Armer Nanosh – Tatort 220 #Crimetime 1227 #Tatort #Hamburg #Stoever #Brockmöller #NDR #Nanosh

Crimetime 1227 – Titelfoto © NDR

Armer Nanosh ist ein Fernsehfilm aus der Kriminalreihe Tatort der ARD und des ORF. Der Film wurde vom Norddeutschen Rundfunk unter der Regie von Stanislav Barabáš produziert und am 9. Juli 1989 erstmals ausgestrahlt. Es handelt sich um die 220. Tatort-Folge. Für den Kriminalhauptkommissar Paul Stoever (Manfred Krug) ist es der 11. Fall. Für seinen Kollegen Peter Brockmöller (Charles Brauer) ist es der 8. Fall, in dem er ermittelt.

Die Tatortgemeinde mag „Armer Nanosh“ überhaupt nicht, die bewertenden Nutzer des Tatort-Fundus sehen ihn mit ca. 4,5/10 Punkten als schwächsten aller Filme der Ära Stoever-Brockmöller an. Und es war eine richtige Ära, die bei Stoever 17, bei Brockmöller 13 Jahre lang dauerte. Anmerkung 1 anlässlich der Veröffentlichung des Textes im Jahr 2024: Wir können keinen Link mehr zum Tatort-Fundus setzen, da die Plattform nicht mehr existiert. Der Film existiert freilich weiterhin, dazu  mehr in der Rezension.

Handlung (1)

Valentin Sander, von seiner Zigeunerfamilie Nanosh genannt wird, ist ein angesehener Bürger Hamburgs und Besitzer eines großen Kaufhauses. Da er sehr für die Künstlerin Ragna Juhl schwärmt, stellt er ihre Bilder und Skulpturen in einer Galerie in seinem Kaufhaus aus. Seine Frau ist davon absolut nicht begeistert und auch mit seinem Lieferanten Bleichertz ist er sich in letzter Zeit uneins, weil dieser ebenfalls um Ragna Juhl wirbt. Als sich die Situation zuspitzt, verlässt Sander wegen der Künstlerin seine Frau und zieht zu seiner Angebeteten. Doch es dauert nicht lange und sie geraten in Streit. Sie fühlt sich von ihm eingeengt und er will sie nur für sich. Dabei weiß er, dass auch sein Sohn Georg in Ragna verliebt ist.

Yanko, das Oberhaupt der Sippe, bestellt seinen Neffen Nanosh zu sich. Er legt ihm nahe das Land zu verlassen, da er im Polizeifunk erfahren hat, dass Ragna Juhl tot aufgefunden wurde. Da Nanosh am Abend noch bei ihr war und kein Alibi hat, wird die Polizei ihn, seiner Meinung nach, verdächtigen. Noch ehe Sander zustimmen kann erscheint schon die Polizei im Lager der Zigeuner und sucht ihn, sodass er notgedrungen untertauchen muss.

Die beiden Kommissare Stoever und Brockmöller erfahren, dass Sander seinen ältesten Sohn Moritz in einer Nacht-und Nebel-Aktion dazu bestimmt hat, ab sofort seine Geschäfte in seinem Kaufhaus zu übernehmen. Der Prokurist, Heinrich Frohwein, ist darüber schockiert und befürchtet, dass die Banken ihre Kredite zurückziehen werden und ein Konkurs droht. Von ihm erfahren die Ermittler Details aus Sanders Vergangenheit. So hatte ihn, ein reicher Kaufmann Sander adoptiert und ihn damit vor der Deportation im Dritten Reich gerettet. Sein leiblicher Vater hatte das Konzentrationslager der Nationalsozialisten nicht überlebt und damit wurde sein Onkel Yanko das Oberhaupt der Sippe. Der ist jedoch verärgert darüber, dass sein Neffe sich von seinen „Wurzeln“ abgewandt hat. Zumal er Nanoshs Vater seinerzeit versprochen hat, dass sein Sohn später die leitende Rolle innerhalb der Sippe übernehmen sollte.

Auflösung in den folgenden Absätzen

Den Zusammenhalt der Zigeuner will Stoever ausnutzen, um Sander zu finden. Er nimmt kurzerhand seinen Sohn Georg unter Mordverdacht fest und hofft, dass sein Vater sich daraufhin stellen wird. Der Plan geht auf. Sander erscheint auf dem Polizeirevier und gesteht den Mord, den er mehr als Unfall betrachtet. Für Stoever ergeben sich mit dem Geständnis auch Widersprüche und er beschäftigt sich noch einmal mit dem Prokuristen, Heinrich Frohwein. Er hatte ihn als ehrgeizigen Angestellten kennengelernt und aus seinen Worten herausgehört, dass er innerlich einen großen Hass auf Zigeuner hat. So konfrontiert Stoever ihn mit seiner Vermutung, dass er den letzten Streit von Sander mit der Künstlerin ausgenutzt und dass er sie umgebracht hätte.

Ehe er Frohwein jedoch festnehmen kann, springt er in einem unbeobachteten Moment von seiner Dachwohnung aus in den Tod. 

Rezension

Ergänzung und Anmerkung 2 anlässlich der Veröffentlichung 2024:

Die Kritiker der Fernsehzeitschrift TV Spielfilm vergaben eine mittlere Wertung (Daumen zur Seite) und befanden: „Spannender, aber zwiespältiger Fall“.[2]

Armer Nanosh wurde wegen antiziganistischer Klischees kontrovers diskutiert, sowie wegen der These, die Naziverbrechen seien eine größere Bürde für die Nachfahren der Täter als für die der Opfer.[3][4][5]

Die IMDb können wir aber weiterhin als Anhaltspunkt für die Publikumsrezeption auch bei Tatorten heranziehen. Auf einer allerdings schmalen Basis von nur 49 Bewertungen kommt der Film hier ebenfalls auf ausnehmend schwache 4,7/10. Für uns stellt sich mittlerweile das Problem, ob wie wir mit der häufigen Verwendung des undifferenzierten Begriffs u. a. in der obigen Handlungsbeschreibung umgehen. Wir werden diese nicht ändern, da die Gruppe, zu der Nanosh gehört, dort auch nicht benannt ist. Wir haben den Text der Rezension geändert und den Begriff dort vollkommen entfernt. Leider spielt Gesellschaftspolitik in diesem Tatort insofern eine große Rolle, als gewollt gegen Klischees gearbeitet wird, auch wenn der Krimi dadurch an Spannung verliert, gleichzeitig aber Klischees bedient werden. Man merkt, wie auch bei einigen anderne Stoever-Brockmöller-Filmen, dass man zwar progressiv sein wollte, aber noch nicht so recht wusste, wie man das im Tatortformat umsetzen sollte, wenn es sehr dezidiert und nicht beiläufig wirken sollte. Wir erinnern uns auch an mindestens einen Kindermord-Fall, in dem die Sprache von Stoever viel zu robust für das sensible Thema war.

Nicht so häufig, wie man beim NDR, für den sie als Hamburger Ermittler tätig waren, meinen sollte, aber doch immer wieder hatten sie bei ihren Morden auch politische Themen zu bearbeiten. Die Verknüpfung der deutschen Schuld während der NS-Zeit und des Umgangs mit Minderheiten wie den Sinti und Roma, ist ein sehr großes Thema für einen Tatort, aber wie viele andere Intellektuelle konnte auch Drehbuchautor Martin Walser wohl der Versuchung nicht widerstehen, durch Mitwirkung am Tatort-Format eine größere Anzahl von Menschen zu erreichen, als es mit Büchern traditionell möglich ist.

Was dabei herauskam, ist hoch diskussionswürdig. Wir geben auf jeden Fall denjenigen Recht, welche diesen Tatort als Krimi ablehnen, gleich, ob diese Ablehnung weitere Hintergründe haben mag oder nicht. Der Tatort war in den späten 1980ern in der Zwickmühle zwischen seinen frühen Erfolgen und dem zunehmenden Druck der Einfachformate, die vom Privatfernsehen lanciert wurden und kam nicht so recht vorwärts. Das Selbstbewusstsein, das viele Macher der ersten Stunde, als diese Reihe neue Maßstäbe setzte, mit den heutigen verbindet, wo der Tatort gerade wegen seiner herausragenden Stellung trotz intensiven Wettbewerbs im Medium Fernsehen ein Prunkstück desselben ist und sich immer wieder erneuert, die gab es in der Zeit kurz vor der politischen Wende nicht – die Filme waren stilistisch konventionell und es gab keine eindeutige Richtung, in die man wollte.

Anmerkung 3 anlässlich der Veröffentlichung 2024: Die Einlassung zu den 1980ern lassen wir unverändert stehen, auch nach der Sichtung vieler weiterer Filme der Reihe hat sich daran nicht viel geändert, beifügen können wir noch, dass in den 1980ern die Polzeirufe aus der DDR sich stattdessen weiterentwickelten und im Bereich der psychologischen Stimmigkeit die Tatorte überholten; auch, weil sie nicht so aufs Spektakuläre setzten wie z. B. die Schimanski-Filme, die für uns mitverantwortlich dafür sind, dass die Reihe Tatort nicht besser, sondern qualitativ immer schlechter wurde. Nach der Wende entwickelten sich Stoever und Brockmöller zu jazzigen Ikonen, standen damit für eine andere Epoche in der Geschichte der Reihe.

Dieses Auf-der-Stelle-treten der Reihe muss man im Kopf haben, wenn man diesen seltsamen Film betrachtet, der plottechnisch davon zeugt, dass die Autoren den Krimi als Format notgedrungen in Kauf nahmen, um die Botschaft unterbringen zu können. Ob die Mitautorin Asta Scheib dafür zuständig war, das Drehbuch formatkompatibel zu machen, wissen wir nicht, aber die Dialoge stammen eindeutig von Walser, zumindest im ersten Teil des Films, in dem Stoever und Brockmöller gar nicht erst auftreten, um mit ihrer kernig-kumpelhaften Art nicht die Theatersprache zu stören, welcher der Film sich auf eine Weise bedient, der man immerhin einen Verfremdungseffekt zusprechen kann. Der Mord an der Malerin Ragna Juhl findet aber erst nach 45 Minuten statt, sodass die Darstellerin Renate Krössner („Solo Sunny“, 1979) zumindest am Set den Kommissaren nie begegnet sein sollte, denn sie ist das Opfer. Das Opfer wird dieses Mal auch charakterisiert, weshalb es nicht zu früh sterben darf.

Der technische Hauptfehler von „Armer Nanosh“ ist, dass er die falsche Plotkonstruktion aufweist. Man weiß den Mörder bereits, bevor überhaupt etwas passiert ist, man spürt förmlich, wie alles auf Frohwein  hinausläuft, den Prokuristen, den intelligenten Sonderling, denn, wie Stoever später in einem selbstreflexiven Moment des Films sagt: „Der Zigeuner kann es nicht gewesen sein, denn sonst würden ja die Klischees bestätigt“. Genau das war uns schon vor dem Mord klar. Und das Spiel der Autoren mit den Erwartungen der Sender und der Kritiker an die politische Korrektheit des Mediums wird uns in dieser Rezension noch beschäftigen.

Viel besser aber wäre die Anlage als Thriller gewesen und damit als Howcatchem, aber dann so, dass der Mord doch etwas früher passiert wäre oder es einen zweiten gegeben hätte, damit Stoever und Brockmöller früher auftreten können, andererseits aber das verzwickte Motiv nicht so früh hätte deutlich gemacht werden müssen. Man hätte das sehr spannend machen können, diesen Frohwein zu entschlüsseln, den Edgar Selge, damals noch beinahe ein Nachwuchsschauspieler, sehr gut darstellt. Seine Leistung und die routinierte Wurschigkeit von Manfred Krug als Stoever ragen ohnehin aus dem Ensemble heraus, während die anderen zu sehr unter der Theaterhaftigkeit der ersten Hälfte leiden müssen und dadurch – sic! – zu theatralisch agieren. Das war wohl so gefordert, und wir hatten den Eindruck, dass sich nicht alle dabei wohlfühlten, so überziehen zu müssen. Schließlich kam der Tatort einmal aus der Ecke des Neuen Deutschen Films, der sich eher der Reduktion verpflichtet fühlte, als er noch wirklich neu war. Heute wäre das Überziehen wieder problemlos möglich, dann aber als Bestandteil einer Inszenierung, die ebenso auf den Putz haut und das Spiel damit wieder ironisch bricht (etwa in dem Stil, in dem der Mega-Tatort „Im Schmerz geboren“ aus 2014 gedreht ist, wäre das in gewisser Weise harmonisiert gewesen).

Anmerkung 4 anlässlich der Veröffentlichung: Die Progression der 2010er ist heute nicht mehr in dme Maße fortsetzbar, dies auch zum Vergleich weiter oben mit den 1980ern. Wir hatten Kontakt mit einem Tatortmacher der ersten Stunde, der behauptet hat, der Tatort sei nicht vom NDF beeinflusst gewesen. Vielleicht nicht in der Form, dass man den Stil konkret kopiert hat, aber die beinahe nonchalant-zurückhaltende Tonart war damals ein neuer Standard, sogar bei Sportübertragungen und diente dazu, die Emotionen zu dämpfen und die Fähigkeit zur Kritik durch Distanzierung zu stärken. Man ging in gewisser Weise davon aus, dass das Publikum sich intellektuell immer weiterentwickeln würde, unter der Ägide der FDGO. Eine Annahme aus der Hochphase der Demokratie in Westdeutschland, die sich leider nicht bestätigt hat. 

Wir haben aber einen Film vor uns, dessen erster Teil eine Art Gesellschaftsdrama darstellt, und der Krimi wird im zweiten zu schnell, zu linear abgehandelt. Verbindend ist beiden vor allem die unglaublich schwierige, um nicht zu sagen verschwurbelte Behandlung der deutschen Themen. Um den Film zu verstehen, sollte man auf Walser zurückgreifen. Und auf seine berühmte, sagen die einen, berüchtigte, sagen die anderen, Paulskirchenrede von 1998, in welcher er in komplizierter Sprache die Instrumentalisierung des Holocausts beklagt. Neben seinem „Tod eines Kritikers“ (2002) sein am meisten kontroverser Beitrag zur deutschen Vergangenheitsbewältigung. Heute schweigt Walser übrigens (…).

Die Figur des Frohwein hätte in einem besser gestalteten Plot eine der besten der Tatortgeschichte sein können, zumal, wenn man sie nicht auf die Art instrumentalisiert hätte, dass er mordet, weil sein von der Tätigkeit des Vaters als deutscher Polizist in Polen während der NS-Besatzungszeit herrührender Schuldkomplex ihn zermartert, einen Hass in ihm auf die Sinti und Roma hervorruft, weil sie das Symbol für die Unmöglichkeit sind, mit dieser Schuld umzugehen. Er arbeitet für einen Angehörigen der Community, ist loyal in Geschäftsdingen, nimmt aber die Gelegenheit wahr, ihm einen Mord anzuhängen. Und da ist noch etwas von Abweisung seitens der Frau, um die es geht, das im Grunde hier nicht hineingehört, wie so viele Dinge, die nur vom Zentralthema ablenken, diesen Tatort aber mit falschen Tönen anfüllen, die wiederum davon zeugen, wie schwer Walser sich damit tat, nicht nur die offensichtliche, die politisch korrekte, sondern auch seine subversive Botschaft unterzubringen. Es hat ja dann auch noch zehn Jahre in ihm gegärt, bevor er die Paulskirchen-Rede hielt, von der aus sich „Armer Nanosh“ recht gut entschlüsseln lässt.

Wir wollen den Frohwein nicht direkt als Alter Ego von Walser hinstellen, denn schließlich sagt auch Stoever den bereits erwähnten, denkwürdigen und ungewöhnlichen Satz, der in einem echt politisch korrekten Film nicht hätte fallen dürfen, was bedeutet, dass Walser einige Ansichten auf andere Figuren auslagert. Auch die Darstellung der Sinti / Roma in ihrem Lager ist im Grunde klischeehaft, zumindest, wenn man von Personen ausgeht, die schon lange im Land leben. Weder ist die romantische Harmonie so einfach, noch gibt es diese schreckliche, nur von Emotionen gesteuerte Handlungsweise, die suggeriert, dass die Männer noch mehr vom Trieb getrieben werden als in anderen Bevölkerungsgruppen. Wie Nanosh und sein Sohn gleichermaßen hinter Ragna her sind, das wirkt rudimentär, aber trotzdem aus dem Leben auf die Bühne gehievt, sodass man leise Anklänge an die US-Dramen der 1940er und 1950er findet, ohne dass daraus ein dramaturgisch funktionsfähiges Räderwerk entsteht. Man staunt aber, wie erwähnt, über „Mantel, Wandel, Handel“ und ähnliche Wortspiele, die so gar nichts zur Sache beitragen, aber so gekünstelt wirken, dass man den Film als Darstellung lebensechter Menschen nicht ernst nehmen kann. Dem ließe sich entgegenhalten, dass auch ein Tatort mal aus dem Schema ausbrechen darf und wir ja die Verfestigung eines Schemas für die Tatorte jener Zeit bereits beklagt haben, doch wir verweisen dann wieder auf unsere Ansicht, dass der Inszenierungsstil zu bürgerlich ist, um diese Verfremdung zu stützen.

Es gibt Tatorte, die sind ziemlich leer, hingegen ist „Armer Nanosh“ überfrachtet mit Ideen und Symbolismen wie kaum ein anderer, den wir bisher gesehen haben, und viele Linien kreuzen sich in ihm. Nicht nur Walsers komplexe Einstellung zur Frage der Vergangenheitsbewältigung und deren Spiegelung im Umgang mit Minderheiten in der Gegenwart ist ein ganzes Themenfeld, das man gesondert betrachten könnte, auch die Darstellung seiner Figuren als Antihelden, die auf die eine oder andere Weise am Leben scheitern, kommt durch, die Unmöglichkeit, dieses Leben zu etwas Großem zu entwickeln.

Beim Kaufhausbesitzer Nanosh bzw. Valentin ist das die Unfähigkeit, seinen Laden so zu positionieren, dass er eine Marke werden kann, seine Idee, Kunst verkaufen zu wollen, die, im Gegensatz zu dem, was Profi Bleichertz drauf hat, wie ein hilfloser Versuch der Kultur-Adaption aus persönlichen Gründen wirkt. Wenn Bleichertz spricht, und zwar in seiner Einführungsrede zur Eröffnung der Juhl-Vernissage, hat die Walser-Sprachverwendung übrigens doch etwas Gutes. Da nämlich wirkt alles mit einem Mal authentisch, weil das Milieu stimmt, in dem Walser sich auskennt, da fällt sogar das Wort „Nachhaltigkeit“, das mittlerweile so in Mode gekommen ist. Nachhaltiger Umgang mit Kunst ist hier gemeint, also genau das Gegenteil der emotionalisierten Auffassung davon, die Nanosh hat.

Wenn man da etwas genauer hinschaut, werden die Sinti / Roma von Walser eben doch durch den Kakao gezogen, auch wenn Juraj Kukuras Nanosh die sympathischste Figur im Film ist, bis Stoever auftritt (Brockmöller kommt aufgrund seiner Zahnschmerzen kaum zur Geltung). Die Unfähigkeit, vom Wohnwagen aus in die Kunstszene vorzudringen, wirkt heute noch wie ein Kulturkommentar gegenüber allen Menschen mit Migrationshintergrund. Dabei wuchs Nanosh oder Valentin doch bei Adoptiveltern in großbürgerlichem Milieu auf, die ihn zu sich nahmen, nachdem seine Familie in Auschwitz umgebracht worden war. Trotz der sehr frühen Integration in eine hanseatische Familie spricht er weder akzentfrei Deutsch, noch kann er Tinnef und Tand von Stil und Wert unterscheiden. Selbstverständlich kann er Ragna auch nicht deren eigene Bilder erklären, dazu braucht es einen Bleichertz, einen ziemlich deutschen Typ aus der Kunstszene.

Hingegen dachten wir schon „Django Reinhardt!“, noch bevor Stoever es ausspricht, als gezeigt wird, wie Janoshs Sohn mit seiner Musikgruppe am Lagerfeuer spielt. Wenn das kein Klischee ist, wissen wir’s auch nicht, wobei wir damit keineswegs etwas gegen Django Reinhardt sagen wollen, den wir aber eher als genialen Musiker wahrnehmen, denn als Angehörigen einer Volksgruppe, unbeschadet der Tatsache, dass es gerade ein Vorteil für ihn war, bei der Entwicklung seines Musikstils aus einer kulturellen Tradition schöpfen zu können und dabei auch selbstbewusst mit diesem Hintergrund umzugehen.

Um ein oberflächliches Pro-Statement zu verstärken, lässt man noch ein paar Rocker auftreten, die im Lager für Terror sorgen, nebst Gewalteskalation, an der beide Seiten beteiligt sind. Auch da durchbricht das Skript klar die Regeln: Der Chef der Gruppe, Yanko, hat auch eine illegale Waffe. Brechung der Brechung: Muss er haben, weil sein Volks so schutzlos ist in diesem Rechtsstaat. Aber natürlich muss Stoever auch diese Waffe an sich nehmen, ohne gleich ein Verfahren einzuleiten. Nach den teilweise verstiegenen Gesprächen im ersten Teil wird der Film hier richtig platt und bestätigt dem Zuschauer, dass er ein Zentrierungsproblem hat und man viel zu viel hineinpacken wollte.

Denn da ist doch der Frohwein, dem viel mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte. Achtung, Videofilmer, Beobachter des Lebens, Bewohner von aufgeräumt wirkenden Dachterassenwohnungen mit Blick über die Städte und in die Fenster von Menschen, Wiedergänger von Hitchcocks Journalist mit voyeuristischer Sicht auf die Fenster zum Hof, Amateuer-Sternwartenbesitzer. Alle haben gewiss Eltern, jetzt schon Großeltern oder Urgroßeltern, mit dezidierter Nazi-Vergangenheit, und die Schuld, sie überträgt sich von Generation zu Generation und nagt an jedermann und natürlich am Fundament dieses Landes.

Anmerkung 5 im Wege der Veröffentlichung: Wir haben den vorherigen Absatz zum Ende hin etwas umformuliert, weil er sogar die Perspektive gewechselt hat und in die direkte Anprache an die Deutschen überging. Wenn man, wieder neun Jahre später, die Dinge betrachtet, wie sie geworden sind, ist das gar nicht überhoben, was oben in der n euen Formulierung steht. Vor allem sieht man, was passiert, wenn in einem Landesteil noch weitere 40 Jahre Diktatur hinzukommen, die sogar jene holprige Form von Aufarbeitung, die in diesem Tatort und allgemein im Westen vorgenommen werden soll und harte Brüche aufweist, nicht ermöglicht hat. Man hat es einfach unter den Teppich gekehrt, dass man auch ein Teil des Ganzen war, daraus beachtenswerte Filme gemacht, die aber insofern nicht aufarbeitend waren, als sie ganz klar eine Grenze zwischen der Vergangenheit und der neuen Gesellschaft mit neuen Menschen zogen. Das Weiterwirken zu thematisieren, fehlt weitgehend.

Walser macht Frohwein in der Tat  zur Symbolfigur für eine falsche Form von Aufarbeitung, suggeriert, dass die individuelle Schuld und deren Übertragung wiederum aufs Kollektiv übertragen werden können. Selbstverständlich stimmt das, und uns fällt gerade ein Satz ein, den Peter Ustinov aus seiner polyglotten Sicht etwa zu der Zeit gesprochen hat, als Walser seine Paulskirchen-Rede hielt: „Der Erfolg des dritten Jahrtausends wird nicht davon abhängen, an was zu erinnern man uns zwingt, sondern davon, was man uns vergessen lässt.“

(Sinngemäß wiedergegeben). Sicher war Ustinov nicht rechtsverdächtig und nicht, den Deutschen Absolution erteilen zu wollen, aber die Logik ist inhärent. Wer ständig mit bösen Dingen konfrontiert wird, mit denen er selbst nie etwas zu tun hatte und dafür büßen soll, muss sich stellen. Entweder diesen Anspruch dezidiert abwehren, was wiederum eine innere Haltung bedingt, die nicht neutral und sachlich sein kann, oder ihn verwenden, um sich moralisch als besonders geläutert hervorzutun und gleichzeitig andere unter Druck zu setzen, die sich weniger demütig geben, um dem eigenen Druck Herr zu werden. Eine Erinnerungskultur zu etablieren, die nicht vergisst, was war, aber davon wegkommt, dass sich Täternachfahren und Opfernachfahren gleichermaßen aus ebenjenen Eigenschaften heraus definieren müssen oder wollen, ist nicht einfach.

Dazu bedürfte es einer ehrlichen und offenen Diskussion, die tatsächlich Instrumentalisierung und Erinnerung benennt und trennt. Wenn wir sehen, wie in den letzten Jahren jedes politische Ereignis, seien es die Krisen in Europa oder andere, benutzt werden, um daraus politisches Kapital zu schlagen und beweist, dass man sich Achtung und Respekt nicht mit Geld erkaufen kann, anstatt dass sich echte Freundschaft zwischen den Völkern zeigt, sind wir sehr skeptisch bezüglich einer echten Verständigung in absehbarer Zukunft. Wir verstehen auch, warum Walser hier beinahe subversiv agiert und wir wundern uns, dass es nach dessen Ausstrahlung nicht zu Protesten kam, denn die Zwiespältigkeit des Films ist wohl kaum zu übersehen.

Anmerkung 6 anlässlich der Veröffentlichung: Den obigen Absatz haben wir nicht umformuliert, er stammt exakt aus dem Jahr 2015 und macht uns richtiggehend betroffen, weil er schon vorausweist auf das, was heute kaum noch bestritten werden kann. Damit soll nicht Humanität an sich kritisch betrachtet werden, sondern das Problem markiert, dass die Spaltung der Gesellschaft sich vertieft, weil zwischen Ablehnungsmentalität und Kompensationsmentalität die Gräben immer tiefer werden und Realismus und Humanismus da gleichermaßen reinfallen.

Finale

„Armer Nanosh“ ist als Krimi weitgehend gescheitert und als politisches Statement fraglich. Es ist nicht gelungen, die vielen Ebenen des deutschen Bewusstseins, Stand 1989, so darzustellen, dass man etwas mitnehmen kann. Wenn es nicht so gedacht ist, ist es trotzdem falsch, denn ein Tatort sollte nicht in Richtung des absurden Theaters tendieren, wenn er sich auf eine zwar absurde, aber leider millionenfach tödliche Realität bezieht.

Interpretationsfähigkeit und Eignung zum Nachdenken über, ja, und das haben wir hier so ausführlich getan wie selten zuvor in einer Rezension zu einem Film dieses Krimiformats, aber die Ambivalenz, die sich hier offenbart, und wie sich auch zeigt, dass etwas aus dem Drehbuchautor drängt, was er nur verklauselt oder so verpackt zum Ausdruck bringen kann, dass es vielleicht doch keinen Entrüstungssturm verursacht, ist eine Art Teil-Mut und Teil-Verzagtheit – die man nur als entwaffnend und entlarvend gleichermaßen bezeichnen kann:

So zerrissen, wie ein Land, das sich seine Seele geraubt hat, nur sein kann, so wirkt auch „Armer Nanosh“, und wer wirklich am Ende arm ist, das sieht man, als Frohwein sich in die Tiefe stürzt, weil er sich selbst und seine innere Spannung nicht mehr aushält. Es ist unbefriedigend, keine andere Botschaft zu bekommen, dem Theatermann und Romancier des Scheiterns ist es billig, uns aber mehr als unangenehm, denn schließlich spiegeln wir uns ebenfalls in all dem, was hier ans Tageslicht gebracht wird. Grell, verzerrt, voller Widersprüche, aber als dramaturgischer und plottechnischer, sprachlich überhobener Torso von seltsamer Eindringlichkeit. Im Widerspruch stehen wir aber nicht mit uns selbst, wenn es um die Bewertung geht. Wir müssen die Maßstäbe anlegen, die für unsere Tatortbewertungen allgemein gelten, nebenbei klauben wir noch einige Scherben des geborstenen deutschen Bewusstseins auf.

Eine Schlussanmerkung gestatten wir uns trotz der ohnehin langen Rezension, weil sie auf die Sperrigkeit des Films hinweist. Wir haben ihn während der großen NDR-Stoever-Rückschau ca. 2012-2013 schon einmal aufgezeichnet, aber weder rezensiert noch (zu Ende) geschaut, Letzteres schließen wir daraus, dass wir uns nur noch an eine einzige Szene erinnern konnten (Nanosh ist mit einem Gemälde zugange).

Anmerkung 7 anlässlich der Veröffentlichung: Nach nunmehr sieben Anmerkungen hätte es sich angeboten, diese gesondert als Annex und mit Fußnoten zu präsentieren, aber uns war auch während des Durchlesens der Rezension nicht klar, wie intensiv wir noch nachfassen würden. Damit hat diese Rezension als eine der wenigen zu einem Tatort die Größe zur „DGR“ (Die große Rezension, ab 3.000 Wörter), überschritten, und zwar deutlich. Trotzdem fehlt immer noch etwas: Wir haben den Film noch einmal aus politischen Gründen um 0,5 Punkte abgewertet.

4,5/10

© 2024 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2015)

Kursiv, tabellarisch: Tatort: Armer Nanosh – Wikipedia

Regie Stanislav Barabáš
Drehbuch
Produktion Matthias Esche
Musik Manfred Hübler
Kamera Jochen Radermacher
Schnitt
Premiere 9. Juli 1989 auf Das Erste
Besetzung

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