Filmfest 1108 Cinema
Harlekin ist ein deutscher Scherenschnitt-Animationsfilm aus dem Jahr 1931, geschaffen von Lotte Reiniger, deren Animationsfilm „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ (1926) als der älteste noch erhaltene animierte Langspielfilm weltweit gilt.
Wir hatten versprochen, dass wir nach „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ einige weitere Scherenschnitt- oder Silhouetten-Animationsfilme von Lotte Reiniger rezensieren werden. Es hat ein wenig gedauert, weil der Weg von 1926 nach 1931 recht lang ist, wenn man sich ausführlicher mit der Geschichte des Weimarer Kinos befassen und dabei einigermaßen chronologisch bleiben (zumindest nicht Stumm- und Tonfilme durcheinander rezensieren) will, aber hier ist die versprochene zweite Reiniger-Kritik.
Handlung (Arte, anlässlich der Ausstrahlung 2019, nicht mehr abrufbar)
Lotte Reinigers – nach eigenem Bekunden – liebster Film ist in der Bilderwelt des 18. Jahrhunderts angesiedelt. Harlekin ist ein unbekümmerter Spaßmacher, der sich in die zarte Columbine verliebt hat. Eines Tages wird Columbines Herrin von Räubern bedroht. Harlekin rettet sie und erhält aus Dankbarkeit einen Heiratsantrag, den er leichtsinnigerweise annimmt. In der Hochzeitsnacht rennt er weg und wird kurz darauf von den Gendarmen gefangen und erschossen. Nun erhebt sich der Teufel und beansprucht Harlekin für sich, aber Columbine kämpft mit dem Teufel und gewinnt ihren Liebsten für sich.
Informationen (Arte, s. o.)
Die 1931 entstandene Filmmusik stammt von dem Engländer Eric Walter White. Sein Musikarrangement baut auf Stücken von François Couperin, Jean-Baptiste Lully, Wolfgang Amadeus Mozart, Giovanni Battista Pergolesi, Jean-Philippe Rameau und Domenico Scarlatti auf; diese Stücke wurden von White für kleine Orchesterbesetzung eingerichtet.
Da die Tonspur der historischen Aufnahme sehr starke Verklirrungen aufweist, entstand die Idee einer Neueinspielung. Dafür wurde die Musik transkribiert und mit Musikern vom MDR Sinfonieorchester Leipzig unter der Leitung von Frank Strobel im Dezember 2016 neu produziert. Es ist nach unserer Ansicht ein großes Glück, dass man keine neue Musik hat schreiben lassen, denn der Trend geht diesbezüglich hin zu einer Form von Verfremdung, die das Filmerlebnis gegenüber dem Original erheblich verändert.
Eric Walter White (1905-1985) war ein vielseitig begabter Mensch, der sich schon früh für Film interessierte und später als Autor, Musikwissenschaftler und Komponist tätig war. Geboren in Bristol, kam er Ende der 1920er Jahre nach Berlin. Dort lernte er Lotte Reiniger und ihren Freundeskreis kennen. White war als Englischlehrer im Hause von Louis Hagen tätig, wo Lotte Reiniger ihr Atelier hatte. Er war von ihrer künstlerischen Arbeit sehr angetan und veröffentlichte 1931 unter dem Titel „Walking Shadows“ einen langen Aufsatz über Reinigers Filme. Harlekin war ihr erster gemeinsamer Film. Eric Walter White schrieb und arrangierte die Musik auch für die beiden 1935 erschienenen Filme „Galathea“ und „Der kleine Schornsteinfeger“, dessen Szenario er verfasste.
Eric Walter White (1905-1985) war Zeit seines Lebens ein kreativer Mensch, der künstlerische Begabung mit wissenschaftlichem Interesse und kulturpolitischem Engagement verband. Neben seiner Beschäftigung mit Literatur veröffentlichte er zwei Bücher über die Geschichte der englischen Oper und stellte Biografien über Benjamin Britten, Igor Strawinsky und Michael Tippett vor. Bis 1971 war er in der britischen Kulturadministration aktiv. 1977 erhielt er für seine Verdienste die Queen’s Silver Jubilee Medal.
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Regie |
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Musik |
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Kamera |
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Drehbuch |
Rezension
Es ist nach unserer Ansicht ein großes Glück, dass man keine neue Musik hat schreiben lassen, denn der Trend geht diesbezüglich hin zu einer Form von Verfremdung, die das Filmerlebnis gegenüber dem Original erheblich verändert. Gemäß den oben genannten Persönlichkeiten wird in dem Film aber auch Musik eingeflochten, die tatsächlich aus der beschriebenen Epoche des späten 18. Jahrhunderts stammt.
Von „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“, dem wohl berühmtesten Werk von Lotte Reiniger, das wir auch als ersten ihrer Filme rezensiert haben, gehen wir fünf Jahre voran – und ein wenig zurück. Denn die prächtige, intensive Viragierung in verschiedenen Farben gibt es bei „Harlekin“ nicht mehr und auch die Formensprache ist etwas reduzierter. Die Figuren sind wieder sehr liebevoll ausgeführt, aber die Bauten einfacher. Dem Film schadet das nach unserer Meinung nicht. Aber es ist uns etwas peinlich, dass wir ihn stellenweise nicht verstanden haben. Hat die Medienrezeption sich so verändert oder können wir nicht mehr scharf genug hinschauen? Oder ist es der ungewohnte Stil, jedenfalls waren wir an mehreren Stellen darüber im Zweifel, was gerade geschehen war.
Lotte Reiniger hätte es uns erklären können, sie mochte diesen Film besonders gerne, der am Ende einen gelungenen Twist aufweist, bei dem wir auch keine Verständnisprobleme hatten. Würde man den jungen Harlekin in einem Realfilm so darstellen wie hier, müsste man sich einiges einfallen lassen, um ihn als positiven Helden herauszukehren. Er wirkt im ersten Drittel des Films trickreich, indem er die Frau eines anderen durch eine Eselsfinte für sich gewinnen kann. Danach lernt er seine eigentliche Liebe kennen, was dadurch verdeutlicht wird, dass er von Cupido einen Pfeil verpasst bekommt, aber er ist auch der Arbeitgeberin von Columbine nicht abgeneigt. Dabei passt sie doch gar nicht zu ihm. Das ist sehr witzig gemacht. Die erste Frau, der er sich annähert, ist zu klein für ihn, die vermutliche Adelige mit dem Lorgnon und der Glocke, mit der sie nach dem Dienstmädchen Columbine läutet, hingegen zu groß. Auf diese Weise wird schon klargestellt, dass die optisch am besten zu ihm passende Person auch die richtige Wahl darstellt. Jetzt kann man wieder sagen, da werden diskriminierende Muster bedient, aber wir sind im Jahr 1931 und es handelt sich um eine äußerst treffsichere Form von Visualisierung zu großer Ungleichheit. Wenn man es freilich dann im Sinne von Klasse gegen Klasse interpretiert, kommt man leicht auf die ohnehin feststehende Wahrheit: Sie haben (in der Regel) nichts gemein.
Handlungsseitig ist der Film eine richtige Räuberpistole und endet – beinahe – mit standrechtlichem Erschießen. Mit den Herrschenden ist nicht zu spaßen, wenn sie in ihrer übermäßigen Eitelkeit verletzt sind. Es gibt die eine oder andere Wiederholung, Motive betreffend, die wir in „Achmed“ schon gesehen haben, etwa das Loch, in das die Sänfte mit der Edelfrau hineinfällt. Harlekin hat, das merkt man auch daran, wie es bewegungsseitig dargestellt wird, ein wenig Mühe, sie aus dieser misslichen Lage zu befreien.
Großartig ist, wie schon bei „Achmed“, die Musik, die sich tatsächlich ans 18. Jahrhundert anpasst, weshalb auch nicht Klavier, sondern auf dem Cembalo gespielt wird. An einer Stelle gibt es ein geradezu chaplineskes Ständchen, lauten Gesang ohne sinnvollen Text, vorgetragen ordnungsgemäß unter dem Balkon der Angebeteten von einem Typ, der uns doch an Don Quichote erinnert hat. Falls dieser Gesang zur Originalmusik gehört, wäre er fünf Jahre älter als die berühmte Restaurant-Performance von Chaplin in „Moderne Zeiten“. Wir gehen aber davon aus, dass dem nicht so ist, denn dann müsste ja ein ausführendes Orchester immer auch einen Sänger eigens dafür verpflichten, dass er diese ca. 90 Sekunden bewältigt, die nicht unbedingt geeignet sind, um seinen Ruhm zu mehren.
Mit 41 Minuten Spielzeit ist „Harlekin“ wesentlich kürzer als „Achmed“ (65 Minuten), dafür ist der Plot aber, bis auf den Moment, in dem der Esel unvermittelt wieder zu Harlekin zurückfindet, schlüssig. Mit der oben genannten Einschränkung und dem Hinweis auf die Rezension zu „Achmed“, den sehr intuitiven, fantasie- und schwungvollen, aber märchenhaften und sprunghaften Handlungsverlauf.
Finale
Woher wir das wissen, obwohl wir ein paar Problemchen mit der Auffassungsgabe hatten? Weil wir das Gesehene nochmal mit der obigen Handlungsbeschreibung von ARTE abgeglichen haben. Wir hinterfragen dieses Mal nicht, ob der Film einen aktuellen Zeitbezug hatte, wir meinen eher, er steht ganz für sich selbst und die wunderbare Fantasie von Lotte Reiniger. Bei Werken, die ab 1933 entstanden sind, werden wir nochmal hinschauen, zumal Reiniger Deutschland 1935 verließ und viele jüdische Freunde hatte, um die sie sich sorgte.
77/100
© 2024 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2019)
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