Die Verhandlungen sind eröffnet: Die EU gewährt Moldau und der Ukraine offiziellen Beitrittskandidaten-Status | Briefing 567 EUpdate | Beitritt, Ukraine, Moldau

Briefing 567 EU Update, Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine, mit der Republik Moldau, Russland-Ukraine-Krieg, Geopolitik, Ökonomie, Expansion, Risiken

Man kann der EU nicht vorwerfen, dass sie die Ukraine nicht hinreichend und auf vielfältige Art und Weise in ihrem Abwehrkampf gegen die russische Invasion unterstützt. Vorgestern wurde das 14. Sanktionspaket gegen Russland beschlossen, darüber haben wir gestern berichtet.

Nun geht es schlag auf Schlag: Gestern wurden Verhandlungen mit der Ukraine über eine EU-Mitgliedschaft aufgenommen [1] und der Status der Geflüchteten aus der Ukraine wurde bis 2026 verlängert. Fast nebenbei hat die EU auch mit Moldawien Beitrittsverhandlungen aufgenommen.

Wir haben die Fakten und Einschätzungen dazu.

 ## Fakten

  1. **Offizieller Beginn der Beitrittsverhandlungen**: Die EU hat formell die Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine eröffnet. Dies ist ein komplexer und langwieriger Prozess, der mehrere Jahre dauern kann.
  2. **Politische und wirtschaftliche Reformen**: Die Ukraine muss umfangreiche politische und wirtschaftliche Reformen durchführen, um die EU-Standards zu erfüllen. Dies umfasst Bereiche wie Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung, Menschenrechte und wirtschaftliche Stabilität.
  3. **Geopolitische Bedeutung**: Der Beginn der Beitrittsverhandlungen hat eine erhebliche geopolitische Bedeutung, insbesondere im Kontext der aktuellen Spannungen zwischen der Ukraine und Russland. Die EU signalisiert damit ihre Unterstützung für die Ukraine und ihre Unabhängigkeit.
  4. **Unterstützung durch EU-Mitgliedstaaten**: Die Entscheidung, die Beitrittsverhandlungen zu eröffnen, wurde von den EU-Mitgliedstaaten einstimmig unterstützt, was die Solidarität innerhalb der EU gegenüber der Ukraine unterstreicht.

## Kritische Einschätzung

### Positive Aspekte

– **Stärkung der Beziehungen**: Die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen stärkt die Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine und fördert die Integration der Ukraine in europäische Strukturen.

– **Reformdruck**: Der Beitrittsprozess übt Druck auf die ukrainische Regierung aus, notwendige Reformen durchzuführen, was langfristig zu einer stabileren und demokratischeren Ukraine führen kann.

– **Sicherheitsaspekt**: Die EU zeigt durch diesen Schritt ihre Unterstützung für die Ukraine in einer Zeit, in der das Land mit erheblichen sicherheitspolitischen Herausforderungen konfrontiert ist.

### Herausforderungen und Kritik

– **Langer und unsicherer Prozess**: Der Beitrittsprozess ist langwierig und unsicher. Es gibt keine Garantie, dass die Ukraine alle notwendigen Reformen erfolgreich umsetzen kann oder dass die EU-Mitgliedstaaten am Ende des Prozesses einem Beitritt zustimmen werden.

– **Interne EU-Dynamiken**: Innerhalb der EU gibt es unterschiedliche Meinungen über die Erweiterung. Einige Mitgliedstaaten könnten Bedenken hinsichtlich der Aufnahme eines weiteren Landes haben, insbesondere angesichts der wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen, die die Ukraine mit sich bringt.

– **Russische Reaktionen**: Die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen könnte zu einer Verschärfung der Spannungen mit Russland führen, das die Annäherung der Ukraine an die EU und die NATO als Bedrohung ansieht.

### Pressemeinungen

– **Optimistische Stimmen**: Einige Medien und Experten sehen die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen als positiven Schritt, der die Ukraine näher an Europa bringt und die europäische Integration fördert. Sie betonen die Bedeutung der Unterstützung der Ukraine in ihrer aktuellen Lage.

– **Skeptische Stimmen**: Andere Stimmen sind skeptischer und weisen auf die zahlreichen Herausforderungen hin, die vor der Ukraine liegen. Sie betonen, dass der Weg zur EU-Mitgliedschaft lang und steinig ist und dass es keine Garantie für einen erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen gibt.

Insgesamt ist die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine ein bedeutender Schritt, der sowohl Chancen als auch Herausforderungen mit sich bringt. Die kommenden Jahre werden entscheidend sein, um zu sehen, ob die Ukraine die notwendigen Reformen umsetzen kann und ob die EU bereit ist, das Land als Mitglied aufzunehmen.

[1] https://r.newsletter.consilium.europa.eu/mk/mr/sh/1t6AVsd2XFnIGIUnLKvbupMFChmMlC/N1-1IQEDNXpi

Kommentar

Für die einen ist es ein Zeichen dafür, dass die EU trotz aller internen Divergenzen in der Lage ist, in wichtigen Fragen außenpolitisch einig zu sein, vielleicht sogar mehr als bisher, denn noch nie gab es eine so umstrittene Erweiterungsabsicht wie jene, die Ukraine in die EU aufzunehmen. Für die anderen ist es eine Beschleunigung der Kanonenkugel, auf der EU durch ihre Einmischung in den Ukraine-Russland-Krieg seit mehr als zwei Jahren reitet. Wir haben das Ukraine-Dilemma vielfach beschrieben, in dem sich der Westen befindet. Hilft man der Ukraine nicht, lädt man Russland zu weiteren Aggressionen ein. Hilft man weiter, muss man auch weiter expandieren, damit die Hilfe einen Sinn ergeben soll. Unsere Ansicht, dass der Westen den Krieg nur mit Bodentruppen wenden könnte, haben wir mehrfach vorgetragen, ohne dass wir damit andeuten wollten, dass wir diesen Weg als eine gute Idee ansehen.

Die EU ist in einer weitaus schwierigeren Lage als die USA. An ihr orientieren sich zwar die anderen westlichen Staaten, aber die USA wären lediglich mit einer weiteren geopolitischen Schlappe konfrontiert, sollte Russland den Ukrainekrieg gewinnen. Ihre eigene Sicherheit wäre jedoch nicht gefährdet und wirtschaftlich profitieren die USA von diesem Krieg mehr als die EU-Staaten. Wir gehen davon aus, dass Russland nach einem Sieg in der Ukraine weitere Länder angreifen würde. Vor allem die weiteren EU-Beitrittskandidaten, die nicht NATO-Mitglieder sind, stünden dabei vermutlich im Fokus. Eines davon ist Moldawien, mit dem die EU nun ebenfalls Verhandlungen aufgenommen hat.

Die Zahl der Konfliktfelder für die EU erhöht sich durch diese Verhandlungsaufnahme ohnehin, denn Moldawien hat einen Gebietsstreit mit Russland, ähnlich wie er in der Ostukraine stattgefunden hat, bevor Russlands Truppen dort einmarschiert sind. Das Gebiet ist kleiner, Moldawien ist kleiner als die Ukraine und wäre ein relativ leicht zu eroberndes Ziel für Russland.

Die geopolitische Niederlage, Verhandlungen mit einem Land zu führen, das von Russland binnen weniger Wochen überrannt werden könnte und dann nicht mehr existieren würde, nimmt man offenbar bei der EU in Kauf. Schützen diese Verhandlungen nun Moldawien oder erhöhen sie eher das geopolitische Gefahrenpotenzial für die EU? Auch hierzu die Fakten:

  1. **Offizieller Beginn der Beitrittsverhandlungen**: Am 25. Juni 2024 fand die erste zwischenstaatliche Konferenz auf Ministerebene statt, um die Beitrittsverhandlungen mit der Republik Moldau zu eröffnen. Dies folgt auf die Entscheidung des Europäischen Rates vom 14.-15. Dezember 2023 und die Genehmigung des Verhandlungsrahmens durch den Rat am 21. Juni 2024[1][2].
  2. **Delegationen**: Die EU-Delegation wurde von Hadja Lahbib, der belgischen Ministerin für auswärtige und europäische Angelegenheiten, und dem EU-Kommissar für Nachbarschaft und Erweiterung, Olivér Várhelyi, geleitet. Die moldauische Delegation wurde von Premierminister Dorin Recean angeführt[1][2].
  3. **Reformagenda**: Die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen nur zwei Jahre nach der Gewährung des Kandidatenstatus ist ein Beweis für Moldaus Entschlossenheit, die EU-Reformagenda zu erfüllen. Die EU betonte die Notwendigkeit, die Reformbemühungen fortzusetzen, insbesondere in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung und Menschenrechte[1][2][3].
  4. **Assoziierungsabkommen**: Moldau ist bereits ein enger Partner der EU. Das Assoziierungsabkommen, einschließlich der umfassenden und vertieften Freihandelszone (DCFTA), ist seit 2016 in Kraft und bildet die Grundlage für eine umfangreiche Zusammenarbeit in verschiedenen Bereichen[1][2].

Zitate

[1] https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/news/eu-opens-accession-negotiations-moldova-2024-06-25_en

[2] https://euneighbourseast.eu/news/latest-news/eu-opens-accession-negotiations-with-moldova/

[3] https://www.intellinews.com/moldova-starts-eu-accession-negotiations-ahead-of-cornerstone-elections-331241/

Nicht zufällig wurden die Beitrittsverhandlungen mit Moldau und mit der Ukraine am selben Tag aufgenommen. Das war als Statement von der EU so gewollt, denn die Ukraine-Krise spielt eine bedeutende Rolle in den EU-Beitrittsverhandlungen mit Moldau:

  1. Beschleunigter Prozess: Die russische Aggression gegen die Ukraine hat den EU-Beitrittsprozess für Moldau beschleunigt. Die EU eröffnete die Verhandlungen mit Moldau als Zeichen der Solidarität und um die europäische Integration in der Region zu stärken[1][3].
  2. Sicherheitsbedenken: Die Krise hat die Sicherheitslage in der Region verschärft. Die EU betont ihre Unterstützung für Moldau angesichts der Herausforderungen, die durch den Krieg in der Ukraine entstanden sind, einschließlich der Stärkung von Widerstandsfähigkeit, Sicherheit und Stabilität des Landes[1][4].
  3. Geopolitische Bedeutung: Die Beitrittsverhandlungen mit Moldau werden als Teil einer breiteren Strategie gesehen, den russischen Einfluss in der Region zu begrenzen und die europäische Integration zu fördern[3][6].
  4. Wirtschaftliche Auswirkungen: Der Krieg in der Ukraine hat erhebliche wirtschaftliche Folgen für Moldau, einschließlich Energiekrisen und Handelsunterbrechungen. Dies beeinflusst die Verhandlungen, da die EU Moldau bei der Bewältigung dieser Herausforderungen unterstützen muss[5][6].
  5. Verbundenes Schicksal: Die EU betrachtet die Zukunft Moldaus als eng mit der der Ukraine verbunden. Der Erfolg der Beitrittsverhandlungen mit Moldau wird teilweise als Unterstützung für die Ukraine und deren europäische Ambitionen gesehen[6].

Die Ukraine-Krise hat somit den Kontext der Verhandlungen grundlegend verändert, indem sie die strategische Bedeutung Moldaus für die EU erhöht und gleichzeitig neue Herausforderungen für den Beitrittsprozess geschaffen hat.

Zitate und zum Weiterlesen

[1] https://www.gmfus.org/news/what-does-launch-eu-accession-talks-mean-moldova

[2] https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/european-neighbourhood-policy/countries-region/moldova_en

[3] https://apnews.com/9e962398d75e44b6affa9a0cefbfb8b8

[4] https://www.courthousenews.com/ukraine-and-moldova-launch-eu-membership-talks-but-joining-is-likely-to-take-years/

[5] https://www.euractiv.com/section/enlargement-neighbourhood/news/ukraine-moldova-set-sight-on-next-milestones-in-eu-accession-process/

[6] https://www.csis.org/analysis/moldovas-fate-tied-ukraines-now-time-west-go-big-moldova

[7] https://www.consilium.europa.eu/en/press/press-releases/2024/06/25/statement-by-president-charles-michel-ahead-of-opening-accession-negotiations-with-ukraine-and-moldova/

[8] https://www.aljazeera.com/news/2024/6/25/eu-launches-membership-talks-with-moldova-and-ukraine

[9] https://www.euronews.com/my-europe/2024/06/25/ukraine-and-moldova-enter-formal-membership-talks-with-the-european-union

[10] https://www.reuters.com/world/europe/ukraine-set-symbolic-start-eu-membership-talks-along-with-moldova-2024-06-25/

[11] https://www.straitstimes.com/world/europe/eu-launches-historic-membership-talks-with-ukraine

[12] https://www.swissinfo.ch/eng/ukraine-set-for-symbolic-start-of-eu-membership-talks%2C-along-with-moldova/81712932

[13] https://www.german-economic-team.com/en/newsletter/war-in-ukraine-moldova-to-face-severe-economic-shock/

[14] https://www.intereconomics.eu/contents/year/2022/number/4/article/geopolitical-and-security-concerns-of-the-eu-s-enlargement-to-the-east-the-case-of-ukraine-moldova-and-georgia.html

[15] https://www.europarl.europa.eu/factsheets/en/sheet/171/three-eastern-partnership-neighbours-ukraine-moldova-and-belarus

[16] https://carnegieendowment.org/research/2024/05/bosnia-moldova-armenia-between-russia-eu?lang=en

[17] https://www.swp-berlin.org/10.18449/2024C01/

[18] https://www.intellinews.com/cenusa-geopolitics-prevails-in-the-eu-accession-agenda-for-ukraine-georgia-and-moldova-319567/

[19] https://fpc.org.uk/one-year-on-the-impact-of-russias-war-in-ukraine-on-moldova/

[20] https://www.reneweuropegroup.eu/news/2024-06-25/renew-europe-is-fully-committed-to-ukraine-and-republic-of-moldovas-future-in-the-european-family

Die umfangreiche Sammlung auch von Pressematerial, das in der obigen Zusammenfassung nicht erwähnt wird, geben wir Ihnen mit, weil der Vorgang Moldau weitaus weniger bekannt ist und weniger im Fokus der Presse steht als der Ukrainekrieg.

Viele Einschätzungen sind aber verblüffend ähnlich denen zur Ukraine, obwohl Moldau noch nicht in einen Abwehrkampf gegen eine russische Aggression verwickelt ist. Zumindest nicht direkt. Parallelen gibt es in den beiden „abtrünnigen“ Regionen Transnistrien und Südossetien sehr wohl: Die russische Taktik, dort zu infiltrieren, bevor man diese Regionen offiziell als russische Einflusszone deklariert, folgt demselben Muster wie in der ostukrainischen Donezk-Region. Mit Abweichungen im Detail selbstverständlich, aber es geht immer darum, kleinteilig den Einfluss Russlands, der nach der Einschätzung von Wladimir Putin durch die Auflösung der Sowjetunion geschmälert wurde, zurückzugewinnen. Dass dies nicht im Ganzen funktionieren kann, ist klar und Russland wird weltpolitisch niemals mehr den Einfluss haben, den die Sowjetunion als Führerin des Gegenblocks zum Westen hatte, denn diese Führerschaft hat längst China übernommen.

Umso mehr ist der Aufwand, den Russland für seine verbissene und begrenzte Wiedererlangung von Prestige betreibt, bemerkenswert. Außenpolitisch ist er höchst riskant, denn wo immer russische Interessen mit denen Chinas kollidieren könnten, wird Russland das Nachsehen haben, die Abhängigkeit von Diktaturen steigt, die in erster Linie ihr eigenes Interesse im Blick haben, nicht das von Russland. Putin als Marionette dieser Diktaturen zu bezeichnen, wäre verfrüht und wird dem Ursprung der aktuellen Dynamik nicht gerecht, aber jeder Besuch im Ausland zeigt aktuell, dass Putin als Bittsteller unterwegs ist, nicht als gleichberechtigter Partner (China, Nordkorea, Vietnam und noch folgende Länder). Deswegen muss der innenpolitische Aspekt hinzugedacht werden.

„Wenn man einem Volk Dinge nur lange genug erzählt, glaubt es irgendwann daran.“ Propaganda statt Meinungsfreiheit erleichtern diesen Prozess und beschleunigen ihn. Putin fährt seit seinem Amtsantritt (dem ersten im Jahr 2000) als Präsident zunehmend die innnenpolitische Absicherungsstrategie, die Russen als Verlierer der Wende darzustellen und den Nationalismus anzuheizen. Solange die Bevölkerung auf den Krieg konzentriert ist, der nach Putins und seiner Entourage Ansicht (und nach der seiner Propagandisten im Westen) notwendig ist, um Russlands Größe wiederherzustellen, fällt unter den Tisch, dass die Mehrheitsbevölkerung weiterhin arm ist und Russland sich nicht so entwickelt, wie es angesichts seines ungeheuren Rohstoffreichtums müsste.

Er ist nicht die Basis für zivile Technologieführerschaften und ein Volk, das nicht komplett unter dem Einfluss propagandistischer Staatsmedien steht, müsste unzufriedener sein als die Völker im Westen, die jede wirtschaftliche Verschlechterung mit erheblichen politischen Bewegungen kommentieren bzw. darauf reagieren, wie man es im Moment sieht. Ob diese Bewegungen richtig sind oder das gleiche Ergebnis wie in Russland haben, nämlich einen Rechtsruck, ist nicht die Frage: Die Möglichkeit, andere Konsequenzen zu ziehen, nämlich mehr Solidarität und eine linkere Politik einzuleiten, besteht im Westen grundsätzlich, es liegt in der Hand der Wähler:innen, in Russland haben sie diese Chance nicht.

Die Ukraine und Moldau sind bisher nicht gerade führende Demokratien gewesen, bevor die Beitrittsverhandlungen in Aussicht gestellt wurden,  den Weg dieser Länder in die EU schätzen wir in der Tat als lang und steinig ein, sofern die EU sich nicht selbst weiter schaden und auseinanderdriften und an demokratischer Substanz verlieren will, indem sie eine Beschleunigung vornimmt, die nur dann Erfolg haben kann, wenn alle bisherigen Standards erheblich unterfahren werden. Wir kritisieren „Erweiterung anstatt Verbesserung“ schon lange, aber der Ukrainekrieg hat natürlich denen, die eine rasche territoriale Vergrößerung, allen voran Kommissionspräsidentin von der Leyen, erheblichen Auftrieb verschafft. Es wird geradezu als Notwendigkeit verkauft, diese Länder schnell in die EU zu integrieren und damit die EU immer weiter nach Osten hin auszudehnen. Die Ukraine und Moldau wären nicht die ersten EU-Länder, die auch frühere Sowjetrepubliken waren, bei den drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen ist dies bereits der Fall. Diese Staaten entwickeln sich gut, sind aber auch Gegenstand der Sorge, weil sie selbst in Sorge sind, dass Russland sich nach der Ukraine zunächst ihnen zuwenden könnte. Die NATO-Mitgliedschaft der drei Staaten mindert diese Sorge etwas, beseitigt sie aber nicht. Deswegen müssen andere NATO-Staaten Flagge zeigen, u. a. die BRD mit der Verlegung einer Truppeneinheit dorthin, die ein fünfstellige Kopfzahl haben soll.

Die sogenannte Zeitenwende hat viele Aspekte, wir bleiben jedoch weiterhin der Ansicht, dass die EU sich vor allem darauf konzentrieren muss, wirtschaftlich und ethisch stärker zu werden, um die Herausforderungen der Zukunft meistern zu können. Der Beitritt der Ukraine und Moldaus würde, fände er schon in den nächsten Jahren statt, das Gegenteil bewirken. Das Gleiche gilt für Georgien und in abgeschwächtem, wiederum von Land zu Land unterschiedlichem Maß für die Staaten der Westbalkan-Region. Offenbar ist man der Ansicht, dass man das ökonomische und geopolitische Terrain, das man gerade verliert, nach einem guten Ende für die Ukraine in deren Kampf wiedergewinnen kann, also ein Mitsieger wäre und ungeahnte Kräfte freiwürden.

Das halten wir selbst in dem Fall, dass die Ukraine aus diesem Krieg gut herauskommt, für einen Trugschluss. Den verlorenen Anschluss an die Weltspitze in vielen Belangen kann man nicht so leicht kompensieren. Ein Leichtathlet, der nicht frei laufen kann, wird das Rennen auch dann nicht mehr mit einer guten Position abschließen können, wenn irgendwann die Bremsen gelöst werden, denn die anderen sind enteilt und der Läufer namens EU kann nicht plötzlich doppelt so schnell rennen, wie es seine Physis erlaubt, um den Rückstand zu kompensieren. Jahrzehnte würden vergehen, bis die EU ein anerkannter Mitspieler im ökonomischen und dadurch vielleicht auch im politischen Raum wäre. Und selbst das wäre nicht sicher, denn eine demokratische Staatengemeinschaft kann nicht alle politischen und wirtschaftlichen Steuerungshebel so widerstandslos bedienen wie eine Großdiktatur à la China. Die Freiheit erfordert Kompromisse, und diese sind mit Reibungsverlusten als Preis für ebenjene Freiheit verbunden. Das muss vor allem die jüngere Generation wissen, die die Folgen der jetzigen Politik zu tragen haben wird. Sie macht mehr den Eindruck von Zwangshandlungen auf einem nun einmal eingeschlagenen Weg macht, als dass sie strategisch wirkt und so, als ob die EU die Zügel über ihr eigenes Schicksal in der Hand hätte.

Wir lesen mittlerweile mehr die Quellen, für die die EU selbst mit ihren Publikationen sorgt, umso mehr müssen wir bei den Kommentaren etwas Abstand davon halten, denn Politik ist immer einer Bewertung zugänglich und nicht alternativlos, auch wenn das in Deutschland unseligerweise einmal behauptet wurde. Im Grunde wurde es schon mehrfach behauptet und manchmal waren die Ergebnisse nicht nur schlecht, sondern katastrophal. Politik muss klug sein und der Bevölkerung dienen, das ist ihre allererste Aufgabe, sonst geht die Bevölkerung von der Stange. Wie sich das auswirkt haben wir bei den Europawahlen vom 9. Juni gesehen. Und es hätte noch schlimmer kommen können, die deutsche AfD beispielsweise war im Abwärtstrend, als gewählt wurde. Hätten die Wahlen ein halbes Jahr früher stattgefunden, hätte sie nicht 15,9, sondern etwa 20 Prozent der abgegebenen Stimmen eingesammelt. Der Negativtrend für sie kann sich jederzeit wieder drehen, falls es Vorkommnisse gibt, die man politisch ausschlachten kann. Wenn diese Vorkommnisse sich zu einem Anti-EU-Spin eignen, wird es immer mehr zu der Situation  kommen, dass EU-Politik, vor allem wenn sie offensiv und erweiterungsorientiert ist, nicht mehr von der Mehrheit der Bevölkerung in ihren wichtigsten Ländern (Deutschland und Frankreich in erster Linie) getragen wird. Das wird die EU nicht aushalten und in die Zersetzung übergehen, anstatt weiter sinnvoll integrieren zu können.

Unter Berücksichtigung dieses Aspekts muss man festhalten, dass der gegenwärtige Kurs der EU selbst dann hochriskant ist, selbst, wenn man die Verstrickungen mit Russland außer Acht lässt. Wir werden die aktuellen Prozesse weiterhin kritisch begleiten.

TH

 

 

 

 

 

Hinterlasse einen Kommentar