für 32 Abgeschobene, was etwa 12.500 Euro pro Person entspricht.

   – Eine „Mini-Abschiebung“ von Leipzig nach Niger im Februar 2023 kostete 120.450 Euro für eine Person, begleitet von vier Polizeibeamten[1].

  1. **Gesamtkosten**:

   – Es wird berichtet, dass die Kosten für jede Abschiebung in die Zehntausende Euro gehen und von Frontex gedeckt werden[1].

  1. **Anzahl der Abschiebungen**:

   – Im Jahr 2023 wurden insgesamt etwa 16.430 Personen aus Deutschland abgeschoben[5].

Wenn man die durchschnittlichen Kosten pro Abschiebung (angenommen 10.000 bis 12.500 Euro pro Person) und die Anzahl der Abschiebungen (16.430) berücksichtigt, könnte man die Gesamtkosten grob auf etwa 164 bis 205 Millionen Euro schätzen. Diese Schätzung basiert auf den verfügbaren Daten und den hohen Kosten einzelner Abschiebungen, wie sie in den Berichten erwähnt werden.

Es ist wichtig zu beachten, dass diese Schätzung nicht die genauen und vollständigen Kosten widerspiegelt, da viele Faktoren wie die Art der Abschiebung (Charterflug vs. Linienflug), die Anzahl der begleitenden Beamten und andere logistische Kosten variieren können.

Neben der generell konsequenteren Sanktionierung schwerer Delikte ist für uns der wichtigste Ansatz, um die Aufnahmebereitschaft für Immigrant:innen wieder zu verbessern, dass in der EU endlich ein Verteilungsmechnismus eingeführt wird, der sicherstellt, dass sich nicht EU-Staaten aussuchen, wen sie aufnehmen und ob sie das überhaupt tun.

Deutschland leistet weiter überproportional viel bei der tatsächlichen Aufnahme, das Übergewicht ist auch größer als bei den Asylanträgen, bei denen etwa 1/5 auf Deutschland entfallen, was knapp seinem Anteil an der EU-Gesamtbevölkerung entspricht. Unter anderem hat dabei eine Rolle gespielt, dass Menschen aus der Ukraine gar nicht erst einen Asylantrag stellen müssen, also nicht in den obigen statistischen Angaben auftauchen.

Es ist interessant, zu sehen, wie mit der Tatsache umgegangen wird, dass die Infrastruktur in Deutschland im Grunde keine weiteren Aufnahmen mehr zulässt. Besonders jene, die ansonsten kritisieren, dass die Infrastruktur über viele Jahre kaputtgespart wurde, koppeln diesen Hintergrund komplett ab und verschweigen ihn, wenn es darum geht, dass Kapazitätsgrenzen in Sachen Immigration erreicht sind. Ob es die Pull-Faktoren wirklich gibt, muss gesondert untersucht werden. Es ist richtig, dass Deutschland beinahe die höchsten Leistungen an Geflüchtete zahlt, diese müssen aber in Relation zu den Lebenshaltungskosten gesetzt werden. Diese sind höher als in einigen anderen EU-Ländern und die Leistungen sind anders strukturiert. Pauschalbeträge anstatt der Übernahme der konkreten Wohnungskosten im Einzelfall würden zu erheblichen Ungerechtigkeiten führen, auch wenn sie möglicherweise steuernde Funktion hätten, weil dadurch der Zuzugsdruck auf die Großstädte etwas nachlassen könnte.

Die politische Aufgabe, der Gesellschaft eine Zukunftsvision zu vermitteln, die integrativ ist und gleichzeitig Gerechtigkeitslücken zu beseitigen, wird von der aktuellen Politik nicht wahrgenommen. Die Zivilgesellschaft kann diese Aufgabe nicht übernehmen, sondern nur das Beste aus dem machen, was vorhanden ist. Wir glauben nicht, dass Herausforderungen, die durch die Immigration verursacht werden, durch die oben genannten Maßnahmen geringer werden, sondern haben viel mehr den Eindruck, dass versucht wird, das Pferd von der falschen Seite her aufzuzäumen. Geradezu verlogen ist es jedoch, wenn populistische Kräfte auf der einen Seite heuchlerisch betonen, sie wollten das Asylrecht nicht angreifen, auf der anderen Seite aber jeden Tag die Überlastungsarie singen. Es ist klar, dass dieser Spin gegenwärtig vor allem auf die Ukrainer:innen gemünzt ist, die in der Tat aufnahmeseitig und in der Folge unweigerlich durch die Art der Leistungen, die sie erhalten, stark privilegiert worden sind gegenüber anderen Geflüchteten. Aber auch hier stellt sich die Frage: Ist es richtig, diejenigen, die 2002 schnell geschaltet und die Möglichkeit genutzt haben, ohne die üblichen Hürden in einem EU-Land ansässig werden zu können, gegenüber jenen zu bevorzugen, die in der Ukraine ausgeharrt hatten und erst gingen, als ihre Städte und Häuser in Schutt und Asche gelegt waren?

Wir sehen weitere große Fluchtbewegungen voraus, zumal, wenn es zu weiteren bewaffneten Konflikten kommt, aber auch aus wirtschaftlichen / klimaseitigen Gründen. Die EU muss prinzipiell aufnahmefreundlich bleiben, nicht zuletzt, weil sie Anteile an der Entstehung dieser Konflikte oder daran hat, nicht bei der Befriedung zu helfen. Dabei muss Deutschland nicht immer vorangehen, sondern sollte im Gleichklang mit anderen Mitgliedstaaten Immigration zulassen. Diese Botschaft könnte wichtig sein, wenn es darum geht, einen weiteren Rechtsruck zu verhindern. Nur eine EU-weite Asprache kann die Migration besser steuern. Nationalistische Parteien versprechen nationale, simpel klingende Lösungen, die es aber nicht geben wird und sie werden die Versuche untergraben, gerechtere Lösungen in der EU voranzubringen. Solche Parteien bei Wahlen zu unterstützen, wird zu großen Enttäuschungen führen und die EU-Länder schwächen, nicht stärken.

TH

Quellen zu Infoblock 1

[1] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/351-915-menschen-haben-2023-asyl-in-deutschland-beantragt-a-ef6b732c-00d5-4835-bf61-de7a85ad49e7

[2] https://mediendienst-integration.de/artikel/im-grossen-stil-abschieben.html

[3] https://www.proasyl.de/news/zahlen-fakten-zur-populistischen-debatte/

[4] https://de.statista.com/infografik/31307/anzahl-der-erstantraege-auf-asyl-in-der-eu/

[5] https://www.dw.com/de/deutschland-der-erfolg-der-afd-treibt-die-asyldebatte-an/a-69435644

[6] https://www.zeit.de/gesellschaft/2024-05/abschiebungen-zahl-ausreisepflicht-duldung-fussball-europameisterschaft

[7] https://www.ardmediathek.de/video/story/deutschland-am-limit-abschiebung-abschottung-asyl/wdr/Y3JpZDovL3dkci5kZS9CZWl0cmFnLXNvcGhvcmEtN2U4YzYzODctODYxNC00MDI3LWIyZGQtNWUzMTkzYTk1YTc2

[8] https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/abschiebungen-deutschland-2023-100.html

[9] https://www.faz.net/aktuell/politik/bundesinnenministerium-zahl-der-abschiebungen-deutlich-gestiegen-19773780.html

[10] https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/asylbewerber-migration-100.html

[11] https://www.zeit.de/gesellschaft/2024-04/asyl-deutschland-zahlen-maerz-syrien-nancy-faeser

[12] https://www.wolframalpha.com/input?input=%28103467+-+351915%29+%2F+351915+%2A+100

[13] https://www.wolframalpha.com/input?input=%286316+-+4792%29+%2F+4792+%2A+100

Quellen zu Infoblock 2

[1] https://digit.site36.net/2023/08/22/german-ministry-on-violence-and-expenses-for-returns-e120000-for-mini-deportation-of-one-person/

[2] https://www.dw.com/en/german-government-agrees-to-pay-more-for-refugees/a-65578656

[3] https://schengen.news/germany-introduces-new-migration-measures-that-will-allow-romanias-full-accession-to-schengen/

[4] https://www.statista.com/statistics/1108234/refugees-asylum-federal-expenditure-germany/

[5] https://www.statista.com/statistics/1108105/deportations-number-germany/

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