Aktuelle Sonntagsfrage Bund: Wir haben uns auf einen Wechsel einzustellen (Statista + Kommentar Bund, Wahlen im Osten, Frankreich, UK, Europa) | Briefing 582 | PPP, Geopolitik

Briefing 582 PPP Politik Parteien Personen, Deutschlandtrend, Umfragen, Rechtstrend, Wahlen Juni und Juli 2024

Da wir uns in den letzten Tagen und Wochen mit Frankreich, mit dem Vereinigten Königreich und mit Europa befasst haben, dachten wir uns, wir runden die Wahlberichterstattung um einen aktuellen Blick auf die deutsche „Sonntagsfrage“ ab. Erleichtert wird uns dies durch eine aktuelle Statista-Grafik.

AfD hinter Union an zweiter Stelle

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz CC BY-ND 4.0 Deed | Namensnennung-Keine Bearbeitung 4.0 International | Creative Commons erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Erst siegt die Labour-Partei bei der Unterhauswahl in England, nun liegt auch das Linksbündnis bei der Parlamentswahl in Frankreich vor den Rechtspopulisten um Marine Le Pen. Die europäischen Wahlen der letzten Wochen zeigen eine Tendenz zu linker Politik – zumindest was die Ergebnisse betrifft. Beim Stimmenanteil konnten sowohl Rassemblement National als auch UK Reform deutlich Zugewinne verbuchen. Dass sich das nicht in den Parlamenten niederschlägt, ist allein den jeweiligen Wahlsystemen geschuldet.

In Deutschland liegt die Union weiterhin bei allen Instituten vor allen anderen Parteien. Zwischen 30 und 31 Prozent der Befragten würden hinter der CDU/CSU ihr Kreuz machen, wenn am kommenden Sonntag Bundestagswahlen wären. Die Juli-Umfragen sehen die Alternative für Deutschland (AfD) bei stabilen 16 bis 18 Prozent. Sie ist somit die zweitstärkste Partei hinter der Union. Laut INSA-Umfrage (08. Juli 2024) landet die SPD auf dem dritten Platz mit 15 Prozent, die Grünen folgen mit einem Stimmenanteil von etwa elf Prozent.

Für FDP und Linke sieht weiterhin mau aus – die FDP erreicht aber bei fast allen Instituten zumindest die 5-Prozent-Hürde für das Bundestagsmandat, die Linke bleibt weiterhin darunter. Die Liberalen sind nach der SPD die größten Verlierer im Vergleich zur letzten Bundestagswahl 2021.

Die Stimmenanteile für die Parteineugründung „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW) liegen in der aktuellsten INSA-Umfrage bei rund neun Prozent und damit nur einige Prozentpunkte hinter den Grünen.

Die Sonntagsfrage bildet den aktuellen Wahl-Trend in der Bundesrepublik ab und wird regelmäßig von den Meinungsforschungsinstituten erhoben.

Dass die AfD hinter der Union auf Platz 2 steht, ist ja schon nichts Neues mehr, aber die Erkenntnisse aus den Wahlen im Ausland und für Europa sind: Vielleicht sollte man sich bei der Union nicht mehr darüber beschweren, dass sie es nicht schafft, zu alter Stärke aufzulaufen, sondern Respekt dafür zollen, dass sie weiterhin die stärkste Kraft in Deutschland ist, anders als in Ländern, in denen klassisch-konservative Parteien längst von rechts überholt wurden. Inhaltlich können wir das leider nicht. Dass Merz & Co. noch ganz gut dastehen, liegt an ihren Ausfällen nach rechts, und damit haben wir insgesamt eine geradezu festsitzende rechte Mehrheit im Land, wenn man die FDP dazurechnet.

Ob es beinahe eine Zweidrittelmehrheit ist, hängt davon ab, wie man das BSW einordnet.  Jüngst hat die Vorsitzende Sahra Wagenknecht verkündet, man werde AfD-Anträge nicht ablehnen, wenn man sie für sinnvoll halte. Das ist für uns eine weitaus wichtigere Aussage als ein formaler Abgrenzungsbeschluss, Koalitionen betreffend. Anstatt sich für eigene Anträge demokratische Mehrheiten zu suchen, wird man also ganz pragmatisch die Tür weit nach rechts öffnen.

Warum ist das relevant? Die 9 Prozent für das BSW dürften vor allem aus dem Osten kommen, und dort könnten BSW und AfD möglicherweise nach den nächsten Wahlen in Thüringen, Brandenburg und Sachsen alle anderen überstimmen. Unrealistisch? Vor allem in Thüringen, wo das BSW besonders gut aufgestellt zu sein scheint und die AfD gegenwärtig in Umfragen bei 29 bis 30 Prozent steht, wäre es möglich, dass die beiden Parteien sich im Parlament durchsetzen, falls zum Beispiel FDP und Grüne nicht in den Landtag kommen und damit ihre Stimmen verfallen.

Damit könnte man zum Beispiel eine eigene Regierungsbeteiligung in einem Bündnis mit der CDU und der Linken oder / und der SPD aushebeln, wenn die Sachlage es gerade opportun erscheinen lässt.

So weit ist es noch nicht, außerdem haben selbstverständlich auch schon CDU-Verbände mit der AfD gestimmt, die Brandmauer ist also schon recht brüchig, was den realen Umständen beim Regierungsalltag im Osten geschuldet sein mag, aber auch ideologische Nähe bedeuten kann. Nach dem September wird es noch schwieriger werden, die AfD außen vor zu halten und es wird immer wieder zu Verschiebungen nach rechts kommen.

Die Ampelparteien kommen hingegen gerade noch auf 30-32 Prozent (bundesweit). Wir können uns nicht erinnern, dass eine Regierungskoalition einmal so schlecht dagestanden hat. Und wir müssen uns wieder auf den Osten beziehen: Möglich, dass keine von ihnen im Osten noch wird Politik gestalten können, auch nicht in Brandenburg, wo aktuell die SPD die Regierung anführt.

Dies bedeutet auch, die Ost-West-Teilung verschärft sich und wir haben im Osten ein ganz anderes Parteienbild als im Westen. Das war lange Zeit nicht so, wenn man von der Linken absieht, die in weiten Teilen des Westens nie Fuß gefasst hat. Sie hat sich eben in erster Linie als Anwältin des Ostens verstanden, und da sie diese Stellung an die AfD und wohl nun auch an das BSW verloren hat, hat sie keine starke Verankerung mehr irgendwo im Land. Es ist abzusehen, dass Die Linke in Grafiken wie der obigen bald nicht mehr sichtbar gemacht, sondern den Sonstigen zugeschlagen wird. Damit ist ihre Bedeutunslosigkeit sozusagen bildlich belegt. Wir nehmen an, es wird spätestens nach der Bundestagswahl 2025 so kommen.

Das ist ein bodenloser Niedergang linker Politik. Wer allerdings meint, er stünde gegen den Trend in Frankreich, in Großbritannien oder wo immer, dem müssen wir eine Relativierung mitteilen. Labour im UK und die Vereinte Linke in Frankreich sind nicht das, was wir als wirklich links bezeichnen würden. Im Vereinigten Königreich gibt es neben Labour kaum eine relevante linke Kraft und nach kontinentalen Maßstäben muss man Labour jetzt wieder als Mitte-Partei (nicht zentristisch im Sinne von Macrons Gefolgschaft in Frankreich) bezeichnen und die Linke in Frankreich, die jetzt als Noveau Front Populaire die Wahl gerade gewonnen zu haben scheint, ist sehr heterogen und zwischen mittigen Sozialdemokraten und Linkspopulisten, die das Vorbild für das deutsche BSW sind, gibt es kaum eine stabile, internationalistisch-solidarische Linke mehr.

Immerhin gibt es aber etwas wie neue Gegen- oder Begrenzungsbewegungen gegen rechts, derlei zeichnet sich in Deutschland nicht ab. Hierzulande ist der Rechtspeak noch lange nicht erreicht, und auch in den anderen großen Demokratien im Westen und Nordwesten sehen wir einen Zwischenstand, der auf uns nicht besonders stabil wirkt. In Großbritannien vielleicht eher als in Frankreich.

Außerdem dürfen wir die Europawahlen nicht vergessen. Gemäßigte Linke, Zentristen und vor allem Grüne haben massiv verloren, während rechts gestärkt wurde und die klassischen Konservativen in etwa ihre Ergebnisse halten konnten. Es hat noch nicht zur „Machtübernahme“ gereicht, aber die Rechten werden mehr Einfluss haben und ein Wörtchen mitreden, wenn es zum Beispiel um die Bestätigung von Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin geht. Wenn sie sich nicht von den Rechten abhängig machten will, braucht sie, wie Macron in Frankreich, die Linke und auch die Grüne, kann sich allerdings wohl weitgehend auf die EVP-Fraktion stützen, aus der sie qua CDU-Mitgliedschaft selbst kommt. Um sicherzugehen und Abweichler zu marginalisieren, muss sie aber viel Zustimmung von Parteien bekommen, die Kompromisse in die eine oder andere Richtung fordern werden.

Sicher kann das auch eine Chance für die EU sein, aber die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sie noch anfälliger wird für nationale Egoismen und dass Schnellschüsse im Sinne der territorialen Erweiterung organisiert werden, bevor sinnvolle Reformen umgesetzt werden. Die EU-Politik ist getrieben, weil sie vor dem nationalistischen Rechtstrend sozusagen davonrennen und weiterer Pflöcke einschlagen muss, bevor dieser so stark wird, dass an eine Vertiefung und Erweiterung nicht mehr zu denken ist.

Wie der Brexit gezeigt hat, lassen sich auch sehr tiefe Verflechtungen sehr wohl rückgängig machen, deshalb gilt auch für die EU-Institutionen, was wir für die nationalen Parteien festgehalten haben: Sie müssen sich den Bürger:innen so zeigen, dass nicht jedes populistische Narrativ verfängt, weil es notabene viel einfacher strukturiert und griffiger  zu vermitteln ist als die komplizierte Regelungs- und Ausgleichspolitik der EU. Die EU muss für sich werben, wenn es etwas zum Werben gibt, sich auch auf nationaler Ebene den Diskussionen stellen. Wir haben nicht den Eindruck, die EU-Abgordneten aus Deutschland sind hier den ganzen Tag unterwegs, um uns ihr Schaffen zu erklären. Es gab einzelne Abgeordnete, die diese Mission ernst nehmen, aber die meisten sind keine Namen, die man gut kennt.

Die Sonntagsfrage Bund wird noch lange das wichtigste Barometer für die politische Stimmung im Land bleiben. Diese Stimmung läuft darauf hinaus, dass 2025 ein Regierungswechsel ansteht. Nehmen wir an, es kommt zu einer erneuten Großen Koalition oder doch nach langer Verzögerung zu Jamaika: Werden die Grünen oder wird die SPD das notwendige Korrektiv für eine Politik sein, die sich geradezu menschenverachtend äußert oder als Wahlverlierer klein beigeben müssen, froh, überhaupt noch mitmachen zu dürfen? Entscheidend könnte sein, ob Deutschland wirtschaftlich wieder auf die Füße kommt. Falls die Methoden dazu von Friedrich Merz entworfen werden, können wir jetzt schon festhalten, dass die Mehrheit eben nicht besser dastehen wird, sondern höchstens die Gewinne des Kapitals noch mehr sprudeln werden. Im Grunde ist das die Agenda aller im Bundestag vertretenen Parteien, und natürlich fragen wir uns, wie es so weit kommen konnte.

Wir werden dazu Meinungen lesen und sie hier kommentieren. Einstweilen sollten wir uns darauf einrichten, dass die Politik 2025 nach rechts rücken wird. Das wäre ohne eine rechte Mehrheit in der Bevölkerung nicht möglich, also wird die Bevölkerung sich nicht über die Folgen beschweren dürfen.

TH

 

 

 

 

 

 


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