Sport: Fußball-Europameisterschaft 2024 in Deutschland (2)
20 Tage ist es her, seit wir unsere erste EM-Kolumne geschrieben haben, mit ein wenig Statistik zu Deutschland-Schottland. Das hatte ja dann auch geklappt, die Statistik in Pflichtspielen blieb positiv. Und damit zum Auftakt in Form einer Statista-Grafik:

Nun sind 44 von 51 Spielen der EM gespielt, noch acht von 32 Teams im Rennen. Morgen und übermorgen werden die Halbfinals gespielt.
Morgen wird Deutschland nach aller Wahrscheinlichkeit aus seiner Heim-EM ausscheiden. Die Wettquoten weisen nicht ganz unser Gefühl aus, sie sehen Spanien nur leicht im Vorteil, etwa mit 2,6 / 2,8 oder ähnlich, dazwischen liegt noch das Unentschieden mit etwa 3,2 bis 3,3 – gemeint ist das Ende der regulären Spielzeit + Nachspielzeit, nicht das Spielende, denn ein Unentschieden kann es in einem K.O.-Spiel nicht geben.
Selbstverständlich nicht. Aber nicht seit ewig. Wenn man in die Geschichte einsteigt, sieht man, dass es eine Zeit gab, in das sehr wohl möglich war und Wiederholungsspiele ausgetragen werden mussten. So lange, bis jemand endlich gewann. In der Regel hat ein Wiederholungsspiel ausgereicht.
Wer morgen im Rennen bleibt, hat die Chance, Rekord-Europameister zu werden. Spanien und Deutschland haben bisher jeweils drei Titel.
Allerdings sind die spanischen Titel viel „frischer“, die letzten beiden datieren aus den Jahren 2008 und 2012. Das Golden Goal hat sich auch nicht bewährt, durch das Deutschland 1996 seine letzte Europameisterschaft errungen hat. 28 Jahre ist das schon her. Zwischen dem ersten und dem zweiten Titel lagen nur acht Jahre, zwischen dem zweiten und dem dritten Titel 16 Jahre. Deutschland erst in vier Jahren wieder dran, wenn sich die bisherige Verdoppelungstendenz bei den Titelabständen fortschreiben wollte. Die obige Grafik zeigt aber auch einen großen Unterschied: Es wird noch lange dauern, bis eine andere Mannschaft so oft mindestens das Halbfinale erreicht haben wird wie Deutschland. Diese Kontinuität in der Spitze ist vorerst unerreichbar. Sie ist aber auch das Resultat von Stärken, die in der Vergangenheit liegen.
Falls Frankreich die EM gewinnt, könnte es nach Titeln zu Spanien und Deutschland aufschließen.
Einen Rekord wird Deutschland auf jeden Fall behalten: Denjenigen mit den meisten Teilnahmen an einer EM-Endrunde (14), Spanien kommt jetzt auf 12, Rang zwei. Außerdem war Deutschland schon achtmal im Halbfinale und sechsmal im Finale, auch diese Rekorde können bei der EM 2024 nicht von anderen Mannschaften gebrochen werden.
Bemerkenswert ist die deutsche Zahl auch deshalb, weil die BR Deutschland an den Endrunden 1960 und 1964 freiwillig nicht teilgenommen und sich 1968 nicht qualifiziert hatte. Das bedeutet, diese Rekorde wurden in dem relativ kurzen Zeitraum von 1972 bis heute erzielt. Allerdings waren die ursprünglichen Endrunden auch sehr klein, begannen mit nur vier Teams, sodass nur wenige Mannschaften die Möglichkeit hatten, von Beginn an Teilnahmen, Finals oder Halbfinals zu sammeln.
Geht es um einzelne Spieler, überstrahlt einer alle anderen: CR7.
Sechs EM-Teilnahmen, 29 Einsätze, 14 Tore – damit liegt Christiano Ronaldo so weit vor allen anderen, dass diese Bestmarken zumindest zu unseren Lebzeiten wohl nicht gebrochen werden. Wir hoffen, das reicht dem – pardon – alten Nimmersatt jetzt. Was immer man über Ronaldo denkt. Einen solchen Ausnahmespieler hat es in Europa zuvor nicht gegeben. Fast unerkannt in seinem Schatten der ebenfalls portugiesische Nationalspieler Pepe, der seit 2008 dabei ist und auf fünf Teilnahmen kommt, zusammen mit dem Kroaten Luca Modric und dem früheren spanischen Torwart Iker Casillas. Einige deutsche Spieler kommen auf vier Einsätze, davon aktiv sind noch Toni Kroos und Thomas Müller, die in ersterem Fall sicher, in letzterem wahrscheinlich bei der EM 2028 nicht mehr dabei sein werden. Manuel Neuer kommt ebenfalls auf vier Teilnahmen. Torhüter sind sehr durabel, vielleicht ist er in vier Jahren immer noch die Nummer eins in Deutschland, dann könnte er auch Rekordnationalspieler sein.
Damit solche Einzelspieler-Rekorde erzielt werden können, ist es natürlich wichtig, dass ihre Mannschaften immer an der Endrunde teilnehmen, teilweise auch, dass sie dabei weit kommen. Aufgrund der immer weiteren Ausdehnung der Teilnehmerfelder sind die Chancen stark gestiegen, dass Spieler von Spitzenteams Endrundenteilnahmen, Spiele und Tore sammeln können. Deswegen finden Sie in der Tabelle, auf die wir uns beziehen, auch keinen „historischen“ Spieler, sondern nur welche, die mindestens bis in die 2000er hinein aktiv waren. Unter den besten Goalies, die darin gelistet sind (8 Tore oder mehr) findet sich übrigens kein Deutscher. Sogenannte „Bomber der Nation“ gibt es hierzulande mittlerweile nicht mehr. Sicherlich einer der Gründe, warum Deutschland im Sammeln von Titeln nachlässt. Der letzte dieser Spieler war Miroslaw Klose, der auch den Torrekord hält (71), aber für ihn mehr als doppelt so viele Spiele brauchte wie Gerd Müller (68 Tore). Müller hatte den unglaublichen Score von mehr als einem Tor pro Spiel (62 Einsätze).
Wenn man einen deutschen Nationalspieler finden will, der auf eine ähnlich lange Einsatzzeit wie Christiano Ronaldo kommt, muss man auf Rekordnationalspieler Lothar Matthäus zurückgreifen (150 Einsätze), an Matthäus wird vorerst niemand herankommen. Thomas Müller ist der aktuelle Nationalspieler, der am dichtesten dran ist (130 Einsätze), aber wir bezweifeln, dass er noch zwanzig weitere bekommen wird. Nach der EM wird sicher die Verjüngung weiter vorangetrieben werden, egal, wie das Turnier ausgeht. Bei den aktuellen Spielern rächt es sich ein wenig, dass Deutschland bei den letzten Endrunden großer Turniere nicht überzeugt hat und früh ausschied, denn insgesamt nimmt die Zahl der möglichen Nationaleinsätze weiter zu, dank der immer größeren Turniere und neuer Formate wie der Nations League. Vielleicht wird Manuel Neuer dadurch schon recht bald der neue Rekordnationalspieler (derzeit 123 Einsätze). Vor allem südeuropäische Torhüter haben noch mit 40 Jahren und mehr hervorragende Leistungen im Nationaltrikot gezeigt.
Wie viele Spiele werden aber bei der EM 2024 noch hinzukommen, bei denen Spieler „Punkte“ sammeln können?
Wenn es nach unserer Prognose geht, für Deutschland nur noch eines. Man hat es auch in diesem Turnier wieder gesehen, wir haben es vorhergesehen: Deutschland hat schon gute Spieler, aber das Gesamtkonzept ist nicht das überzeugendste aller Mannschaften. Es ist besser geworden als in den chaotischen letzten Jahren, aber auch andere Länder bringen immer wieder Supertalente hervor, bei dem spanischen Spieler Yamal gab es sogar Diskussionen, ob er mit 16 überhaupt schon mitmachen dürfte. Die Zukunft dieses Landes scheint fußballerisch also auch gesichert zu sein. Der nächste Nationalspieler mit der Fähigkeit, internationale Rekorde zu brechen?
Was erwarten wir?
Bis auf den EM-Sieger wollen wir keine Prognose abgeben, die morgige für das Deutschland-Spiel ist damit umschlossen.
Spanien hat die besten Leistungen im bisherigen Turnier gezeigt, nie etwas anbrennen lassen, bisher erst ein Tor kassiert. Dumm gelaufen, dass Deutschland schon im Viertelfinale auf die Spanier treffen wird. Also kein Fernsehspiel für uns. Denn wir haben gesagt, wir schauen erst ab dem Halbfinale zu, und dabei sind wir bisher geblieben. Für den morgigen Nervenkrieg werden wir auch keine Ausnahme machen. Uns sind die Auftritte der später doch noch „Goldenen Generation“ gegen Spanien bei der EM 2008 und der WM 2010 noch zu gut in Erinnerung. Spanien hatte damals eine Ära geprägt und mit seinem Spiel einen enormen Einfluss auf andere Mannschaften genommen, auch auf die deutsche. Der Begriff Ballbesitzanteil wurde vor der spanischen Ära um 2010 herum nur sehr nachrangig behandelt.
Wenn die Spanier kein Eigentor schießen, was ja schon vielen Nationen bei dieser EM gelungen ist, wird es sehr schwer werden für Deutschland. Schwerer, als die Wettquote es ausdrückt, die enthält nämlich auch einen Heimbonus. Dadurch steht Deutschland jetzt bei den Buchmachern auf Rang zwei nach Spanien – auch, weil andere Mannschaften nicht überzeugen. Frankreich hat sich von dem Bruch der Nase der Nation bis jetzt nicht erholt, schießt keine Tore aus dem Spiel heraus. Unser Lieblings-Endspiel Spanien gegen Frankreich könnte trotzdem noch stattfinden, aber die Favoritenrolle wäre doch deutlich auf Seiten der Spanier. Von den Engländern wird erwartet, dass sie doch noch leistungsmäßig explodieren, sonst wären sie nicht unter den Topfavoriten. Sogenannte Geheimfavoriten sind jetzt natürlich die Schweiz und die Türkei, den Niederländern traut man nach nur einem guten Spiel gegen Rumänien plötzlich auch wieder alles zu. So schwankend ist der Mensch. Leistungsmäßig und einschätzungsmäßig.
Aber bis auf Spanien hat keine Mannschaft konstant gute Leistungen gezeigt. Auch Portugal nicht. Ronaldo kommt zwar jetzt auf vier Tore, aber sie entstanden vom Elfmeterpunkt aus und man merkt doch langsam, dass seine Zeit zu Ende geht. Solange er die anderen nicht behindert, kann aber auch Portugal noch weit kommen. Gäbe es diese Iberer nicht, wir meinen das größere Land der iberischen Halbinsel, wäre das ein sehr spannendes und offenes Turnier.
Ist die EM ein Riesenfest?
Haben Sie das Achtelfinale Österreich-Türkei gesehen? Wir nicht, siehe oben, wir haben dieses Mal nicht einmal reingehört während der Abendrunde. Aber selbstvrständlich über dessen gewisse Begebnisse gelesen. An dem Abend sind wir erst raus, als die Stadt schon verstopft war. Die paar österreichischen Fans, die noch in Berlin verblieben sind, waren es nicht, die wieder einmal für ein Spektakel gesorgt haben. Diejenigen, die nach Leipzig gefahren waren, nahmen die Sylt-Version eines alten Liedes auf, die rassistisch geändert wurde und schrieen „Ausländer raus“. Gemeint sind die Türken, dabei sind die Österreicher, die hier die Spiele besuchen, selbst Ausländer, viele der Türken hingegen nicht, die in Leipzig waren.
Die anderen machen Wolfsgrüße und sagen: Pardon, ich bin Türke. Ja, wir sind Deutsche, da könnte uns auch mal ein Hitlergruß rausrutschen, ohne dass gleich so ein Tamtam gemacht wird. Es war aber nicht „rausgerutscht“. Natürlich stellt sich der türkische Präsident, der in einer Koalition mit dem parlamentarischen Arm der Grauen Wölfe ist, der MHP, hinter dieses rassistische Zeichen und kommt sogar nach Berlin zum nächsten Spiel. Das haben wir jetzt davon, dass mal jemand es gewagt hat, den grassierenden Nationalismus zu kritisieren, der nicht nur in diesem Land ausgeprägt ist, wie man an den Österreichern gesehen hat. „Trottel vs. Trottel“ hat der Spiegel geschrieben. Wir halten das für eine Verharmlosung, auch wenn der gesamte Artikel natürlich nicht auf diesen Satz reduziert werden darf.
Übermorgen wird Berlin wieder Hochsicherheitsgebiet.
Wir sind keine ausgesprochenen Oranje-Fans, aber Sie können sich denken, wem wir für das Spiel übermorgen die Daumen drücken. Das hat vor allem mit dem Erscheinen des Mannes zu tun, der jedem Demokraten und jedem, der will, dass Deutschland als Gesellschaft der Vielfalt gelingt, ein Dorn im Auge sein muss.
Die orangenen Fans können auch lautstärkemäßig am besten mit den roten mithalten. Und natürlich sind sie extrem nationalistisch. Sollte man kaum glauben, bei einem Land, das als so liberal gilt. Ist aber schon lange so und jetzt gibt es auch dort den passenden politischen Rechtstrend. Auch die Engländer drehen seit dem Brexit noch mehr frei und sind ohnehin als Fans ziemliche Rüpel.
Ist die EM also ein Riesenfest? Fanfreundschaften wird es sicher auch geben, aber die hören spätestens im Stadion auf.
Sie müssen alles, was wir jenseits der klaren Fakten schreiben, so lesen: Wir meinen die Minderheiten, die den Fußball-Nationalismus als Ersatzbefriedigung verwenden, nicht die schweigende oder gemäßigtere Mehrheit in den jeweiligen Ländern.
Der Eindruck, den viele Anhänger verschiedener Nationalmannschaften hinterlassen, ist trotzdem verheerend und fördert seinerseits Aggressionen bei jenen, die diesen Nationalismus nicht mehr sehen können. Der Rechtsdrall in Europa und nicht nur in Europa führt zu der realistischen Einschätzung: es wird schlimmer werden. Alte Animositäten waren nie verschwunden, aber man darf sie jetzt immer offener zeigen und zu neuem Wachstum hochziehen. Das ist in einer Welt wie der heutigen hochgefährlich. War es immer schon, aber man dachte ja, die Menschen hätten etwas dazugelernt. Kaum ein europäisches Land hat nicht auf dem Nationalismus-Trip schon erhebliche Niederlagen einstecken müssen.
Wir sind da anders drauf.
Unter Deutschen wird hingegen diskutiert, ob nicht das Zeigen einer Deutschlandfahne AfD-Nähe bedeutet. Auch in der ganz kleinen Form, irgendwo an den Türrahmen des Autos gesteckt.
Ein Kolumnist hat das weniger Flaggen-Lametta mit 2006 verglichen, als es noch keine AfD gab und das Fahnenmeer noch ganz unschuldig war. Ja, es war bunter, deutlich mehr als jetzt. Der Vergleich hinkt, im Kleinen betrachtet, etwas, denn unserer Gegend ist seitdem beispielsweise stark gentrifiziert worden, und jetzt stehen eher Sonnenblumen auf den Balkonen der nunmehr renovierten oder neu zugebauten Häuser.
Oder sie sind nur stylisch, es gibt keine Statements, auch nicht in Pflanzenform. Aber es geht ja ums Ganze. Ja, die Deutschlandflagge ist in Verruf geraten. Angesichts des traditionell geringen Anteils von AfD-Wähler:innen in der Berliner Innenstadt können jedoch nicht alle, die früher geflaggt haben, heutige AfD-Wähler:innen sein.
Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte. Wir haben uns am Fahnenmeer nie beteiligt, uns kann es eigentlich egal sein. Und doch. Da ist etwas im Rutschen, das spürt man und befasst sich damit. Die Viewings und Kneipen sind nach wie vor voll, dort sieht man auch Schwarz-Rot-Gold. Aber nicht als permanentes Verbundenheitszeichen über die EM hinweg.
Würden alle sich so zurücknehmen, wäre das sogar angenehm. Aber sie tun es nicht. Man hat den Eindruck, sie füllen das deutsch-großstädtische Nationalismus-Vakuum gerne aus.
An der Stelle haben wir gleich mehrere Absätze gecancelt, die unsere aktuellen Beobachtungen in Berlin betreffen. Ein bisschen Selbstzensur muss auch mal sein, zumal wir eben nicht in die gleiche, sagen wir mal, etwas archaische Haltung verfallen wollen wie jene, über die wir direkt nach dem Erleben doch gerne ein paar Takte geschrieben hätten. Es gibt ja noch anderes.
Doch selbst in Spanien.
Als Vincente del Bosque noch Trainer der spanischen Nationalmannschaft war, war er eigentlich ein sehr sachlicher Typ, selbstbewusst, moderat in seinen Ansprachen anderen Nationen gegenüber. Mittlerweile lässt er gegenüber der deutschen Mannschaft eine ziemlich Arroganz raus. Aber er wird wohl recht behalten und es ist am Ende doch nervig, wenn der größte Fußballverband der Welt, der deutsche nämlich, der sogar der größte Einzelsportverband der Welt ist, es angesichts von fast doppelt so vielen Einwohnern in diesem Land, wie Spanien sie hat, nun schon seit fast 20 Jahren nicht hinbekommt, eine ähnlich gute Mannschaft auf die Beine zu stellen. Der DFB, wie er in den letzten Jahren geführt und organisiert wurde, was er konzeptionell auf die Reihe bekommen hat und was nicht, das ist eben ein Zeichen für den Niedergang, und das nervt, weil es sich mit so vielen anderen Zeichen verbindet wie gerade jetzt.
Aber wegen solchen Einlassungen drücken wir den Deutschen doch noch ein bisschen mehr die Daumen, ohne zu enttäuscht zu sein, wenn es morgen zum erwarteten Ausscheiden kommt. Wir haben schlicht kein Bild davon, wie morgen der erste Pflichtspielsieg gegen Spanien seit 1988 (!) gelingen soll. Es war damals übrigens auch eine EM, am Ende wurden die Niederlande zum ersten und bisher einzigen Mal Europameister.
Außer es kommt zu einigen Ungewöhnlichkeiten, wie einer blöden VAR-Entscheidung im für die Spanier falschen Moment, zu einem Eigentor, was wir eher nicht glauben oder was auch immer außerhalb der reinen Leistungsbetrachtung liegen könnte.
Spanien ist nicht besser als 2008 oder 2010, aber andere haben abgebaut oder sind gerade sehr schwankend in ihren Leistungen.
Wir haben jedenfalls Wort gehalten, wir haben uns noch kein Spiel im Fernsehen angeschaut, siehe oben und wenn man von den scheelen Blicken absieht, die wir im Vorbeigehen auf die Bildschirme in den Außenbereichen der Restaurants geworfen haben. Einmal haben wir zwischen Kudamm und Budapester Straße bei einer etwas größeren Viewing-Location haltgemacht. Da lag Deutschland gerade gegen die Schweiz zurück. Wir gingen dann wieder, denn bei den ersten Spielen fiel nie ein Tor, wenn wir auch nur mit den Steckern in den Ohren zugehört hatten. Wir wollten auf keinen Fall an einer deutschen Niederlage schuld sein. Es geht ja nicht nur um uns, sondern auch um Menschen, die sich noch richtig über etwas freuen können, was mit ihnen selbst überhaupt nichts zu tun hat.
Wir wissen, dass auch ein Europameistertitel in diesem Land niemandem helfen und keine Probleme lösen wird, die dringend sind, das muss als Erkenntnisbasis reichen und sollen sich die freuen, die es können. Unser State of Mind schließt nicht ein, anderen Trauer und Melancholie zu wünschen, denen Fußballergebnisse näher gehen, als das bei uns mittlerweile der Fall ist.
Der Turnierbaum war nicht der Freund der deutschen Mannschaft. Ausgleichende Gerechtigkeit, denn das war auch schon mal anders und vor allem erwischt Deutschland regelmäßig recht komfortable Qualifikations- und Vorrundengruppen. So auch dieses Mal. Lediglich die Schweiz hat sich als etwas stärker erwiesen als erwartet, und prompt gab es nur ein Unentschieden, das auch noch ziemlich glücklich war.
Der am härtesten erarbeitete Titel war wohl der bisher letzte, der Weltmeistertitel von 2014. Die Brasilianer hatte man mit einem Fluch belegt, aber alles andere war wirklich viel Arbeit und auch etwas Glück. U. a. das Glück, dass man Führungsspieler hatte, die dem Trainer so in etwa nach dem stocherigen Achtelfinale gegen Algerien sagten, wir machen jetzt unser Ding, sonst werden wie keine goldene Generation. Wir sind gespannt, ob wir noch einen deutschen Fußballtitel erleben werden. Aber unser Glück hängt davon nicht ab. Auch im Fußball ist nicht alles sauber und rein, deswegen sollte man auch ihm gegenüber eine gewisse Distanz waren. Und sich im Allgemeinen nicht zu sehr mit Dingen identifizieren, auf die man persönlich überhaupt nicht stolz sein sollte, weil man nichts mit ihnen zu tun und keine eigenen Leistungen für die Ergebnisse erbracht hat.
Wenn man sich zum Beispiel persönlich für die Demokratie engagiert und das mit vielen anderen zusammen und sie durch dieses große zivilgesellschaftliche Engagement alle Gefahren übersteht, denen sie aktuell ausgesetzt ist, dann darf man darauf auch ein wenig stolz sein. Das ist das einzige, was wir neben persönlichen, auf ehrliche Art erreichten Zielen als Grund zum Stolz (nicht zur Überheblichkeit) gelten lassen. Denn wie gut man performt, hängt auch von den persönlichen Voraussetzungen ab, nicht nur vom Willen oder Wissen.
Und da hilft kein Fußball: Viele in diesem Land werden von der Politik immer mehr im Stich gelassen, und deswegen nimmt die Ungleichheit immer mehr zu. Fußballstolz ist im Grunde eine Verneigung vor Ausnahmetalenten, die schlichtweg von der Natur bevorzugt wurden und vernebelt eher die Sicht auf die Realität von Normalmenschen, als sie zu fördern. Der Alltag ist entscheidend, und der ist am Morgen nach einem Spiel, das die Nationalmannschaft gewonnen hat, genau der gleiche wie zuvor. Und er wird von Faktoren besstimmt, die wir mitgestalten sollten. Aber wir müssen es auch wollen und können. Hingegen wird niemand Nationalspieler, nur, weil er es will und sich anstrengt. Er muss Gaben besitzen, über die er nicht selbst bestimmen kann.
Wir werden uns natürlich freuen, sollte es morgen wider Erwarten klappen mit dem Weiterkommen der deutschen Mannschaft. Ein bisschen Prestigedenken hat ja am Ende doch fast jeder. Aber wir machen keinen Hype daraus. Wir beschreiben diesen Hype und seine Auswüchse auch hier nicht, obwohl es uns gerade wieder rausrutschen wollte, sondern halten stattdessen abschließend fest: Wer es braucht!
TH
13.06.2024
Morgen findet das Eröffnungsspiel der Fußball-EM der Männer in Deutschland statt. Traditionell ist der Gastgeber auch am ersten Spiel beteiligt. Dieses Mal ist Schottland der erste Gegner.
Wir werden die EM sicher beim Wahlberliner nicht zu einem Hype für uns selbst machen, dazu gibt es zu viele andere, für uns wichtigere Themen. Aber wenn Statista schon netterweise eine Statistik-Infografik zu Deutschland vs. Schottland anbietet, dann nehmen wir sie doch und können mir relativ wenig Aufwand einen Beitrag abhaken. Zumal uns ein anderer Artikel für einen Werktag ziemlich stark in Anspruch genommen hat.
Deutschland gegen Schottland: Das sagt die Statistik

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz CC BY-ND 4.0 Deed | Namensnennung-Keine Bearbeitung 4.0 International | Creative Commons erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.
Am Freitag um 21 Uhr ist es endlich soweit – Schiedsrichter Clément Turpin gibt den Anpfiff Fußball-Europameisterschaft 2024. Im Eröffnungsspiel trifft Gastgeber Deutschland auf Schottland. Eine machbare Aufgabe für die deutsche Nationalelf, denn statistisch sind die Deutschen der klare Favorit in dieser Begegnung.
Wie die Statista-Grafik zeigt, standen sich die beiden Nationen in ihrer Länderspielgeschichte bereits 17-mal gegenüber – das erste Aufeinandertreffen fand bereits 1929 im Rahmen eines Freundschaftsspiels statt. Deutschland gelang seitdem achtmal ein Sieg, Schottland viermal, weitere fünfmal verlief die Partie unentschieden. Das Torverhältnis ist dabei mit 26 zu 23 Toren für Deutschland relativ ausgeglichen. Schottland konnte sich jedoch bisher nie bei einem großen Turnier durchsetzen, sondern nur bei Freundschaftsspielen gewinnen.
Ein Blick auf die aktuelle FIFA-Weltrangliste offenbart ebenfalls einen Klassenunterschied zwischen den beiden Mannschaften, auch wenn beide Teams momentan eher schlecht abschneiden. Schottland belegt momentan Rang 39 und ist damit so tief platziert, wie zuletzt im Dezember 2022. Auch die deutsche Nationalmannschaft steckt in einem Drei-Jahrestief und wird auf Platz 16 gerankt.
Deutschland kann jedoch auf die individuelle Stärke seiner Nationalspieler vertrauen. Im Kader von Trainer Julian Nagelsmann befinden sich gleich sechs Spieler, die einen höheren Marktwert aufweisen als der höchstbewertete Schotte Scott McTominay (32 Millionen Euro) von Manchester United. Das Juwel im deutschen EM-Kader Florian Wirtz überragt diesen um fast 100 Millionen Euro.
Die Ausgangslage für das deutsche Team scheint also günstig zu sein, dennoch sollte man nicht vergessen, dass Turniere ihre eigenen Gesetze haben und auch Außenseiter über sich hinauswachsen können.
Wohl wahr. Man sieht es auch an der obigen Statistik. Sie bestätigt, dass die deutschen Nationalfußballer es bei Freundschaftsspielen gerne etwas lockerer angehen lassen. Sie konnten bei Turnieren auch Gegner schlagen, die im Grunde besser spielten. Vor allem in unserer Jugendzeit war es beinahe grotesk, wie erfolgreich der deutsche Fußball angesichts der vorherrschenden rumpeligen Spielweise war (Sie merken, wir meinen die Zeit nach der Beckenbauer-Ära und vor der Wiedervereinigung). Heute ist es umgekehrt. So viel Talent, aber kein Mannschaftsgeist. Denn das war immer das Geheimnis: „Die Mannschaft“. Zuletzt 2014. Im Grunde ist Deutschland jetzt eines von vielen Ländern, die zwar gute Einzelspieler haben, aber das Gesamtpaket nicht richtig schnüren können, und es fehlen die Charaktere, die über das spielerische Potenzial hinaus wirken.
Das heißt vor allem, die Leistungen sind unbeständig. Manchmal erstaunlich gut, dann wieder grottenschlecht. Gut kicken können sie ja – wenn sie wollen, was leider nicht immer der Fall ist. Wenn es schlecht läuft, übernimmt niemand die Verantwortung, um eine Wende herbeizuführen. Auch hier verweisen wir auf die WM 2014. Nach unserer Ansicht wurde der Trainer damals von den Führungsspielern nach mehreren schwachen Leistungen und entnervenden Final- oder Halbfinalniederlagen in den Turnieren zuvor teilentmachtet (das entscheidende Spiel war wohl der sehr knappe Sieg gegen Algerien im Achtelfinale) und ab da lief es. Auch mit Glück, aber es lief. Schon bei der EM 2016 war der nach unserer Ansicht ausschlaggebende Führungsspieler Philipp Lahm nicht mehr dabei und seitdem geht es abwärts. Toni Kroos ist zwar ein Weltklassemann, aber nicht der Lautsprecher und Motivator, den eine Mannschaft auch braucht, um große Spiele gewinnen zu können, in denen sie nicht spielerisch überlegen ist. Es sei denn, sie ist so herausragend besetzt, wie es Spanien lange Zeit war oder immer wieder auch Frankreich, dann sieht es etwas gleichmäßiger aus. Aber auch diese Mannschaften hatten natürlich legendäre Führungsfiguren.
Auf wen tippen Sie? Wer gewinnt die EM?
Wir haben uns noch nicht entschieden, und, offen geschrieben, es ist uns auch nicht mehr so wichtig, wir werden uns möglicherweise nicht einmal die deutschen Spiele ansehen. Es sei denn, sie schaffen es bis ins Halbfinale, denn werden wir kurzfristig Erfolgsfans. Gut, dass wir schon bei der letzten EM und der letzten WM vorrunden-abstinent geblieben sind. Erst Corona und dann dieses Gekicke, das wäre zu viel gewesen.
Es ist keine Feststimmung mehr da. Nicht fußballerisch und allgemein nicht, und eine Pflichtaufgabe ist die Bewegungen des Runden, das ins Eckige muss verfolgen für uns nicht. Vielleicht machen wir unsere Abendrunde, während das Spiel läuft und schauen uns an und lauschen dem, was öffentlich von der EM zu sehen ist. Was es bisher nicht gibt, sind Deutschlandfahnen an Autos oder Wohnungen. Nirgendwo bisher eine gesehen, 2008 und 2010 war das noch sehr ausgeprägt (die erste EM und WM, die wir in Berlin erlebt haben). Kam das vielleicht erst nach Turnierbeginn oder hat sich wirklich etwas verändert? Wir meinen, es hat schon bei den letzten Groß-Fußballereignissen nachgelassen. Vor allem wurden die Beflaggung schnell wieder entfernt, gemäß der Turnierergebnisse. Wir meinen, das war eine gute Gelegenheit, sich etwas mehr von Dingen zu distanzieren, mit denen man im Grunde gar nichts zu tun hat. Jetzt könnte es ein kleiner Gegentrend zum politischen Rechtsdrall sein, es mit dem Schland-Geheule etwas dezenter anzugehen.
Um nicht missverstanden zu werden: Selbstverständlich wünschen wir allen, die mit der EM friedlichen Spaß haben wollen, genau dies: viel Spaß!
TH
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