Briefing 590 Wirtschaft, Economy, Schuldenbremse, Außenhandel, Exportnation, Konzeptlosigkeit, Wirtschaftsstrategie, fehlende Zukunftserzählung, Konjunkturprognose, IWF
Gleich, ob wir uns mit dem Erbe von Angela Merkel befassen oder mit der desaströsen Wirkung der Schuldenbremse oder mit Protestformen gegen die Wohnungsnota: Alles hat mit der wirtschaftlichen Lage in Deutschland zu tun. Da ist es angeraten, sie im Ganzen in wenig in den Blick zu nehmen und warum bestimmte Entwicklungen, wenn man dieses betrachtet, nur noch mit Kopfschütteln zu quittieren sind. Wir haben den Artikel ein paar Tage liegen lassen, verzichten auf weitere Infos und nehmen den Ton im Wege einer Bearbeitung etwas zurück.
Doch zunächst zum Konjunkturausblick der OECD für wichtige Staaten:
Infografik: IWF-Prognose:
Deutschland bleibt Konjunktur-Schlusslicht | Statista
Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz CC BY-ND 4.0 Deed | Namensnennung-Keine Bearbeitung 4.0 International | Creative Commons erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.
Die Wachstumsperspektiven Deutschlands haben sich laut Internationalen Währungsfonds (IWF) immer noch nicht aufgehellt. Der IWF rechnet für 2024 weiterhin mit einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 0,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr, wie die Infografik von Statista zeigt. Deutschland wäre damit – sollte die Prognosen eintreffen – 2024 erneut das Schlusslicht unter den großen Industrienationen. Im April hatte der IWF für 2024 ebenfalls ein Wachsen der Wirtschaftsleistung um 0,2 Prozent vorausgesagt.
Deutschland leide als Exportnation laut IWF stärker unter dem insgesamt schwachen Welthandel als andere Länder. Zudem habe die Industrie mit den hohen Energiepreisen zu kämpfen. Beide Faktoren sorgen dem IWF zufolge für ein schwaches Wachstum der Wirtschaftsleistung gegenüber dem vorangegangenen Jahr. Hinweise auf positive Auswirkungen durch das geplante Paket der Ampelregierung zur Stärkung des Standorts Deutschland sind in dem neuen IWF-Weltwirtschaftsausblick nicht zu finden.
Die Entwicklung der weltweiten Wirtschaftsleistung bewertet der IWF genauso wie im April. Laut IWF liegt die Widerstandsfähigkeit der Vereinigten Staaten und mehrerer großer Schwellen- und Entwicklungsländer weiterhin über den Erwartungen der Experten. Auch die öffentlichen Finanzen vieler Länder hätten sich stabiler als angenommen erwiesen.
Der IWF warnte allerdings auch, dass die grenzüberschreitenden Handelsbarrieren zuletzt zugenommen hätten. Die EU-Kommission hat etwa vorläufig hohe Sonderzölle auf Elektroautos aus China verhängt. Nun werden Gegenmaßnahmen der Volksrepublik erwartet. Auch die USA haben neue Zölle gegen China auf den Weg gebracht. Eine Eskalation der Handelsstreitigkeiten gehöre zu den kurzfristigen Risiken für die Weltwirtschaft, so der IWF.
„Hinweise auf positive Auswirkungen durch das geplante Paket der Ampelregierung …“ sind nicht zu finden. So viel dazu, wie der IWF die hiesige Beträufelung des ausgetrockneten Feldes einschätzt, wo doch ein dicker Strahl von Maßnahmen, eingesetzt an den richtigen Stellen, notwendig wäre. Für einige Länder hat der IWF seine Prognosen angehoben, teilweise deutlich, Deutschland gehört nicht dazu. Wir mussten genau hinschauen: Weist die Grafik nun für dieses Jahr ein Wirtschaftswachstum für Deutschland von 0,1 oder 0,2 Prozent aus?
Dass der Welthandel schwächelt, ist nicht ganz neu, wohingegen die exportlastige deutsche Wirtschaft der Mehrheit der Menschen hier nicht mehr viel bringt, auch das ist keine bahnbrechend neue Erkenntnis. Das Medianvermögen hierzulande liegt niedriger als in den meisten anderen Ländern des „alten“ Europas und auch als in den USA mit ihrer riesigen Ungleichheit und Vermögensballung weniger Personen an der Spitze. Darauf hätte die hiesige Politik längst reagieren müssen, indem sie gezielt auf Branchen setzt, die nicht ausschließlich oder weit überwiegend vom Export leben, zum Beispiel auf qualitativ hochwertige Dienstleistungen, die vor Ort erbracht werden müssen. Aber Deutschland ist nach wie vor weitgehend eine Servicewüste, es wird sogar immer schlechter, und gleichzeitig stottert die Industrie, die immer für positive Handelsbilanzen gesorgt hat.
Seit der ersten Amtszeit von Donald Trump und erst recht seit Joe Bidens protektionistischem IRA (Inflation Reduction Act), der die heimische Industrie massiv pusht und eher eine Art Reindustrialisierungs-Agenda darstellt, als dass er der Inflationsreduzierung dient, hätte die deutsche Politik alarmiert sein müssen. Auch in Europa, in Ländern, in denen immer schon interventionistischer gedacht wurde und die jetzt vielleicht langfristig damit recht damit behalten könnten, nicht alles einfach laufen zu lassen, sind solche Tendenzen deutlich erkennbar. Manchmal mit etwas lächerlichen Ansätzen, zweifelsohne, aber im Ganzen betrachtet mit einer Strategie, die große Vorteile gegenüber der deutschen Nicht-Strategie hat.
Außerdem geht man im Fahrwasser der USA zunehmend auf Konfrontationskurs gegenüber China, das nun einmal der wichtigste deutsche Handelspartner geworden ist. Wenn es wirklich zu einem u. a. von Trump angezettelten neuen Handelskrieg kommen sollte, ist Deutschland am meisten von allen alten Industrieländern – ja, im Arsch, kann man wirklich sagen, denn kein anderes ist so außenhandelsabhängig und in keinem andren setzt die Politik immer noch auf Expansion nach außen, anstatt nach Werthaltigkeit und Nachhaltigkeit nach innen.
Alternativ könnte man den Kapitalsektor stärken und damit kleineren Parasitenländern ein wenig das Wasser abgraben. Das würde aber eine in Deutschland ganz neue Denkweise voraussetzen, die zum Beispiel in der Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen münden könnte, für die andere Regeln gelten als für das übrige Land. Wie das geht, hat China vorgemacht, als es an die Technologie des Westens heranwollte.
Aber Best Practice mit der deutschen Rechthaberei-Politik? Nicht doch! Wir schauen uns doch nicht um, was andere besser machen. An unserem Wesen soll die Welt genesen, das stand vor dem Ersten Weltkrieg sogar auf dem Klopapier. Nur im Film vermutlich, aber immerhin, die Szene aus „Der Untertan“ trifft das deutsche Wesen sehr gut. Das Ergebnis dieser Überheblichkeit ist bekannt. Man wurde nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wesentlich demütiger, obwohl Deutschland seitdem einen auffälligen Mangel an Zukunftsbranchen aufweist und sich seit Jahrzehnten ganz überwiegend auf die Exzellenz seiner Traditionsunternehmen stützt. Ewig sind diese Firmen aber nicht.
Wenn diese dichtmachen oder abwandern, sieht es hier so trist aus wie nirgends sonst in Europa. Die Abwanderungstendenz ist schon länger stark ausgeprägt, ohne dass die Politik etwas entgegengesetzt hätte, nun kommt auch massiver Personalabbau ohne Ersatz im Ausland hinzu, der wenigstens die Konzernzentralen (falls sie noch hier angesiedelt sind und nicht in Steuerparadiese verlegt wurden) mit Gewinnen versorgen und damit auch ein paar Steuern-Euro hierzulande generieren würde. Das wäre dann aber keine politische Leistung.
Wir haben uns auch kürzlich zu den Merkel-Jahren geäußert und werden diese kleine Artikelreihe mindestens noch einmal ergänzen: Die Menschen hierzulande haben in weiten Teilen nicht bemerkt, wie das Land während ihrer Zeit immer mehr den Anschluss verlor und häufen jetzt alles der Ampel über. Diese ist zwar an der Energiekrise mit schuldig, aber nicht an den zunehmenden Handelserschwernissen, die durch ein Kräftemessen der Supermächte verursacht werden und in denen Deutschland sich, wie immer, nicht genug eigenständig positioniert. Oder doch? Lieber nicht auch noch an der Außenpolitik rühren, bei der einem Angst und Bange werden kann. Ja, da kommt einiges an negativen Faktoren zusammen und je länger dieser Niedergang andauert, desto schwieriger wird eine Trendwende zu erreichen sein.
Niemand verlangt, dass die deutsche Wirtschaft so stark wächst wie die Weltwirtschaft, das wäre unvernünftig, denn in ihr sind Ökonomien zuhause, die erheblichen Nachholbedarf haben, und es sind teilweise riesige Volkswirtschaften wie die indische. Deutschland hatte nach dem Zweiten Weltkrieg eine ähnliche Position, weil es die Notwendigkeit und auch die Chance gab, neu zu starten, mit dem Vorteil, dass das Know-How schon vorhanden war, während andere Länder, die bisher nicht industrialisiert waren, sich mühsam nach vorne arbeiteten, über Jahrzehnte hinweg, und mit vielfältigen Problemen zu kämpfen haben, gegen die die deutsche Misere eigentlich eine Kleinigkeit ist. Trotzdem performen sie mittlerweile alle besser und haben ihr Aufstiegsnarrativ, während das für Deutschland passende Narrativ Nachhaltigkeit und Exzellenz wäre.
Falls Sie glauben, Sie könnten ab 2026 mit CDU wählen zur Behebung der Probleme beitragen, fragen Sie sich mal, wer die Probleme verursacht hat und was von Politikern zu halten ist, die anstatt der Entwicklung einer Wirtschaftsstrategie Bashing gegen die Ärmsten betreiben. Das sind keine Kompetenzpolitiker, sondern populistische Opportunisten des Rechtstrends, und wenn Sie diesen ein Mandat geben, legen Sie sich noch einmal selbst herein, noch mehr vermutlich als mit dem Wählen von Angela Merkel. Und mehr als mit der Ampel, die im Prinzip über die eigenen Füße gestolpert ist. Man kann es natürlich auch so sehen, dass die FDP nur in der Ampel mitmacht, um jedwede vernünftige Wirtschaftspolitik zu boykottieren und damit den Rechtsdrall im Land bewusst zu verstärken, an dem Sie ja als an die AfD anschlussfähige Partei wiederum teilhaben könnte. Das Unwesen bestimmter Kleinparteien ist nicht aus diesem Sytem zu kriegen, kund dadurch wird das System immer anfälliger und instabiler.
Wenn sie durch eine CDU-FDP-Regierung ersetzt wird, egal, wer sonst dabei ist, wird das anders sein. Es wird nicht mehr das Merkel-Deckmäntelchen geben, sondern hemmungslosen Support für niedere Triebe in dieser Gesellschaft.
„Die Wirtschaft will Merz als Kanzlerkandidat“, haben wir gestern gelesen. Die Wirtschaft hat a.) nicht zu bestimmen, wer die Politik führt und b.) sich um ihre eigenen Hausaufgaben kümmern, die sie nicht gemacht hat, sonst gäbe es keinen Fachkräftemangel. Die Wirtschaft hat den Menschen zu dienen, nicht umgekehrt. Nur, weil Friedrich Merz ein Kapitallobbyist war und im Herzen immer noch ist, ist er noch lange kein Wirtschaftsstratege, der Deutschland neue Impulse bei einer schwierigen Neuorientierung verleihen kann. Merz ist ein alter, neoliberal gepräger Mann, der keine Idee für die Zeit nach dem Niedergang des freihandelslastigen Finanzkapitalismus hat. Sich auf diese Situation einzustellen, das hat er nicht gelernt, lieber hackt er auf Minderheiten herum, die sich nicht wehren können.
Merz ist kein Visionär mit einem Narrativ. Da ist sogar prinzipiell der grüne Teil der Ampel besser gewesen, denn in ruhigen Zeiten hätte sie wenigstens Deutschlands Frontstellung beim energetischen Umbau als eine Art Mini-oder Teil-Erzählung verbuchen können. Langfristig wird Deutschland von seiner energiepolitischen Autarkie profitieren, das ist überhaupt keine Frage, zumal in Europa immer mehr Nationalisten unterwegs sind, die wichtige Länder wie Frankreich aus dem europäischen Stromnetz nehmen wollen. Sollen sie tun, sie werden sich selbst damit schaden, wenn hierzulande die Renewables auf einem grundlastsicheren Stand ausgebaut sind.
Diese klimatechnisch progressive und im Sinne der weltpolitischen Gefahren mit einem Schutzfaktor ausgestattete Erzählung hat unter den gegebenen Umständen leider keine gesellschaftliche, keine die Mehrheit mitnehmende Komponente. Das ausgerechnet jetzt von der CDU zu erwarten, die auf Bundesebene im Grunde nur destruktiv unterwegs ist, wäre ein weiterer schwerer Fehler in der Wahlkabine, wenn diese Erwartung zu einem Kreuz bei den nicht Christlichen führen sollte.
Was wir brauchen, ist eine Vision davon, wie ein Land, das von seinen Exportüberschüssen lebte (bzw. das Kapital lebte davon, siehe oben, niedriges Medianvermögen der Deutschen), sich neu aufstellen soll, wenn die Weltlage wieder auf einen Stand wie im Kalten Krieg tendiert, der weite Gebiete der Welt für den deutschen Handel zumindest schwieriger erreichbar gemacht hatte als den damals noch wirtschaftlich klar dominierenden Westen. Da Länder, mit denen man gar nicht gut klarkommen will, immer mehr das wirtschaftliche Geschehen dominieren, ist eine Konfrontationspolitik mit ihnen weitaus problematischer als seinerzeit die suboptimale Beziehungslage zum Ostblock.
Was tun, wenn der Protektionismus zunehmen wird? Es geht nur dadurch, dass die Gesellschaft sich selbst anders aufstellt und die Politik das unterstüzt, anstat niedere Instinkte zu bedienen, die nur destruktiv sind. Es bräuchte solidarische, progressivere Ansätze, und die werden wir von dieser Seite der drei, vier oder fünf Rechtsparteien, die wir mittlerweile haben, nicht sehen. Stattdessen wird man, um das eigene Versagen zu kaschieren, die Gesellschaft immer mehr auseinandertreiben und gegeneinander aufhetzen. Man sieht schon jetzt sehr gut, wie man sich das denkt, denn die Partei macht längst Wahlkampf 2025 mit dem Schüren von Neid und Hass, anstatt sinnvolle Konzepte für eine Verbesserung mit langfristiger Wirkung zu präsentieren. Das ist ein böses Omen für alles, was wir zu erwarten haben. Wir können nicht in jedem Artikel die Zivilgesellschaft dazu auffordern, sich endlich auch solchen Themen zu widmen, die deren Bearbeitung die Basis für alles andere sind. Sie sind kompliziert, sie können nur bei erheblichen Missständen auf begrenzten Sektoren wirksam markiert werden, also ist es Sache der Politik, endlich zu verstehen, worum es geht. Wenn man sich anschaut, wie es damit aussieht, kann man nur sagen: Wir werden uns auf schwierige Jahre einzustellen haben, selbst, wenn gerade nicht eine neue Großkrise zu bewältigen ist.
TH
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