Briefing 571 Update 2 Geopolitik, PPP, Politik, Personen, Parteien, Frankreich, France, Macron, Neue Volksfront, Rassemblement National, Ensemble pour la République, zwei Wahlgänge, Parlamentswahlen, Marine Le Pen, Pessimismus, Nationalismus, RN, RE
Am Tag des ersten Wahldurchgangs, also gestern, hatten wir uns ausführlich und kenntnisreich über das geäußert, was in Frankreich vermutlich passieren wird.
Die bisherigen Ergebnisse der ersten Runde zu den Nationalversammlungswahlen sind sehr dicht an den vorherigen Umfragen gewesen, insofern also keine Überraschung, zumindest nicht auf den ersten drei Plätzen – wollten wir eigentlich schreiben, aber es gab doch Abweichungen, die sich bei nährer Betrachtung wiederum als recht gering herausstellen. Es kommt darauf an, welche politischen Kräfte man wo einordnet.
Heute werden wir nicht so sehr in die Tiefe gehen, sondern festhalten: Das ist mal richtig Scheiße gelaufen. Oder „Merde!“, wie die Franzosen sagen. Zunächst aber wichtige Fakten:
- Ergebnisse des ersten Wahlgangs:
– Rassemblement National (RN): 29,2% (9.377.297 Stimmen), 37 Mandate
– Nouveau Front Populaire (NFP): 28,0% (8.974.566 Stimmen), 32 Mandate
– Ensemble! (ENS): 20,0% (6.425.217 Stimmen), 2 Mandate
– Les Républicains (LR): 6,6% (2.104.918 Stimmen), 1 Mandat
- Weitere wichtige Ergebnisse:
– Union de l’extrême droite (UXD): 3,9% (1.251.210 Stimmen), 1 Mandat
– Divers droite (DVD): 3,7% (1.172.548 Stimmen), 2 Mandate
- Wahlbeteiligung:
Die Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen betrug 32.060.277 (70 Prozent, die höchste Wahlbeteiligung seit 1978).
- Prognose für die Sitzverteilung nach dem ersten Wahlgang:
– Rassemblement National und Unterstützer: 250-300 Sitze (RN alleine 230 bis 280 Sitze)
– Le Nouveau Front Populaire (Linksparteien): 130-170 Sitze
– Präsidentenlager und Unterstützer (DVC): 65-105 Sitze
– Les Républicains mit DVD: 30-50 Sitze
– Weitere: 24-30 Sitze
- Wichtige Beobachtungen:
– Der Rassemblement National ging als stärkste Kraft aus dem ersten Wahlgang hervor.
– Das Linksbündnis Nouveau Front Populaire wurde zweitstärkste Kraft.
– Macrons Ensemble! erlitt erhebliche Verluste im Vergleich zur vorherigen Wahl.
– Die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung liegt bei 289 Sitzen.
- Reaktionen und Folgen:
– Landesweite Demonstrationen gegen den Rechtsruck fanden bereits am 15. Juni 2024 statt, auch heute, am 1. Juli 2024, sind wieder viele Menschen unterwegs, um gegen den Rechtsruck zu protestieren.
– Die Ergebnisse deuten auf eine mögliche politische Umwälzung in Frankreich hin.
– Eine Cohabitation zwischen einem rechtspopulistischen Premierminister und Präsident Macron wird als mögliches Szenario diskutiert.
Der zweite Wahlgang am 7. Juli 2024 wird entscheidend für die endgültige Sitzverteilung in der Nationalversammlung sein.
Erste Analyseschritte (Teil 2, Teil 1 siehe im Update von gestern)
Das oder der RN kamen nicht auf die vorhergesagten 34-37 Prozent, sondern „nur“ auf 29,25 Prozent. Dennoch kann die Rechte im zweiten Wahlgang in einem komplexen Verfahren noch die absolute Mehrheit der Sitze in der Assemblee Nationale erlangen. Darauf deutet der obige „Range“ von 250 bis 300 hin, die AN hat 577 Sitze.
Auch Präsident Emmanuel Macrons Lager hat noch etwas schlechter abgeschnitten als erwartet (die Umfragen lagen bei 21 bis 22 Prozent, erreicht wurden nur 20,2 Prozent).
Bei den Rechten ist allerdings das Ergebnis des RN trügerisch: Es war der Quelle gemäß nicht ganz klar, wo die UXD von Éric Ciotti einzuordnen war, man hat sie unter „DXD“ mit anderen ganz rechten Kräften zusammen eingeordnet. Und diese haben 5,12 Prozent der Stimmen erreicht. Hinzu kommen noch einmal 3,66 Prozent für „diverse Rechte“ (DVD). Diese fast 9 Prozent muss man mindestens einschließen, wenn es darum geht, wie viel das RN inklusive aller Unterstützer aus der rechten Szene einfahren kann. Daher hat die extreme Rechte in Frankreich mindesten 38 Prozent der Stimmen erreicht.
Bei den „Républicains“ mit weiteren 6,57 Prozent, einem Überrest früherer Konservativer und Gaullisten, die nicht ganz nach rechts gewandert sind, ist ebenfalls nicht klar, ob sie nicht im Ernstfall Marine Le Pen ins Präsidentenamt hieven würden. Deswegen wird es vor der zweiten Runde zu Rochaden kommen, um dies zu erreichen oder zu verhindern:
Premierminister Gabriel Attal kündigte den Rückzug von etwa 60 Kandidaten des Regierungslagers in der zweiten Runde an, um den Sieg rechtspopulistischer Kandidaten zu verhindern. Die relativ starke und ungewöhnlich vereinte Linke wird vermutlich ebenfalls Kandidat:innen zurückziehen, um einen Durchmarsch des RN zu verhindern. Die Empfehlung wird dann lauten, den Kandidaten oder die Kandidatin des Marcron-Lagers zu unterstützen.
Das französische Wahlsystem darzustellen, können wir hier nicht leisten. Wir halten es für vollkommen veraltet. Es kommt zwar der Landesmentalität zum Taktieren, Intrigieren und Ränke schmieden entgegen, wirkt aber intransparenter als alle anderen Systeme vollständiger Demokratien, die wir uns bisher anschauen konnten und stammt im Grunde noch aus einer Zeit, in der das Land eben keine vollständige Demokratie war. Dieses höchst volatile Parteiensystem ist das exakte Gegenteil der festgemauert scheinenden Verhältnisse in den USA oder Großbritannien – nach unserer Ansicht ist ein Mittelweg nicht das Schlechteste, aber bitte mit einem einstufigen Wahlverfahren. Hier kommt das deutsche System einmal nicht so schlecht weg. Grundsätzlich ist das hiesige, moderne und relativ klare System ja auch nicht schlecht, es wird von der Politik bloß schon seit Längerem unter Wert verkauft. Lediglich die „Überhangmandate“ sind ein wenig erklärungsbedürftig.
Wenn wir den Auftrag hätten, Frankreich zu modernisieren, würden wir zuerst das Wahlsystem ändern. Ob man hingegen den Präsidenten oder die Präsidentin weiterhin direkt wählt, ist eine andere Frage, da sind wir nicht so klar entschieden.
Wie in den USA kann es in Frankreich passieren, dass ein im Grunde mächtiger Präsident gegen eine Parlamentsmehrheit regieren muss, und das ist ja auch eine Form von Checks and Balances; während in Deutschland der Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin mit dem Parlament mitgewählt werden. Da die Kandidat:innen aber vor der Wahl feststehen und nicht hinterher ausgekungelt werden kann, wer nun regiert, und weil bisher im Bundestag immer eine Mehrheit hinter dem Kanzler oder der Kanzlerin stand, hat auch dieses System unübersehbare Vorteile. Inklusive der relativ eingeschränkten Macht für den Regierungschef oder die Regierungschefin im Vergleich zu den Präsidialsystemen. Diese Systeme sind viel älter als das deutsche. Machtfülle oder Machtbegrenzung können ganz unterschiedlich in den Ergebnissen sein, auch abhängig von der Lage, die gerade herrscht und natürlich von den handelnden Personen.
Aber da wir das Taktieren schon angesprochen haben, werfen wir einen Blick voraus:[1]
Eine mögliche Zusammenarbeit zwischen Macron und der Linken könnte wie folgt aussehen:
- Gemeinsame Front gegen Rechtspopulisten:
Macron hat Sozialdemokraten, Konservative und Grüne zur Zusammenarbeit aufgerufen, um eine Regierungsmehrheit zu bilden und den Erfolg der Rechtspopulisten zu verhindern[1]. Dies deutet auf eine potenzielle Allianz mit linken Kräften hin.
- Strategischer Rückzug von Kandidaten:
Premierminister Gabriel Attal kündigte den Rückzug von etwa 60 Kandidaten des Regierungslagers in der zweiten Runde an[4]. Dies könnte den Weg für linke Kandidaten in bestimmten Wahlkreisen freimachen, um rechtspopulistische Siege zu verhindern.
- Bildung eines breiten demokratischen Bündnisses:
Macron rief zu einem „breiten, demokratischen und republikanischen Bündnis“ auf[4]. Dies könnte eine Koalition oder zumindest eine parlamentarische Zusammenarbeit mit linken Parteien einschließen.
- Gemeinsame politische Agenda:
Eine Zusammenarbeit könnte auf der Grundlage gemeinsamer politischer Ziele erfolgen, wie z.B. der Verteidigung demokratischer Werte und der Bekämpfung des Rechtsextremismus[3].
- Flexible Mehrheiten:
Angesichts der prognostizierten Sitzverteilung könnten Macrons Lager und die Linke bei bestimmten Gesetzen und Initiativen zusammenarbeiten, um Mehrheiten zu bilden[4].
- Mögliche Regierungsbeteiligung:
In einem Szenario, in dem weder Macrons Lager noch die Rechtspopulisten eine absolute Mehrheit erreichen, könnte eine Regierungsbeteiligung der Linken in Betracht gezogen werden.
Es ist wichtig zu beachten, dass eine solche Zusammenarbeit kompliziert sein könnte, da es auch erhebliche politische Differenzen zwischen Macrons Mitte-Lager und den linken Parteien gibt. Die genaue Form der Zusammenarbeit wird sich erst nach der Stichwahl am 7. Juli und den anschließenden Verhandlungen abzeichnen.
Das ist wohl wahr. Wenn der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon in eine Regierung mit Macrons Liberal-Neoliberalen geht, könnte er erledigt sein und damit dem RN zu weiteren Erfolgen verhelfen. Er klammert viele „Altlinke“ und „National-Linke“, die sich dann von ihm abwenden würden. Und wie schnell in Frankreich Menschen von links nach rechts gehen können, wenn sie zur Wahlurne gerufen werden, wurde u. a. in Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ beschrieben. Wir sind nicht mit allen Analysen darin d’accord, außerdem wird er mit der Aussage zitiert, dass zum Beispiel die deutsche Populistin Sahra Wagenknecht „ihn falsch verstanden habe oder instrumentalisieren will“. Jedoch, Fakt ist, dass diese Lagerwechsel erstaunliche Dimensionen erreichen und nicht mit dem Wähler:innenpotenzial vergleichbar sind, aus dem die deutsche AfD sich im Wesentlichen speist. Das kommt nämlich in erster Linie von bisherigen Nichtwähler:innen und von den Mitte-Parteien, nicht von angeblich enttäuschten angeblichen Linken. Zumindest nicht auf direktem Weg und zumindest nicht über das ganze Land betrachtet. Im Osten wird bei den Landtagswahlen im September die Linke sicherlich eher an das BSW als an die AfD Stimmen abgeben müssen.
Mélenchon ist, obwohl seine hohen Tage vorbei sind, immer noch eine Schlüsselfigur der Linken in Frankreich, nachdem die Parti Socialiste von Francois Hollande beinahe vernichtet wurde und sofern man sie als links bezeichnet. Mélenchon aber hatte sich nicht in erster Linie auf den oder das RN eingeschossen, sondern auf Macrons (neo-) liberale Mitte.
Wenn man sich dieses Ergebnis über die Lager hinweg abschaut, merkt man: Etwas eint die Rechten und die Linken und nur Macrons Lager war diesbezüglich weniger dezidiert: der Nationalismus, unter anderem und leider in seiner besonderen Ausprägung der Deutschlandfeindlichkeit. Wenn man so will, haben etwa 70 Prozent der Franzosen und Französinnen nationalistisch gewählt. Davon sind wir denn doch in Deutschland noch etwas entfernt. Noch. Denn im Osten könnten, wenn die AfD und das BSW zusammen 40 bis 50 Prozent der Wählerstimmen erreicht werden, zwei Kräfte dominant werden, die ähnlich ticken. Das BSW ist ziemlich deutlich nach dem Muster von Mélenchons „France insoumise“ gestrickt, auch wenn das im Namen nicht so deutlich durchscheint wie beim französischen Vorbild – und Mélenchon ist schon lange ein Vorbild von Sahra Wagenknecht und ihrem Mann Oskar Lafontaine. Spannend, wie hier gegensätzliche Nationalismen sich dann doch wieder aufzuheben scheinen. Ist alles nur gespielt?
Falls ja, dann ist es ein Spiel mit dem Feuer, ein absichtliches Zündeln gegen die Demokratie und natürlich besonders gegen eine universalistische Linke, die endlich die alten Feindschaften begraben möchte. Macrons Methode, vor allem das internationale Kapital freundlich zu fördern, vor allem, wenn es unter französischer Führung steht, für deren Erlangung der französische Staat einen erheblichen Aufwand betreibt, während in Deutschland eine Wirtschaftsstrategie abwesend ist, kann allerdings nicht das Vorbild für Paneuropäisches Denken und Fairness darüber hinaus sein. Im Grunde ist er nämlich klassistisch-nationalistisch, sanfter als bei den politischen Rüpeln in Frankreich eingekleidet in den diplomatischen Glanz, den offensichtlich nur ENA-Absolventen ausstrahlen können. Der einzige französische Regierungschef, der dieser Elite-Kaste entstammt, aber ein echter Pro-Europäer war und den Nationalismus in Frankreich zumindest mit einigen symbolischen Maßnahmen dämpfen wollte, war Valery Giscard d’Estaing, der mit Helmut Schmidt das wohl beste europäische Führungsduo der bisherigen Geschichte bildete. Und wie gut es damals beiden Ländern ging bzw. den Menschen darin. d’Estaings Nachfolger Francois Mitterand hatte alle diese Modernisierungsbestrebungen flugs wieder abgeschafft, weil er eben – ein Nationalist war. Es gab im Grunde seit über 40 Jahren in Frankreich niemanden mehr, der sich ernsthaft dem Nationalismus entgegengestellt hätte, und die Folgen sieht man jetzt. Er ist dermaßen verfestigt, dass von ihm die oben genannten 70 Prozent der Bevölkerung infiziert sind und der gemäßigte oder eher salbungsvolle oder pathetisch-europäisch wirkende Nationalismus von Macron & Co. wird aufgefressen von der härteren, offen vorgetragenen Variante, die den RN kennzeichnet, die noch extremere Rechte und auch gewisse Linkspopulisten.
Die übrigen 30 Prozent werden gerade von ihrer Verzweiflung auf die Straße getrieben, aber es wird nicht viel nützen, denn #wirsindmehr stimmt eben nicht. Es stimmt vermutlich auch in Deutschland nicht mehr.
Spinnen wir den Gedanken aber weiter, dass Macrons Lager und die Linke doch formell oder informell zusammenarbeiten werden. Wäre das ein Gewinn für Frankreichs Bevölkerung und Europa?
Eine mögliche Zusammenarbeit zwischen Macron und der Linken könnte die politische Landschaft in Frankreich auf folgende Weise verändern:[2]
- Überwindung des traditionellen Links-Rechts-Schemas:
Macron hat bereits mit seiner Bewegung „En Marche“ versucht, die klassische Spaltung in rechts und links zu überwinden[1]. Eine Kooperation mit linken Kräften könnte diesen Ansatz weiter vorantreiben und zu einer Neuordnung der politischen Lager führen.
- Bildung einer breiten demokratischen Allianz:
Macron hat Sozialdemokraten, Konservative und Grüne zur Zusammenarbeit aufgerufen, um eine Regierungsmehrheit zu bilden[2]. Eine solche breite Koalition könnte die politische Mitte stärken und extremistische Kräfte isolieren.
- Neuausrichtung der Wirtschafts- und Sozialpolitik:
Macrons bisher eher liberaler Wirtschaftskurs könnte durch den Einfluss linker Parteien sozialer ausgerichtet werden. Dies könnte zu Kompromissen in Bereichen wie Arbeitsmarktpolitik oder soziale Gerechtigkeit führen.
- Stärkung pro-europäischer Kräfte:
Da Macron als überzeugter Europäer gilt[1], könnte eine Zusammenarbeit mit pro-europäischen linken Kräften die EU-freundliche Position Frankreichs festigen und europäische Integrationsprojekte vorantreiben.
- Eindämmung des Rechtspopulismus:
Eine breite Mitte-Links-Allianz könnte als Bollwerk gegen den erstarkenden Rechtspopulismus fungieren und versuchen, dessen Einfluss zu begrenzen[3].
- Mögliche Verfassungsänderungen:
Um eine stabilere Regierungsbildung zu ermöglichen, könnten Verfassungsreformen diskutiert werden, die das politische System Frankreichs grundlegend verändern könnten.
- Neue Dynamik in der Innenpolitik:
Die Zusammenarbeit könnte zu einem Ausgleich zwischen Macrons teils als autoritär wahrgenommenen Regierungsstil[3] und linken Forderungen nach mehr Bürgerbeteiligung und sozialer Gerechtigkeit führen.
Eine solche Zusammenarbeit würde jedoch auch Herausforderungen mit sich bringen, da Macrons bisherige Politik oft im Widerspruch zu linken Positionen stand. Die genauen Auswirkungen würden von der Tiefe und Dauer der Kooperation sowie den ausgehandelten Kompromissen abhängen.
In der Zusammenfassung sind die Fallstricke schon angedeutet. Überall wird linken Kräften verkauft, wenn man mitregiert, kann man ja immerhin etwas verändern, in der Opposition hingegen gar nicht. Dahinter steckt der offensichtliche Versuch der Rechten und Neoliberalen, die Linke zu spalten in jene, die für ganz kleine Erfolge die Generallinie fast komplett aufgeben und jene, die sagen, es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren. In Deutschland hat diesen Spruch zwar kein Linker, sondern ein FDP-Politiker berühmt gemacht, er stimmt aber für Linke umso mehr, als sie nicht in Richtung jener Neoliberaler anschlussfähig sein sollten.
Deswegen müssen wir es geradezu als Appell formulieren: Finger weg von einer Volksfront, die so weit gespreizt ist, dass sie bloß den Rechtsdrall weiter verstärkt, weil eben, siehe oben, der Eindruck entsteht, dass man sich auf die Linke als kraftvolle Opposition nicht mehr verlassen kann. Und eine kraftvolle Opposition, die stetig Stimmen hinzugewinnt, kann eine Regierung mehr vor sich hertreiben als eine kleinere Gruppe in der Regierung, die von der größeren, konservativ-liberalen dominiert wird. Das Schicksal der SPD sollte jedem eine Warnung sein, der meint, unbedingt mitmachen zu müssen bei einer Politik, die sich höchstens in Kleinigkeiten ändern wird. Die gemäßigte Linke ist sowieso seit Langem selbst Bestandteil der höchst erfolgreichen, seit Jahrzehnten anhaltenden Ungleichheits-Promotion-Tour fast aller Regierungen in fast allen Demokratien.
Wenn es heißt, Macron versuche, das traditionelle Rechts-Links-Schema aufzubrechen, ist Vorsicht angesagt. Es ist durchaus ein Teil seines Kalküls, die Linke ins Boot zu zwingen, um sie unwählbar zu machen für viele, viele Jahre. Denn es geht ja gegen rechts und für die Demokratie, und wer könnte da schon das Mitmachen verweigern? Dass Macron und viele vor ihm die Merde angerührt haben, die die Linke jetzt mit auslöffeln soll, macht es fürwahr nicht besser.
Man müsste jetzt noch einmal in die unterschiedlichen Mentalitäten der Völker einsteigen, um zu sagen, dieses geht in Deutschland locker durch, weil sich in diesem Schnarchnasenland niemand wehrt, jenes hingegen kann man mit den Französ:inne nicht machen. Ganz so einfach ist es nicht, denn der Preis für die „Aufgewecktheit“ ist sehr hoch: Er besteht aus 70 Prozent Nationalismus. Was man in Frankreich versäumt hat, um diesen etwas zu dämpfen, haben wir im vorausgehenden Artikel dieser Briefing-Serie erläutert.
TH
[1] Zitate zum nachfolgenden Infoblock:
[2] https://tagebuch.at/2022/06/frankreichs-linke-bringt-macron-in-bedraengnis/
[2] Zitate zu m Block „Macron und die Linke“:
[1] https://www.bpb.de/themen/europa/frankreich/241004/emmanuel-macron/
[3] https://www.ipg-journal.de/regionen/europa/artikel/lust-an-der-zerstoerung-7608/
30.06.2024
Wir haben uns bereits vor wenigen Tagen zur heutigen ersten Runde der französischen Wahlen zur Nationalversammlung geäußert. Dieser Beitrag ist ein Update, der Ausgangsartikel ist auch unten angehängt. Hier die Erwartungen, wenige Stunden bevor die ersten Prognosen eintreffen werden:
Informationen zur Wahl[1]
- Hohe Wahlbeteiligung: Es wird von einer regen Beteiligung an der ersten Runde der vorgezogenen Parlamentswahl berichtet[5]. Dies deutet auf ein großes Interesse der Bevölkerung an dieser wichtigen Wahl hin.
- Führung des Rassemblement National: Umfragen vor der Wahl zeigten eine deutliche Führung für Marine Le Pens rechtsnationale Partei Rassemblement National (RN). Die Partei lag in Umfragen bei 34 bis 37 Prozent[5].
- Schwächung von Macrons Lager: Das Mitte-Lager um Präsident Emmanuel Macron und seine Partei Renaissance wird in Umfragen nur auf dem dritten Platz gesehen, mit etwa 20 bis 21 Prozent der Stimmen[1][5].
- Starkes Abschneiden des linken Bündnisses: Das Linksbündnis Nouveau Front Populaire liegt in Umfragen auf dem zweiten Platz mit 27,5 bis 29 Prozent[5].
- Mögliche Stichwahlen: Die endgültige Sitzverteilung wird erst in der zweiten Runde am 7. Juli entschieden[3]. Es ist möglich, dass einige Kandidaten bereits in der ersten Runde gewählt werden[5].
- Erste Prognosen am Wahlabend: Die ersten zuverlässigen Prognosen basierend auf Nachwahlbefragungen werden um 20 Uhr erwartet, wenn die letzten Wahllokale schließen[4].
- Offizielle Ergebnisse: Die offiziellen Ergebnisse der ersten Wahlrunde werden voraussichtlich am Montagmorgen, dem 1. Juli, vorliegen[4].
Eine erhebliche Veränderung der französischen politischen Landschaft hätte vermutlich nicht unerhebliche Auswirkungen auf die französische Innen- und Außenpolitik sowie auf die Beziehungen zu Europa[1][3].
Eine große Auffälligkeit hat Statista vor der Wahl herausgearbeitet. Die Französ:innen werden immer pessimistischer. Wir haben es im Ausgangsartikel schon angedeutet:
Frankreich verfällt in Pessismismus

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz CC BY-ND 4.0 Deed | Namensnennung-Keine Bearbeitung 4.0 International | Creative Commons erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.
Die Stimmung der Menschen in Frankreich ist vor der ersten Runde der Neuwahlen des Parlaments so schlecht wie lange nicht. Das zeigt die Statista-Infografik mit Umfragedaten des Institut français d’opinion publique (IFOP). So haben im Juni 2024 nur 17 Prozent der Befragten angegeben, dass sie bezüglich ihrer persönlichen Zukunft und der ihrer Kinder optimistisch eingestellt sind. Pessimistisch zeigten sich dagegen 83 Prozent der Befragten – das ist der höchste Anteil von pessimistisch eingestellten Menschen seit Beginn der Befragung im Jahr 1995.
Ein Grund für den Pessimismus könnte – neben der allgemein unsicheren politischen Lage durch die vorgezogenen Parlamentsneuwahlen – die zunehmende Verbreitung von Rassismus und Intoleranz sein. Darauf wies der Jahresbericht der französischen Menschenrechtskommission CNCDH hin. Die Entwicklung werde durch den Krieg im Gazastreifen und rechtsextreme Ideen in der öffentlichen Debatte befeuert. Das Jahr 2023 sei geprägt von einem starken Anstieg der Ablehnung des Anderen, sei es in Meinungen oder Taten.
Wirtschaftlich kämpft Frankreich mit einer im europäischen Vergleich hohen Staatsverschuldung. Auf 110,6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes belief sich laut staatlichem Statistikamt INSEE Ende 2023 die Staatsverschuldung des Landes. Damit ist Frankreich das nach Griechenland und Italien am stärksten verschuldete Land Europas. Die Regierung muss sparen und hat angekündigt, ihre Ausgaben im Jahr 2024 zumindest um 10 Milliarden Euro zu senken, im Jahr 2025 sollen weitere Einsparungen folgen. Unternehmen fürchten, dass auch die Industrieförderung unter das Spardiktat kommt. Noch aber treibt die Regierung ihre Programme zur Reindustrialisierung und ökologischen Transformation des Landes weiter voran.
- Die Bevölkerung der „Grande Nation“ ist generell nicht naiv-optimistisch, deswegen muss man berücksichtigen, dass unter Pessimismus vielleicht nicht exakt das Gleiche verstanden wird wie hierzulande, wenn solche Umfragen erstellt werden.
- Außerdem erstaunt die sehr starke Schwankung innerhalb der letzten beiden Jahre. Der einzige reale Grund dafür, dass es jetzt viel schlechter aussieht als während der auch in Frankreich herausfordernden Corona-Krise, scheint uns aus der Außensicht der Ukrainekrieg zu sein. Die Wirtschaft läuft besser als in Deutschland, und auf diesen Vergleich wird in Frankreich stets sehr geachtet.
- Fankreich wird auch bis jetzt nicht totgespart, muss sich noch nicht mit einer Politik wie der des deutschen Finanzministers auseinandersetzen, der offenbar die Fehler wiederholen will, die während der Weltwirtschaftskrise zum Aufstieg der Nazis beigetragen haben.
- Als der Gazakrieg begann, kam es sogar nächst zu einem Wiederanstieg des Optimismus – koinzidenziell, nehmen wir an, nicht deswegen.
- Ist es doch die Rentenreform? Im ersten Anlauf musste Macron sie abbrechen, weil er damit die Gelbwestenbwegung losgetreten hatte, aber der Neoliberalismus hat eben den längeren Atem, weil er mit den Interessen der alles dominierenden Wirtschaft kooperiert. Und in Frankreich sind Wirtschaft und Staat viel enger verzahnt als in der BRD – gegenwärtig scheint das französische Modell trotz der höheren Schulden besser zu funktionieren.
Wir wollten es noch einmal etwas genauer wissen.[2]
Der derzeitige Pessimismus der Franzosen lässt sich auf mehrere Faktoren zurückführen:
- **Wirtschaftliche Unsicherheit und Inflation**: Trotz einer relativ schnellen Erholung von der COVID-19-Pandemie und vergleichsweise geringeren Auswirkungen des Ukraine-Kriegs, sind viele Franzosen pessimistisch hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Zukunft. Eine Umfrage zeigt, dass 69% der Franzosen angeben, ihre finanzielle Lage habe sich seit der letzten Europawahl 2019 verschlechtert[12].
- **Politische Unzufriedenheit**: Präsident Emmanuel Macron hat durch umstrittene Reformen und eine als ineffizient empfundene Verwaltung an Popularität verloren. Seine wirtschaftspolitischen Maßnahmen, wie die Erhöhung des Renteneintrittsalters und Kürzungen bei Arbeitslosenleistungen, haben zu weit verbreiteter Unzufriedenheit geführt[2][4].
- **Soziale Spannungen und Streikkultur**: Frankreich hat eine ausgeprägte Kultur von Streiks und Demonstrationen, die oft als Ausdruck der Unzufriedenheit mit der Regierungspolitik dienen. Diese sozialen Spannungen tragen ebenfalls zum allgemeinen Pessimismus bei[2].
- **Euroskepsis**: Eine Umfrage vor den Europawahlen 2024 zeigt, dass Frankreich eines der EU-Länder ist, in dem das Vertrauen in die Europäische Union am geringsten ist. Viele Franzosen sind der Meinung, dass die EU an Bedeutung verloren hat und sehen die Zukunft der Union pessimistisch[12].
- **Hohe Staatsverschuldung**: Obwohl die hohe Staatsverschuldung den Alltag der Bürger kaum direkt beeinflusst, trägt sie zu einem allgemeinen Gefühl der wirtschaftlichen Unsicherheit bei. Frankreich hat seit fast fünf Jahrzehnten keinen ausgeglichenen Haushalt mehr vorgelegt, was das Vertrauen in die wirtschaftliche Stabilität des Landes untergräbt[2].
Zusammengefasst resultiert der extreme Pessimismus der Franzosen aus einer Kombination von wirtschaftlicher Unsicherheit, politischer Unzufriedenheit, sozialen Spannungen und einer zunehmenden Euroskepsis. Diese Faktoren verstärken das Gefühl, dass es dem Land schlecht geht, obwohl es objektiv betrachtet in vielen Bereichen besser dasteht als andere europäische Länder.
Ein Blick in Richtung USA.
Uns hat die Zusammenfassung im vorausgehenden Absatz umgehend an die Situation in den USA erinnert. Obwohl die Wirtschaft dort brummt, mehr als in jedem relevanten europäischen Land, ist der Rechtstrend ungebrochen und wird Donald Trump möglicherweise eine zweite Amtszeit einbringen. Vor allem, wenn Joe Biden weiterhin so performt wie im Rededuell mit Trump am vergangenen Donnerstagabend. Anders als Biden hat Macron nicht das Problem, rhetorisch und altersmäßig nicht auf der Höhe zu sein.
Er ist ein typischer französischer Karrierepolitiker, der von Beginn an perfekt für seine Aufgabe geschult war. Es gibt allerdings viele Menschen in Frankreich, die das jahrzehntelange, an den Interessen der Wirtschaft orientierte Regiment der „Enarchen“ (Absolventen der Staatsverwaltungs-Eliteschule ENA) nicht mehr möchten. Deswegen gehen die Ressentiments wohl tiefer. Es geht um den Stil, nicht so sehr um die Repräsentation nach außen, denn die leistet Macron ebenso wie alle Präsidenten der Republik vor ihm, so gut er kann und die Umstände es zulassen.
Es nunmehr angebracht, einen kurzen Blick auf den Werdegang von Macrons Herausforderin Marine Le Pen zu werfen.[3]
Marine Le Pen wurde am 5. August 1968 in Neuilly-sur-Seine geboren[1]. Sie ist die jüngste Tochter des rechtsextremen Politikers Jean-Marie Le Pen, der 1972 den Front National (FN) gründete[1].
Ihre Ausbildung umfasst:
- Besuch des Lycée Florent-Schmitt in Saint-Cloud[1]
- Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Panthéon-Assas/Paris II bis 1990, Abschluss mit einer Maîtrise[1]
- 1991: Erwerb eines Diplôme d’études approfondies (DEA) in Strafrecht[1]
- 1992: Erhalt der Anwaltszulassung[1]
Von 1992 bis 1998 arbeitete Le Pen als Rechtsanwältin in Paris[1]. Ihre politische Karriere begann innerhalb der Partei ihres Vaters:
- 1998-2004: Leiterin des juristischen Dienstes der Partei[1]
- Ab 2003: Stellvertretende Vorsitzende des Front National[1]
- 2011-2022: Vorsitzende des Front National (später umbenannt in Rassemblement National)[1][3]
Le Pen kandidierte bei den französischen Präsidentschaftswahlen 2012, 2017 und 2022, wobei sie 2017 und 2022 in die Stichwahl gegen Emmanuel Macron gelangte[1]. Seit Juni 2017 ist sie Abgeordnete in der französischen Nationalversammlung[1][3].
Unter ihrer Führung hat die Partei eine Strategie der „Entdiabolisierung“ verfolgt, um sich vom plumpen Rechtsextremismus ihres Vaters zu distanzieren und eine breitere Wählerschaft anzusprechen[2][3].
Der letzte Satz ist nicht unwichtig.
Le Pen ist es gelungen, dass die Franzosen die Umbenennung der Partei, die ihr Vater gegründet hat vom kämpferischen „Front National“, der bewusst eine rechte Spiegelung der „Volksfront“ der 1930er war, in „Rassemblement National“, also mehr als Sammlungsbewegung für alle, zu vollziehen und tatsächlich das Programm mehr in die Mitte zu rücken, also genau der umgekehrte Weg, den die AfD in Deutschland geht, die als konservative Euroskeptiker-Partei angefangen hatte. Dazu musste sich das RN vor allem von offensichtlichen Rassismen befreien. Ob das nicht nur Oberflächenpolitur ist, sei dahingestellt, jedenfalls hat Marine Le Pen die Bewegung nach vorne gebracht, ohne am rechten Rand zu sehr zu verlieren. Zu sehr meint: Es gibt mittlerweile schon eine noch rechtere Partei unter Éric Zemmour, die sich „Reconquête“ nennt, Rückeroberung. Rückeroberung des Landes durch das Volk, ähnlich, wie Donald Trump sich in den USA darstellt. Gemeint ist das französische Volk ohne seinen Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund. Das Erstaunliche darin ist, dass Zemmour jüdische und algerische Wurzeln hat.
Von diesem offensichtlichen Extremismus der RE ist Marine Le Pen mittlerweile ein gutes Stück entfernt. Und ihr Werdegang wäre in Deutschland für eine Politikerin nicht ungewöhnlich. Für französische Verhältnisse ist er das aber, denn dort gibt es tatsächlich einen sehr kleinen Zirkel, der um die Kaderschmiede ENA kreist und alle wichtigen Positionen des Landes mehr oder weniger für sich beansprucht. Dieses System ist vielen Menschen im Land in seiner beinahe neofeudalistischen Art und Abgehobenheit ein Dorn im Auge. Wir hingegen heben in unseren Artikeln stärker hervor, dass die französischen Politiker durch diese Schulung um Längen professioneller wirken als ihre deutschen Pendants und dadurch auch Frankreichs Interessen besser vertreten können. Wenn Marine Le Pen in drei Jahren Präsidentin werden sollte und tatsächlich ihre jetzigen Positionen beibehält, kann man schon absehen, dass die Franzosen und Französinnen sich dereinst Macron und seine ENA-Vorgänger zurückwünschen werden.
So, wie es in Großbritannien keine Mehrheit mehr für einen Brexit gäbe, stünde er jetzt zur Abstimmung. Ein Schaden für die EU wäre auch ein Schaden für Frankreich, denn Deutschland stützt mit seiner starken Bonität unter anderem den Euro ab, während Frankreich schon lange nicht mehr das dafür erforderliche AAA-Rating hat. Desweiteren profitiert Frankreich stark davon, dass Deutschland viel offener organisiert ist als Frankreich selbst, indem Frankreich sich hierzulande stark in die Industrie einkaufen kann, das umgekehrt aber strikt verhindert wird, siehe Fall Siemens-Alstom oder den gesamten Energiemarkt.
Frankreich hat aber nicht nur von der EU erheblich profitiert, seine Politik hat auch immer dafür gesorgt, dass es den Menschen dort nicht zu schlecht geht. Das wirkt sich mittlerweile so aus, dass die Bevölkerung weitaus krisenresistenter ist als in Deutschland, zumindest finanziell gesehen. Das Medianvermögen in Frankreich liegt fast dreimal so hoch wie bei uns, die Ungleichheit ist zwar auch groß, aber durch den höheren Medianwert etwas geringer. Weit mehr Menschen im westlichen Nachbarland sind tatsächlich Teilhaber am Wohlstand, als das heute noch in Deutschland der Fall ist.
Aber das Niveau, von dem man kommt, spielt natürlich auch eine Rolle. Und da sieht es schlecht aus, denn die Franzosen müssen sich mit ihrer widerständigen Streitkultur nun ebenfalls dem neoliberalen Sozialabbau fügen, der in Deutschland schon längst fast widerstandslos akzeptiert wird. Die Frusttoleranz ist hierzulande größer als in Frankreich oder als in den USA.
Der objektive Befund sieht für Frankreich als Ganzes nicht so schlecht aus, für die USA sogar richtig gut. Und doch sind die Menschen nicht nur unzufrieden, sondern in Frankreich, wie wiederum in Deutschland, sehr pessimistisch. Und Pessimismus ist eine Triebfeder für rechts Gedankengut.
Rechts ist pessimistisch, links sein erfordert Optimismus
Niemals in ihrer Geschichte warn die Deutschen wohl so pessmistisch wie nach dem Ersten Weltkrieg, dann noch einmal mehr in der Weltwirtschaftskrise, das Ergebnis kennen wird. Die Angst vor dem Elend ging um und das Elend war teilweise real. Die Situation war nicht mit der von heute vergleichbar, aber, siehe oben: Was wurde nicht alles inzwischen erkämpft und was droht, verloren zu gehen? Die Franzosen lassen sich ihre Besitzstände nur sehr ungern wegnehmen, während in Deutschland die neoliberale Indoktrination schon so weit vorangeschritten ist, dass viele es als vollkommen normal empfindne, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden, solange man selbst noch einigermaßen gut dasteht.
Ob die Französ:innen soldiarischer sind, ist eine andere Frage, die Gründe, warum sie pessimistisch sind, wurden oben genannt. Und Menschen, die sich nicht wohlfühlen mit sich und der Welt, tendieren dazu, rechts zu wählen, also die Probleme auszulagern. Das ist leider eine menschliche Grundeigenschaft, und die Politik vieler Länder fördert diese Eigenschaft, indem sie den Eindruck erweckt, sie kümmert sich nicht mehr um die Mehrheit. Das Raunen von den abgehobenen Eliten trifft in Frankreich die Karrierepolitiker, in den USA die Demokraten der Ostküsten-Metropolen, in Deutschland die Grünen. Mit der Drehung, dass die Grünen intellektuell alles andere als Elite sind. Überall aber hat es mit einem als zu progressiv empfundenen Programm zu tun, das die betreffenden Politiker gegen den vermeintlichen Volkswillen durchsetzen wollen.
Dabei wird der wichtige Umstand kaum beachtet, dass die Politik in erster Linie die Interessen der Wirtschaft durchsetzt. Deswegen spielt es für das Empfinden der Mehrheit auch immer weniger eine Rolle, ob das nationale BIP wächst, wie in Frankreich oder den USA, oder eben nicht, wie in Deutschland. Man spürt die Distanz, man hält sich nicht mehr für einen Teil dieses Wachstums. Es ist nur noch für die „Eliten“ gemacht, und alle objektiven Daten besagen: das stimmt. Das ist tatsächlich so. Nie zuvor in der jüngeren Geschichte hat sich die Politik von der Wirtschaft dermaßen vorschreiben lassen, was sie zu tun hat. In Deutschland ist das von den drei Vergleichsstaaten am extremsten ausgeprägt.
Warum aber werden die Menschen rechts, rassistisch, fortschrittsfeindlich, wo sie sich doch zusammenschließen müssten gegen diesen immer rigideren Durchgriff von oben?
- Immer schon vorhandene Ressentiments dringen wieder stärker an die Oberfläche. Wer unzufrieden ist, der packt seine Aversionen gegen alles Mögliche eher aus der Mottenkiste als jemand, der sich sagt, solange es mir einigermaßen gutgeht, sollen sie halt machen. Der wirklich progressive Teil der Bevölkerung ist in allen Staaten der Welt eine Minderheit. Die Vereinbarung ist, dass die Politik progressiver sein darf als der Bevölkerungsdurchschnitt, solange dieser keinen Rückschritt erfährt, objektiv oder gefühlt, das spielt zunächst keine Rolle, aber gegenwärtig lässt sich der Rückschritt auch objektiv für viele Länder belegen.
- Die Menschen haben mehr Angst vor Veränderung und vor „dem Fremden“, wenn es schlecht läuft, werden tatsächlich konservativer, zurückgezogener, sind nicht mehr offen für Neues, wenn der Pessimismus sie beherrscht. Hinzu kommt, dass die Französ:innen immer schon besonders nationalistisch waren. Das muss man klar sagen. Der Nationalismus war dort schon lange stark ausgeprägt, als es ihn in Deutschland noch kaum gab und das hat zu Konflikten geführt, die Frankreich herbe Prestigeverluste einbrachten. In Frankreich kann man in pessimistischen Zeiten wie diesen besonders gut mit Aversionen gegenüber den Deutschen punkten, und das tut Marine le Pen, ohne deswegen als rassistisch zu gelten. Denn in Frankreich gilt die traditionelle Deutschlandfeindschaft nicht als rassistisch, ein gleiches Verhalten bei uns hingegen Frankreich gegenüber würde als rassistisch angesehen, obwohl es genauso gut zu begründen wäre, wenn man die Historie nicht auf eine retardierte Weise mit dem Zweiten Weltkrieg beginnen lässt, sondern sie etwas weiter zurückverfolgt als nur bis zum „Überfall“ von 1940.
- Man fällt also in Frankreich alten Mustern zum Opfer, hinzu kommt, dass Frankreich das europäische Land ist, in dem der Kolonialismus am wenigsten aufgearbeitet wurde, und dieser ist grundsätzlich extrem rechts und notabene rassistisch. Man hat auch nichts daraus gelernt, dass die Entkolonialisierungskriege für Frankreich allesamt krachend verlorengingen. Mithin ist offenbar sehr rasch auftretende Pessimismus etwas anders gelagert als etwa in Deutschland: Das nationale Prestige spielt dabei eine viel größere Rolle und jeder vermeintliche kleine Kratzer daran rührt an Empfindlichkeiten aus der Geschichte: Die vielen Verluste, die man sich, anders als in Deutschland, nie so recht eingestehen möchte und deswegen eine Außenpolitik fährt, die in der EU dominant ist und der EU in Teilen schadet.
- Diese Art von Pessimismus ist auch ein Zeichen von Unreife, davon, dass man weit entfernt ist von den Idealen der Aufklärung, die doch immerhin von Frankreich aus ihren Weg in die Welt fanden. Man stellt sich heute nicht mehr so sehr auf die Errungenschaften, die die Welt Frankreich zu verdanken hat als auf Vorstellungen von der eigenen Größe, die keiner realen Betrachtung standhalten können, weil Frankreich und Europa in der Welt nun einmal an Einfluss verlieren. Das ist unumkehrbar, aber man könnte die Verluste begrenzen, wenn m an kooperativer in der EU und fairer nach außen auftreten würde. Ausgerechnet Frankreich mit seinem Setting der nationalen Größe ist aber offenbar darauf angewiesen, eine Sonder-Führungsrolle einzunehmen.
- Diese Rückwärtsgewandtheit in Sachen Außenpolitik und Verhältnis zu anderen Nationen wird aber eben dann virulent, wenn das Unbehagen über den Lauf der Dinge im Land über das Wohlgefühl dominiert, welches das eigene „Savoir Vivre“ in der Regel verursacht, und in diesem Bereich, der für den Alltag mit am wichtigsten ist, hat Frankreich objektiv Vorteile gegenüber Deutschland, in nicht unerheblichem Maße. Das müsste im Grunde auch die demokratische Substanz stärker absichern, weil man hier wirklich etwas vorweisen kann, das lange tradiert ist und sich durch alle guten und schlechten Zeiten hindurch erhalten lässt.
Pessimismus ist ein schlechter Ratgeber, aber guter Rat ist teuer.
Es ist eine Binse, dass mit dem Wählen rechter Parteien nichts besser wird, denn wie soll in Ländern wie Deutschland und Frankreich das Migrationsrad zurückgedreht werden? Verhältnisse wie in Ungarn lassen sich in Mitteleuropa nicht ohne Genozid herstellen. Anders sieht es aber bei den Rechten für Minderheiten aus. Es muss höchste Aufmerksamkeit darauf gelegt werden, dass der Rechtstrend nicht den Rechtsstaat schleift. Nichts ist sicher, auch nicht, dass Vertragsverletzungsverfahren einst gegen Frankreich oder Deutschland in die Wege geleitet werden. Staaten, die für die EU konstitutiv sind, können sich darüber aber auch hinwegsetzen, wenn viel kleinere Länder schon so viel Resistenz zeigen wie derzeit Ungarn.
Mit solchen Bewegungen, die Minderheiten in Angst und Schrecken versetzen, kann man diejenigen, die jetzt rechts wählen, nämlich in ihrer Gemeinheit anderen gegenüber stärken, ohne dass sich ökonomisch auch nur ein bisschen etwas verbessert. Frankreich hätte sich mehr auf die positiven Eigenschaften des Landes stellen müssen, als vergangener Größe nachzutrauern und sie immer noch mit viel Pomp zu feiern, obwohl sie bei näherer Betrachtung etwas hohler ist als zum Beispiel in Großbritannien. Was man hätte in Deutschland tun müssen? Den Bogen nicht so überspannen, wie die Politik es hierzulande in den letzten Jahren auf einigen Feldern getan hat und das Land ökonomisch besser auf Kurs halten. Hier ist nicht der Platz, das einzeln zu analysieren, das tun wir in unseren auf Deutschland zentrierten Artikeln.
Die Gründe für den Rechtstrend sind nicht überall exakt gleich. In Frankreich gibt es natürlich keine Konfrontation zwischen Ost und West, wie hierzulande. Die Menschen in den ostdeutschen Bundesländern sind tendenziell pessimistischer als die im Westen und neigen stärker zur Regression. Bei den Französ:innen scheint das generell stärker ausgeprägt zu sein, weil es den Prozess des erwachsen Werdens durch notwendige Aufarbeitung nicht in der Form gab wie in Westdeutschland, aber wenn wir über die Grenzen hinausschauen, sehen wir auch: Länder, in denen es sozial ausgewogener zugeht, gehen viel erwachsener mit Krisen um und dass es ausgewogener zugeht, ist wiederum ein Zeichen von zivilisatorischer Entwicklung. Wenn aber nur einmal etwas passiert, was nicht ins Bild passt, wie in Schweden die neue Gewaltkriminalität, dann wird der Comment zwischen Bevölkerung und Politik gebrochen, der dort viel stärker ausgeprägt ist als etwa in Frankreich, Deutschland liegt etwa in der Mitte, trotz der Schleifspuren der letzten Jahre.
Wenn man nun alle, die heute den RN wählen, als Nazis abqualifiziert, trifft man ein paar Mal die Richtigen, aber auch viele, die diese Zuschreibung nicht verdient haben. Sie sind eben kindische Nationalisten, die sich den größeren Zusammenhängen verweigern. Insofern ist Frankreich tatsächlich anders strukturiert als Deutschland. Eine sehr wissende Elite hat in der Tat einen großen Abstand zur Mehrheit, die zwar auf ihre eigenen Interessen mehr achtet als bei uns, aber nicht politisch elaborierter im Ganzen ist. Hierzulande hingegen gibt es gar keine politische Elite, und das ist genauso schädlich, wenn es um Krisenbewältigung geht. Es gibt keine optimale Politik, aber Frankreich und Deutschland treffen sich doch immer wieder bei gewissen Gemeinsamkeiten: In beiden Ländern ist man viel zu rechthaberisch, um sich das abzuschauen, was in anderen Ländern eindeutig besser gemacht wird. Und diese Eigenschaft gibt in der Tat Anlass zum Pessismismus, weil sie Fortschritt im Kern aller Dinge, bei der besseren Verzahnung aller gesellschaftlichen Belange, verhindert. Das französische Selbstverständnis ist zu sehr rückwärts orientiert, das westdeutsche Modell schon im Rückwärtsgang und noch nicht krisenerprobt, als die Wiedervereinigung kam. Daraufhin wurde das Modell abwärtsgewendet und diejenigen, die das bewirkt haben, werden von Journalisten mit Erbsengrößenhirnen / Hofberichterstattungsmentalität bis heute dafür gefeiert.
Zwei unterschiedliche Bewusstseinszustände, die aber zu ähnlichen Ergebnissen führen könnte. Hat die französische Politik eigentlich ein Narrativ für eine sinnvolle Zukunft, das sie der Bevölkerung verkaufen kann und das nicht auf Fehlvorstellungen bezüglich der Vergangenheit und der Gegenwart beruht? Hat die deutsche Politik überhaupt eine Erzählung, seit nach der Wiedervereinigung? Eine Erzählung, die auch beinhaltet, wie diese doch noch ein Erfolg werden könnte? Wir sehen weit und breit nichts davon. Wir sehen, dass der Pessimismus viele Facetten hat und zu falschen Wahlergebnissen führen wird. Das ist sehr traurig, und genau das werden wir im September wieder schreiben müssen, nachdem in drei ostdeutschen Bundesländern Landtagswahlen durchgeführt wurden.
Da wird die AfD auf ähnliche Stimmanteile kommen wie jetzt der oder das RN in Frankreich. Und jenseits der AfD tummeln sich schon neue populistische Kräfte, die ihre Wähler:innen noch sehr enttäuschen werden. Das wird zu neuem Pessimismus führen und Weiterentwicklungen blockieren, weil wieder einmal zu einfache Lösungen als machbar suggeriert wurden; hingegen das Eindreschen auf Schwächere fördern, das man allenthalben sieht, die Schuldverschiebung, die leider den beiden größten europäischen Kontinentalvölkern ziemlich zu eigen ist, um die es in dieser Darstellung hauptsächlich geht.
Uns treibt das alles um und man könnte so vieles besser machen. Aber die Politik ist das, was wir uns wählen, in Deutschland wie in Frankreich, den USA oder anderswo, wo man noch frei wählen darf.
Angesichts dessen, wie sich die Gesellschaften der Demokratien entwickeln und sich damit im Grunde selbst abwärts ziehen, werden wir heute wieder nicht auf eine Sternstunde der Demokratie hoffen dürfen. Und auch nicht im September. Und nicht bei der Bundestagswahl 2025. Usw.
TH
[1] Zitate zu Infoblock 1
[3] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/parlamentswahl-frankreich-116.html
[5] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ausland/frankreich-parlamentswahl-erste-runde-100.html
[7] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/parlamentswahl-frankreich-macron-100.html
[11] https://results.elections.europa.eu/de/frankreich/
[2] Zitate zu Infoblock 2:
[4] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/macron-pressekonferenz-102.html
[5] https://www.wsws.org/de/articles/2024/05/15/rjfu-m15.html
[11] https://securityconference.org/publikationen/debriefs/dunkle-wolken-und-silberstreifen-am-horizont/
[3] Zitate zu Infoblock 3 „Marine Le Pen“
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Marine_Le_Pen
[2] https://www.swp-berlin.org/publications/products/studien/2017S06_kmp.pdf
[3] https://www.bpb.de/themen/parteien/rechtspopulismus/245672/rassemblement-national/
[4] https://fr.wikipedia.org/wiki/Marine_Le_Pen
[5] https://dgap.org/de/forschung/publikationen/europawahl-die-nervositaet-waechst
28.06.2024, Ausgangsartikel:
Nur drei Wochen nach der Europawahl kommt es schon wieder zu einer Abstimmung, die für uns in Deutschland sehr wichtig sein wird – obwohl niemand von uns an ihr teilnehmen wird. Und beide Vorgänge hängen miteinander zusammen.
Nach der Europawahl am 9. Juni hatte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron angesichts des schlechten Abschneidens seiner „REM“-Bewegung (République en Marche), jetzt Bestandteil des „Ensemble pour la République“ (ENS), Neuwahlen in Frankreich verkündet. Sieger bei den Europawahlen war eindeutig der rechtspopulistische RN („Rassemblement National“, früher „Front National“) von Marine Le Pen geworden.
2019 waren noch beide Lager, das Rechte und das Liberale, etwa gleich stark mit jeweils um 25 bis 26 Prozent, 2024 verlor Macrons Bündnis 10 Prozent, der RN gewann fast 7 Prozent hinzu und ist seitdem doppelt so stark im Europäischen Parlament vertreten (31,47 Prozent der Wählerstimmen in Frankreich gegenüber 14,56 Prozent).
Macrons Kalkül: Gegen Le Pen könnten sich alle anderen mehr oder weniger zusammenschließen und ihm damit ein halbwegs vernünftiges Weiterregierungen für den Rest seiner Präsidentschaftszeit (bis 2027) ermöglichen. Doch die Stimmen mehren sich, die dies für eine mögliche Fehlspekulation halten. Zunächst zeigen wir hier eine Statista-Grafik, sie beinhaltet eineaktuelle Umfrage für die Nationalratswahlen in Frankreich, die Werte wurden vom 24. bis 27. Juni ermittelt:
Macrons Wette könnte scheitern

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz CC BY-ND 4.0 Deed | Namensnennung-Keine Bearbeitung 4.0 International | Creative Commons erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.
Nach dem massiven Rechtsruck bei der Europawahl hat der französische Präsident Emmanuel Macron umgehend Neuwahlen angekündigt. Damit ist er ein hohes Risiko eingegangen, wie die Statista-Infografik mit Daten des Institut français d’opinion publique (IFOP) zeigt. Die aktuellen Umfragen vom Juni 2024 deuten demzufolge auf einen erheblichen Stimmenvorsprung für den Rassemblement National (RN) vor allen anderen Parteien hin. Das Macron-Lager Ensemble muss sich demnach abgeschlagen mit Platz drei begnügen.
Die Nationalversammlung ist das Unterhaus des französischen Parlaments. Sie hat laut Artikel 24 der französischen Verfassung maximal 577 Sitze, was der Zahl der Wahlkreise entspricht. Gewählt wird nach dem Mehrheitswahlrecht in zwei Wahlgängen. In der ersten Runde erhalten jene Kandidaten Sitze in der Nationalversammlung, die eine absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen und mindestens 25 Prozent der Stimmen aller Wahlberechtigter in ihrem Wahlkreis erhalten haben. Ist eine zweite Runde erforderlich, treten jeweils die beiden Erstplatzierten sowie sämtliche Kandidaten noch einmal an, für die mindestens 12,5 Prozent der Wahlberechtigten gestimmt haben. Es gewinnt derjenige Kandidat, der die meisten Stimmen auf sich vereinen kann.
Die rechtspopulistische Rassemblement National (RN) und Parteichefin Marine Le Pen versprechen, Migration und damit auch finanzielle Leistungen an Migranten zu reduzieren, Frankreich abzuschotten, auch gegen die EU. Das neu entstandene linke Bündnis will den Mindestlohn erhöhen und Preise einfrieren.
Beide Seiten wollen Macrons Rentenreform rückgängig machen, die das Eintrittsalter von 62 auf 64 Jahre anhebt. Und sie versprechen milliardenschwere Sozialprogramme, weil viele Franzosen mit der abnehmenden Kaufkraft hadern. Das wäre eine Belastung für den Staatshaushalt. Viele bezweifeln, dass die Finanzierungsvorschläge, die von rechts oder links gemacht werden, für die Versprechen reichen.
Es ist noch nicht entschieden, ob wir für die französischen Wahlen wieder eine Sonderberichterstattung etablieren, wie zuletzt für die Europawahlen. Sicher nicht in diesem Maß, mit insgesamt zehn Artikeln alleine am (deutschen) Wahltag und den beiden Folgetagen sowie einiger Vorberichterstattung. Letztere sehen Sie nun aber hier auch.
Und falls Sie meinen, Deutschland sei mit der AfD sehr weit nach rechts gewandert, dann müssen Sie sich die französischen Umfragen anschauen, damit klar wird: auch diese Ansicht ist relativ. Allerdings ist der RN nicht die AfD, sondern versucht gerade, sich von dieser abzugrenzen, indem Marine Le Pen maßgeblich dafür verantwortlich war, dass die AfD aus der Fraktion „ID & D“ (Identitäre und Demokraten) des Europäischen Parlaments ausgeschlossen wurde. Trotzdem ist das RN nach wie vor rechtsnationalistisch. Die wenigen oben erwähnten Programmpunkte lassen keinen anderen Schluss zu.
In Kommentaren wird davor gewarnt, dass der Euro zusammenbrechen wird, wenn Deutschland die Schuldenbremse aufhebt. Wir halten diese Ansicht für Unsinn, denn die vielen Sondervermögen und Ausnahmelagen der letzten Jahre, die deklariert wurden, um mehr Kredite aufnehmen zu können, hatten einen solchen Effekt auch nicht. Im Gegenteil, man wird vermutlich anerkennen, dass Deutschland sich aus der aktuellen Maroditätsfalle mit Zukunftsinvestitionen befreien will.
In Frankreich sieht die Lage allerdings anders aus. Der Staat ist fast doppelt so hoch verschuldet wie der deutsche, auch Macron hat daran nichts geändert, im Gegenteil. Es ist ein Desaster, dass dabei nicht einmal eine sozialere Politik herauskam, sondern wiederum das Gegenteil, wie die Rentenreform bewiesen hat. Ob man ihre Rückgängigmachung finanzieren kann, hängt von vielen Faktoren ab, die wir hier nicht ausleuchten können, aber es ist bezeichnend, dass nur noch die (Neo-) Liberalen am gegenwärtigen Stand der Dinge festhalten wollen.
Macrons Spekulation zielt darauf, dass die „Neue Volksfront“ mit seiner liberalen Gruppe zusammengehen könnte, um einen Durchmarsch des RN zu verhindern. Ob das wirklich so kommt und damit eine echte Volksfront gegen rechts wie in den späten 1930er Jahren entsteht, bleibt abzuwarten. Macron hat die Neuwahlen so rasch angesetzt, dass keine Zeit bleibt, sich strategisch abzusichern. Recht ungewöhnlich für einen ENA-Absolventen, der darin geschult ist, diplomatisch immer das Beste für sich, seine politische Gruppe und natürlich auch für Frankreich herauszuholen.
Die Abwesenheit einer solchen Schulung bei deutschen Politikern haben wir in früheren Jahren häufig als Mangel bezeichnet. Der Mangel bleibt und zeigt sich permanent: Frankreichs Präsident schafft es, sich als besonders starker Unterstützer der Ukraine darzustellen, während Deutschland viel mehr für die Ukraine tut und trotzdem, anders als Frankreich, ständig in der Kritik steht, es sei nicht genug.
Für einen Repräsentanten der klassischen französischen Politik-Elite geht Macron also einen sehr offensiven und riskoreichen Weg, wenn er einen rasanten Erfolg der Rechten in Kauf nimmt, um die Rechten damit von der Regierung fernzuhalten. Nach unserer Ansicht ist dieser Weg generell ein Fehler und dabei zeigen sich nun auch ein Mängel im Politikverständnis von Menschen wie Macron.
Seine Strategie ist auf eine Manipulation und Um-die-Ecke-Denken ausgerichtet, sie ist international recht wirksam, aber wenn es den einfachen Menschen im Land damit zu viel wird, kann auch dieser Glanz gefestigter diplomatischer Exzellenz die Alltagsprobleme nicht mehr verdecken, die von der Mehrheit wahrgenommen werden. Wir werden diesem Artikel mindestens ein Update folgen lassen, in dem eine frappierende Ähnlichkeit zwischen Deutschland und Frankreich etwas mehr beleuchtet werden wird, hier schon das Grundsätzliche:
Noch während Corona waren die generell kritischen Franzosen und Französinnen zumindest zu etwa gleichen Teilen optimistisch und pessimistisch, die Zukunft ihres Landes und ihre eigene betreffend. Seit 2022 hat sich das Bild stark eingetrübt und die Stimmung ist genauso schlecht wie hierzulande. Das hilft hier der AfD und jetzt auch dem BSW, in Frankreich dem RN.
Dass Europa durch diesen in Frankreich noch stärkeren und auch schon länger ausgeprägten Rechtstrend in Gefahr ist, hat sich das EU-Establishment auch selbst zuzuschreiben: Die EU ist kein Bollwerk gegen die Verarmung immer weiterer Bevölkerungsteile in wichtigen Ländern wie Frankreich und Deutschland, sondern privilegiert ein paar kleine Staaten, die sich auf Kosten anderer bereichern und insgesamt die Oberschicht, die sich auf Kosten der Arbeitenden bereichert.
In Frankreich geht die längere Lebensarbeitszeit, die Macron nun im x-ten Anlauf und gegen starken Widerstand durchgedrückt hat, einher damit, dass französische Superreiche noch schneller reicher werden als in anderen Ländern. Sinnbild dafür ist Bernard Arnault, der LVMH-Chef, der innerhalb weniger Jahre zu den US-Multimilliardären aufschließen konnte und sich großzügig beim Wiederaufbau von Nôtre-Dame de Paris nach dem Brand der Kathedrale gab.
In Frankreichs Bevölkerung herrscht ein anderes Verständnis davon, wie man mit den eigenen Interessen umzugehen hat als in Deutschland, und das hilft gegenwärtig leider den Rechten. Insofern ist dieses viel bewusstere Verständnis genauso falsch, als wenn man wegen der Zustände in Deutschland die AfD wählt, aber nicht falscher, als wenn man hierzulande die Unionsparteien oder die FDP wählt, ohne zu den Privilegierten im Land zu gehören.
Die Konsequenzen einer Rechtsregierung auf die EU und das Verhältnis zu Deutschland zu beurteilen, dazu ist es zu früh, aber wir sehen die hiesige Konzentration auf das Tandem Paris-Berlin schon länger als zu einseitig an, da sind wir gar nicht uneins mit dem RN. Wir sehen Frankreichs Politik ebenso kritisch wie das RN die deutsche. Wer nun wirklich von wem benachteiligt wird, ist also auch eine Frage der Sichtweise Es fehlt jedoch an einer positiven Erzählung über gemeinsame Vorteile, das ist offensichtlich und in Deutschland Teil des generellen Problems, dass die Politik kein mitnehmendes Narrativ zuwege bekommt.
Die daraus entstehenden, im Grunde uralten Friktionen konnten lange Zeit durch große proeuopäische Politiker in Grenzen gehalten werden. Solche gibt es aber mittlerweile nicht mehr und außerdem herrscht überall Abstiegsangst. Da verfestigen sich ohnehin niemals erloschene Feindbilder wieder, dringen nach außen, manifestieren sich in Wahlentscheidungen. Man muss verstehen, dass es in Frankreich nach wie vor zieht, mit antideutscher Rhetorik Wähler:innen einzufangen.
Dies befördert die aktuelle Regression. Anstatt zu sagen, wir schließen uns als Arbeitende und Mehrheitsbevölkerung aller Länder zusammen gegen das gemeinsame Ziel der Eliten in Deutschland, Frankreich und anderswo, uns ärmer und die Reichen reicher zu machen, geht man zui einer Haltung über, die im Grunde infantil ist und schon für viel Leid gesorgt hat.
Wir müssen uns den Film zu Didier Éribons „Rückkehr nach Reims“ noch anschauen, aber wir sind tendenziell auch in dieser Sache vorsichtig: Das direkte Wechseln vieler Wähler:innen von ganz links, was es in Frankreich, anders als in Deutschland, wirklich noch gibt, nach ganz rechts, erscheint uns zu schlicht erklärt und Linkspopulismus ist für uns nicht „links“, wenn er unzählige Elemente rechter Weltbilder übernimmt.
Die Wahlen in Frankreich werden spannend, zumal sie dramaturgisch geschickt aus zwei Wahlgängen bestehen, was taktische Aspekte mehr in den Vordergrund stellen wird als bei deutschen Bundestagswahlen, aber eines sagen wir voraus: Ein Sieg für Europa, für die Demokratie und die Mehrheit der Menschen in allen europäischen Ländern werden diese Wahlen nicht werden.
TH
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