Briefing 589 PPP, Angela Merkel, Bundeskanzlerin, Bankenkrise, Geflüchtetenkrise, Coronakrise, Wirtschaftskrise, Gesellschaftskrise
Liebe Leser:innen, heute wird Angela Merkel 70 Jahre alt. Sie wissen das sicher, denn schon in den letzten Tagen wurde zu diesem Geburtstag viel geschrieben. Wir haben, als sie noch Kanzlerin war, auch viel über Angela Merkel geschrieben. Wir werden hier nicht alle Artikel verlinken, suchen Sie bitte einfach mit ihrem Namen, wenn Sie interessiert sind.
Aber die heutige Civey-Umfrage finden wir wirklich gut, um noch einmal Angela Merkel im Schnelldurchgang Revue passieren zu lassen. Natürlich kommentieren wir unterhalb der Frage und des Begleittextes aus dem Civey-Newsletter:
Civey-Umfrage: Vermissen Sie Angela Merkel als Bundeskanzlerin? – Civey
Begleittext
Angela Merkel wird heute 70 Jahre alt. Einst unterschätzt, schrieb sie als erste weibliche Bundeskanzlerin und eine der mächtigsten Politikerinnen der Welt Geschichte. In ihrer Kanzleramtszeit von 2005 bis 2021 prägte sie die europäische Politiklandschaft maßgeblich. Den dabei erlebten Krisen begegnete sie mit einem pragmatischen und analytischen Führungsstil. Sie genoss sowohl partei- als auch eine länderübergreifend eine recht breite Anerkennung, polarisierte jedoch bei einigen Themen stark.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) würdigt diese Woche Merkels Karriere und ihre Verdienste um die deutsche Einheit. Er würde sich regelmäßig mit der Altkanzlerin austauschen, sagte er t-online. Für Emmanuel Macron habe ihre besonnene und geduldige Art und ihre Fähigkeit, in schwierigen Zeiten stabile Entscheidungen zu treffen, Deutschland gut durch viele Herausforderungen geführt und Europas Zusammenhalt gestärkt, sagte der französische Präsident laut DW zum Ende ihrer Amtszeit. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) fand jüngst lobende Worte im Rolling Stone. Es sei eine ihrer großen Leistungen, die Union über 16 Jahre in der Mitte gehalten und immun gegen rechten Populismus gemacht zu haben.
Innerhalb der Union wurde ihre Migrationspolitik oft kritisiert. Der ehemalige Innenminister Horst Seehofer (CSU) warf ihr 2016 in der SZ vor, schuld an den schlechten Umfragewerte der CDU zu sein. Durch ihre Entscheidung, die Grenzen zu öffnen, sei das Land zerrissen. Zuletzt stand die ehemalige CDU-Politikerin wegen ihrer Russlandpolitik in der Kritik. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warf ihr vor zwei Jahren vor, durch ihre ablehnende Haltung zum Nato-Beitritt der Ukraine mitverantwortlich am derzeitigen Krieg zu sein. Andere bezeichneten ihren oft gelobten Pragmatismus als lähmend. „Merkel hat die Krisen nur verwaltet, sie hat nicht hindurchgeführt“, sagte die Publizistin Marina Weisband in der ARD. Notwendige Investitionen in die Zukunft habe sie so verschleppt.
Leitkommentar: Wir haben die verlorene Zeit gefunden
Schön, dass Civey gleich im ersten Absatz festlegt, wie Angela Merkels Führungsstil war, im positiven Sinne natürlich. Wir halten das für ein Klischee: Sie ist Naturwissenschaftlerin, also kann sie analysieren. In Wirklichkeit war sie eine Machtpolitikerin wie jede andere Person, die in eine so hohe politische Position gelangen will, wie sie sie innehatte. Sie war opportunistisch, wenn es darauf ankam, und falls sie tatsächlich analytisch war, dann folgte aus dieser Analytik jedenfalls keine Idee, wie man aus den Erkenntnissen die Zukunft gestalten könnte. Das heißt, wir hätten eigentlich eine zweite Kanzler:innenperson gebraucht, die dafür zuständig gewesen wäre, den Menschen Veränderungsbedarf zu erklären, auch wenn es gerade ruhig und so einigermaßen okay lief. Uns stehen heute noch die Haare angesichts ihres Neologismus „alternativlos“ zu Berge, denn dieser hat umgehen die AfD, die „Alternative“ hervorgebracht.
Eines steht ebenfalls fest: Robert Habeck ist kein Analytiker. Seine Aussage ist oben sicher verkürzt wiedergegeben, aber die CDU in der Mitte gehalten zu haben, wäre nur dann ein großes Verdienst gewesen, wenn eben nicht am rechten Rand die AfD entstanden wäre, sondern Merkel alle außer eingefleischten Rassisten hätte so mitnehmen können, dass die AfD überflüssig gewesen wäre. Bei allem, was diese Partei ist und nicht ist: Im Osten denken gerade etwa 30 Prozent der Menschen, sie ist nicht überflüssig, und auch das Entstehen des BSW hat Merkel im Grunde mitverschuldet, denn die Ampelkoalition musste auf ihrem politischen Vermächtnis aufbauen, es gab kein anderes. Sie hatte das Land 16 Jahre lang maßgeblich geprägt. Sie ist hauptsächlich dafür zur Rechenschaft zu ziehen, dass sie trotz ihrer Ostprägung nicht gemerkt hat oder es nicht wahrhaben wollte, dass sie fast 50 Prozent der Menschen aus dem traditionellen Parteiensystem hinauszutreiben hilft.
Der Rückblick auf Angela Merkel ist heute kritischer, als dieselben Medien, die sich nun äußern, es während ihrer Kanzlerschaft getan haben. Das ist keine Kunst, denn die Probleme, die sie mitverursacht hat, die liegen nun sehr offen zutage.
Warum sollen wir uns nicht einmal selbst loben? Seit es den Wahlberliner gibt, und damit meinen wir den ersten, nicht die zweite, aktuelle Version, also seit 2011 und im Verlauf immer deutlicher noch während ihrer Kanzlerschaft, haben wir klar ausgedrückt, dass Angela Merkel keine Probleme löst, sondern sie verschleppt. Das erste Großthema war die Bankenkrise und wie sie zulasten aller in Europa so gemanagt wurde, dass die EU-Politik für manche Länder sehr anstrengend war, auch wegen der deutschen Haltung, aber man dann komplett nachgegeben hat, weil man merkte: Die folgende Politik macht in Deutschland zwar viele Menschen ärmer und die Reichen sehr viel reicher, aber sie erzeugt auch eine Scheinblüte der Volkswirtschaft, die strukturelle Probleme kaschiert bei gleichzeitiger Verweigerung von wichtigen Zukunftsinvestitionen. So hat Angela Merkel das Land durchgewurschtelt, und heute ist es krisenanfällig ohne Ende. Ihr ergebener und noch weniger inspirierter Wirtschaftsminister Peter Altmaier wurde in der Zeit regelrecht zu einem roten Tuch für uns, für ein Symbol der Unbeweglichkeit der hiesigen Politik und des gesamten Landes, dessen Bevölkerungsmehrheit diese Politik guthieß, denn sie hat Angela Merkel und ihre jeweiligen Koalitionspartner gewählt. Das wollen wir nie vergessen. Wir haben sie nämlich nie gewählt und auch dafür, sorry, klopfen wir uns immer noch gerne auf die Schulter. Obwohl sie so mittig war. Angeblich.
Aktuell wünschen sich etwa 51 Prozent der Abstimmenden Angela Merkel ganz und gar nicht zurück bzw. vermissen sie nicht. Darunter sind sicher auch einige Menschen, die sie seinerzeit gewählt haben. Anonym, mit einem Klick, kann man am besten zugeben, dass man sich seinerzeit geirrt hat. Wir haben uns auch zu diesen 51 Prozent gestellt, und zwar, weil wir uns nicht geirrt haben.
Seit der Bankenkrise haben wir ein Ding mit Angela Merkel gehabt, und zwar, obwohl wir die „Schwarze-Null-Politik“ ihres profilierten Finanzministers Wolfgang Schäuble heute ein wenig anders bewerten wie damals, als sie aufgesetzt wurde. Wir haben darauf hingewiesen, dass ohne diese Haushaltspolitik die Eurozone verloren gewesen wäre, da Deutschland als einziges größeres Land wirklich solide war. Zumindest dem Anschein nach, siehe Verschleppung von Investitionen. Eine Politik, die von den Regierungen einiger Länder, die überhaupt keine Lust hatten, selbst mal etwas für die Zukunft zu tun, hart angegangen wurde, hat die EU in Wirklichkeit über Wasser gehalten. Wie die Bundesregierung und Deutschland insgesamt damals gebasht wurden, das hat uns geärgert und uns auch den Blick ein wenig dafür verstellt, was dieses Kaputtsparen auf lange Sicht anrichten wird, zumal die Infrastruktur auch seinerzeit schon deutliche Mängel zeigte. Erst, als wir 2018 den zweiten Whalberliner gegründet hatten und uns mit veschiedenen volkswirtschaftlichen Modellen mehr auseinandergesetzt hatten, wurde uns klar, dass vieles nicht pragmatisch, sondern ideologisch an der Politik von Schäuble war. Und das ausgerechnet unter der Mega-Pragmatikerin Angela Merkel als Chefin, die im Prinzip gar keine Prinzipien hat. Also hat sich der Prinzipienreiter durchgesetzt. Was diese Ideologie anrichtet, sieht man heute. Christian Lindner, der Möchtegern-Nachfolger in den zu großen Fußstapfen von Schäuble, entkleidet die Ideologie auch noch von jedweder denkbaren Logik insofern, als diese Schuldenbremsenvergötterung in Krisenzeiten noch einmal wesentlich stärkere negative Folgen zeigt, als wenn es ruhig läuft. Schäuble konnte noch darauf verweisen, dass Deutschland ganz gut im Soll liegt, mit seiner Politik, das kann Lindner nun wirklich nicht. Das heißt, es war damals nicht für alle so offensichtlich, dass eine Fehlsteuerung vorliegt, wie es heute ist, während niemand dagegen auf die Straße gegangen ist, dass die Ungleichheit immer mehr wuchs.
In einer anderen Sache lagen wir dafür wiederum richtig: Merkels Minister:innen und sie selbst hatten nicht einen Funken von einer Idee zu strategischer Wirtschaftspolitik. Schäubles Ansatz hätte vielleicht sogar funktionieren können, wenn man ausgleichend gezielt Zukunftspolitik betrieben und die Weichen für ein Renew Germany in ökonomischer Sicht gestellt hätte. Stattdessen schrottet die Regierung Merkel erst die Solardindustrie und hätte das beinahe auch mit der Windkraft noch geschafft, wenn sie länger im Amt geblieben wäre. Und das alles, weil man sich auf Putins Gaszufuhr verlassen hatte. Wir waren nicht gegen Nord Stream 2, das betonen wir hier noch einmal. Aber natürlich als Brückentechnologie, nicht als endgültige Lösung und nach dem Bau die Hände in den Schoß legen, wie es der damalige Wirtschaftsminister getan hätte, wäre er länger im Amt geblieben. Für uns war das Gasangebot aus Russland eine Möglichkeit, ohne größere Belastungen für die Verbraucher die Dekarbonisierung schneller voranzutreiben, bis die Erneuerbaren so weit fortgeschritten sind, dass auch diese Gaslieferungen zurückgefahren werden können. Außerdem glaubten wir tatsächlich, und da hatten wir mit Merkel durchaus eine Gemeinsamkeit, dass der Handel mit Russland – zwar nicht das Land wandeln würde bzw. Putins Regime, das wir immer schon kritisch sahen – aber dafür sorgen könnte, dass Putin diese engen Beziehungen in den Blick nimmt, bevor er Kriege anzettelt und deswegen vielleicht davon absieht.
Hat nicht funktioniert, wie wir wissen. Das hatten wir, wie die meisten Menschen, nicht in der heute zu betrachtenden Form vorausgesehen. Das Regime selbst, seinen Anführer, hatten wir hingegen immer kritisch betrachtet, mehr jedenfalls, als Angela Merkel und viele SPD-Politiker:innen das wohl taten. Vor allem sein Geheimdiensthintergrund in Verbindung mit dieser offenbar gewaltigen Kränkung über den Verlust an geopolitischem Einfluss, den das Ende der Sowjetunion verursacht hatte – wir hatten diese Persönlichkeit zwar – sic! – weitgehend richtig analysiert, aber nicht mit so erheblichen Konsequenzen dieser Struktur gerechnet. Vielleicht hat Merkel Putin auch richtig analysiert, aber ebenfalls nicht geglaubt, dass er so blankziehen würde wie seit Februar 2022 in der Ukraine. Dabei hatte er schon vorher, zum Beispiel in Syrien, gezeigt, dass er ein ruchloser Machtpolitiker ist – und es gibt mehr Fälle und Angela Merkel war genug von Profis umgeben, dass sie hätte gewarnt sein können, die andere Tools zur Verfügung hatten, um ihr Putin umfassend zu bewerten, als wir sie hatten. Was wir uns wiederum zugutehalten dürfen: Trotz unserer politischen Verortung in einer tendenziell putinfreundlichen Partei haben wir die Distanz zu ihm nie aufgegeben, sondern immer gesagt: Es geht um die Menschen. Der Frieden muss ihnen etwas bringen, überall auf der Welt, und das tat das russische Oligarchensystem nie. Es war nie für die Bevölkerungsmehrheit gemacht. Leider mussten wir immer insofern relativieren, als oligarchische Tendenzen und immer mehr Machtballung bei immer weniger Menschen auch im Westen unübersehbar sind.
Wir sind auch heute noch der Meinung, man hat die Chancen der 1990er im Westen nicht genutzt und warnten schon vor der Allianz Russland-China, bevor der Ukrainekrieg auch nur entfernt absehbar war. Allerdings hatten wir da mehr die chinesische Perspektive im Blick, die sehr einfach zu verstehen ist: Die KPCh will alles. Friedliche Koexistenz, eine multipolare Welt, das sind Worthülsen, wie sie Diktatoren besonders leicht von den Lippen gehen, weil sie darunter etwas ganz anderes verstehen als Menschen, die in Freiheit aufgewachsen sind.
Und damit zum nächsten Großfehler von Angela Merkel. Sie hätte sich mehr mit der deutschen Wirtschaft und deren Chinalastigkeit auseinandersetzen müssen. Es gab in diesen Beziehung niemals Reziprozität, sondern der Deal war: Wir dürfen in China verkaufen, dafür kriegt China unsere gesamte Technologie und darf sich außerdem auch ungehemmt in Deutschland selbst bedienen. Langfristig ein Scheißdeal für Deutschland und Europa, aber die Wirtschaft denkt zu kurzfristig, um der Verführung nicht zu erliegen. Also hätte deren Handeln zumindest eine politische Flankierung gebraucht, wie sie in anderen Ländern üblich ist. Erst die Ampel hat allererste Versuche unternommen, in Einzelfällen chinesische Aufkäufe deutscher Unternehmen zu bremsen, umzugestalten oder zu stoppen. Dafür wird sie von den Putinfreunden blind gehasst, die meist auch Verehrer von Xi Jinping und keine Demokraten sind.
Als Angela Merkel Bundeskanzlerin wurde, hatte Europa gegenüber China noch überwiegend einen technologischen Vorsprung. Seit 2011 warnen wir vor der chinesischen Strategie, eben nicht auf friedliche Kooperation, sondern auf Imperialismus durch Wirtschaftsmacht zu setzen. Irgendwann war Angela Merkel in einer Zwickmühle, aus der sie nicht mehr herauskam: China stieg während ihrer Kanzlerschaft zum wichtigsten Handelspartner Deutschlands auf. Überholte die einst führenden Niederlande und Frankreich und auch die damalige Nummer eins für Deutschland, die USA. Es wurde von Jahr zu Jahr schwieriger, mit Chinas Führung Tacheles zu reden, weil auch die deutschen Unternehmen immer abhängiger von China wurden. Und da Merkel und Figuren wie ihr Wirtschaftsminister sowieso keine Tacheles-Politiker:innen waren, entstand ungebremst die Schieflage, die wir heute sehen und die nicht mehr ohne zwischenzeitliche Wohlstandsverluste zu beseitigen sein wird.
Nur, wer sagt den Menschen endlich, dass die Wohlstandsverluste langfristig viel erheblicher sein werden, wenn die EU eine chinesische Kolonie wird und was zusätzlich an Freiheitsverlusten hinzukommen wird? Nehmen wir Ungarn, dessen Regierung nicht nur sehr putinfreundlich, sondern auch sehr offen gegenüber chinesischer Einflussnahme ist. Ungarn ist in der EU das Land, dessen Zersetzung im Sinne von Freiheit und Demokratie am weitesten fortgeschritten sind. Auch eine Abwehrstrategie gegen ein mittlerweile so mächtiges China könnte negative Folgen haben, zumindest für ein Jahrzehnt. Ein Befreiungskampf geht nie ohne Verlust vonstatten. Denn der Gigant des Wirtschaftsimperialismus hat mittlerweile selbst Probleme und muss den Druck auf den Westen erhöhen, um die Story vom Aufstieg für alle im eigenen Land aufrechtzuerhalten.
Angela Merkel hätte das alles sehen und in der EU sich mehr an die Länder annähern können, die etwas wie eine Wirtschaftsstrategie haben. Man hätte gar nichts eigenes entwickeln müssen, man hätte nicht kreativ sein müssen, ein Begriff mit dem Merkl nie etwas anfangen konnte. Man hätte nur Emmanuel Macron und seinen Vorgängern entgegenkommen und eine gemeinsame europäische Strategie aufsetzen müssen, die dem chinesischen Expansionsdrang Grenzen setzt. Aber die starken deutschen Absätze in China waren natürlich dabei ein Problem. Wo stehen wir heute? Deutschland lahmt mehr als alle anderen europäischen Volkwirtschaften, die sich eine eigenständigere Linie der Politik haben gefallen lassen müssen. Die Ampel hat auch etwas dazu beigetragen, schon klar, aber hätte sie auf einer gesunden Struktur aufbauen können, wären jetzt die Reibungsverluste nicht so groß und wäre die Zahl der Insolvenzen nicht so hoch.
Selbst Angela Merkel hatte einen Laden übernommen, der nicht mehr besonders innovativ war, aber sie hatte weiß Gott genug Zeit, darauf zu reagieren. Diese Zeit hat sie verstreichen lassen und uns damit allen damit die Zukunft erschwert. Jetzt wird es härter, weil sie es so soft und einschläfernd verpackt hat, dass im Grunde nicht mehr viel nach vorne ging.
Und sie hat immer weitere soziale Verschiebungen von unten nach oben zugelassen, weil sie gemerkt hat, dass die Menschen das selber offenbar gar nicht als störend empfinden, sie haben sie ja gewählt. Die AfD-Werdung hat sie dabei einfach ignoriert. Und dann kam der Herbst der Geflüchteten. Wir haben vielfach darüber geschrieben: Man kann alles machen oder fast alles, solange ein Land dafür gerüstet ist. Das war Deutschland aber nicht. Und nur sieben Jahre später wiederholt die Ampelregierung den Fehler, die Infrastruktur zu überlasten und treibt damit Rechts weiter nach oben.
„Wir schaffen das.“ Eigentlich ging der Satz von Angela Merkel so. „Wir haben schon so vieles geschafft – wir schaffen das!“ (Wir schaffen auch das.) Sie hat damit eine Gleichsetzung mit Ereignissen der Vergangenheit mit einer ganz neuen Lage getroffen, die nicht zulässig ist, wenn man das Land inzwischen so heruntefährt, dass es vor allem die Zivilgesellschaft schaffen muss, weil die staatlichen Systeme dafür nicht herhalten. Die Zivilgesellschaft hat sich angestrengt, wirklich sehr, wir kennen auch Menschen, die sich persönlich engagiert haben. Ohne sie wäre es richtig schiefgelaufen, so kann man sagen, es ging gerade nochmal so lala, aber natürlich mit weiteren Spaltungstendenzen und Integrationsverlusten in einer Gesellschaft, die ebenfalls die Züge der Merkel-Politik trägt: Wir gestalten nicht, wir finden kein neues Nachwende-Narrativ für Deutschland, sondern lassen es einfach mal laufen und schauen, was passiert.
Was passiert, ist, dass die Demokratie immer weniger akzeptiert wird.
Und dann setzt auf eine ohnehin schwierige infrastrukturelle Situation die Ampel noch eins drauf, indem sie innerhalb nur eines Jahres einer Million Menschen die Aufnahme ohne jedes individuelle Asylverfahren ermöglicht. Auch hier: Wir kennen Fälle, die wir hier lieber nicht einzeln referieren, weil sie zu sehr das Klischee von Ausnutzung einer ziemlich blauäugigen Politik spiegeln. Merkel hat es aber vorgemacht. Wir sind überzeugt davon, dass ohne ihre damalige Politik die heutige Handhabe so nicht stattgefunden hätte. Hingegen hat Merkel, wie die jetzige Regierung, nie darauf bestanden, dass innerhalb der EU eine gerechtere Lastenverteilung stattfinden muss.
Es ist nicht ein einzelnes Problem, das zur heutigen Gemengelage geführt hat, nicht ein einziger Fehler. Es ist die eine insgesamt hochgradig inkohärente Politik, die uns nun auf die Füße fällt. Man kann nicht das Land kaputtsparen, aber so viele Menschen neu aufnehmen, ohne dass es anfängt, im System zu knirschen. Der heutige Wohnungsmarkt ist ein Desaster, das betrifft uns leider auch persönlich und allein deswegen haben wir Angela Merkel gerne für immer verabschiedet. Ihre Leute waren es nämlich, dieser Lobbyistentross von CDU-Politikern, der verhindert hat, dass die Politik eingreift, um den starken Zustrom in den Wohnungsmarkt von überall her einigermaßen gerecht zu gestalten. Die Ampel hat ebenfalls keinerlei Rezept, obwohl es so einfach wäre, wenn man sich endlich an die gerechte Beteiligung des Kapitals an Gemeinschaftsaufgaben herantrauen würde.
Hatte Angela Merkel 2015 wirklich humanistische Gedanken? Es gibt viele Unterstellung, die in eine ganz andere Richtung gehen, aber eines ist sicher: Vieles an der Merkel-Politik hat dafür gesorgt, dass dieser Teil ihrer Politik nicht mehrheitlich akzeptiert wurde. Wenn man eine Politik dieser Art macht, dann darf man es nicht dabei bewenden lassen, dass die ohnehin Ärmeren noch enger zusammenrücken müssen, sondern muss mutig sein und erklären, wir werden auch die Privilegierten um mehr Beiträge bitten, damit das Werk gelingt. Das hat man aber nicht getan, und diese Kombination von mangelnder Durchsetzungskraft einerseits und humanitärem Anspruch sorgt dafür, dass die Humanität auf dem Rückzug ist. Wir glauben zwar nicht an Verschwörungen, aber eines erscheint uns sicher: Merkel hat 2015 nicht christlich, sondern opportunistisch gehandelt. Sie wollte keine hässlichen Szenen an den Grenzen und fürchtete vor allem deren außenpolitische Wirkung. Alle anderen Länderregierungen sahen das anders.
Merkel hat nicht diejenigen, die es hätten leisten können, mit in die Verantwortung genommen, sondern alles den „Gutmenschen“ überlassen. Es zu schaffen nämlich, und natürlich den Bundesländern und Kommunen. Die Kommunen sind heute wieder diejenigen, die alles tragen müssen, was die Bundesregierung politisch vorgibt. Die persönlich Engagierten sind wieder jene, die staatliches Engagement, vorsichtig ausgedrückt, ergänzen müssen. Mit anderer Akzentuierung als vor sieben, acht Jahren. Aber mit noch dramatischeren Folgen für den Wohnungsmarkt, beispielsweise.
Die privat Engagierten können vieles leisten, wir verneigen uns vor ihnen. Wir finden sie toll. Aber sie können keine staatliche Strategie ersetzen. Die beinhaltet zum Beispiel, die politische Bildung und die Arbeitsmarktintegration so zu steuern, dass das Land nicht immer mehr Lasten tragen muss, denn es sind die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen, die dafür wiederum in Anspruch genommen werden, nicht die Reichen und Superreichen.
Angela Merkel hat sich für all diese vielen schwierigen Details einer gelungenen Gesellschaftsentwicklung nie interessiert. Wenn jemand nicht zukunftsorientiert und nicht strategisch denkt, dann tut er das nicht. Das gilt dann für alle Bereiche, für sein gesamtes Mindset. Und da Merkel sich ihre Mitstreiter:innen in der Regierung nach Selbstähnlichkeit und Loyalität ausgesucht hat und keine kritischen Geister um sich haben wollte, hat ihr Mangel an Ideen die gesamte Regierungspolitik ohne jede Ausnahme geprägt.
Diesen Fehler, sich mit Jasagern zu umgeben, machen viele Mächtige. Nur herausragende Persönlichkeiten, die sich ihrer selbst ganz sicher sind oder lieber riskieren, sich von der Macht trennen zu müssen, als nichts voranzubringen, können dieser Verführung einer immer nickenden Entourage widerstehen. So war Angela Merkel nicht. Das hat mit ihrer Biografie zu tun, es hat auch damit zu tun, dass sie froh war, sich in der Männerpartei CDU überhaupt durchgesetzt zu haben und alle Machos kleinhalten wollte. Insofern ist die mangelnde Gleichstellung auch ein Schaden für die deutschen Politik geworden. Nur eine Frau, die die gleichen Machtspielchen spielt wie die Männer und weibliche Stärken kaum einbringen konnte, konnte diesen Laden so lange beherrschen, mit abnehmender Tendenz, nachdem sie bei der Bundestagswahl 2017 das bis dahin niedrigste Ergebnis für die Union nach 1949 eingefahren und sich das AfD-Problem massiv gezeigt hatte.
Was wir aktuell besonders dramatisch finden: Mit Olaf Scholz ist ein Politiker als Kanzler nachgefolgt, der gerne viel mit Merkel telefoniert, und das merkt man seiner Politik auch an. Gut, hier haben wir absichtlich etwas auf dem Kopf gestellt. Er versteht sich mit ihr, weil die beiden eben ähnlich ticken, er tickt nicht so, weil er es von Merkel eingeflüstert bekommt. Damit kann er im Moment aber die meisten Menschen nicht beeindrucken, dass er merkelähnlich ist, das zeigt die Umfrage, auf der wir diesen Artikel basieren.
Wir glauben, dass er sogar mehr konzeptionell arbeitet als sie, aber er bringt es nicht rüber. Er bringt es noch weniger rüber als seine Vorgängerin. Das muss man erst einmal können, noch weniger verbindlich und mitnehmend zu sein. Das ist schon fast wieder eine Gabe. Das Scholzen als die Vollendung des Merkelns, anstatt endlich, endlich einen Gegenakzent zu setzen, nachdem jedem aufrechten Demokraten klar ist, dass Scholz mit seiner Art die Demokratie ebenfalls beschädigt. Weniger aus inhaltlichen als aus Gründen, die in seiner Persönlichkeit liegen, wobei sich über viele Inhalte wahrlich genug streiten ließe. Wir können, wenn die Ampel sich endgültig zerlegt hat, wieder sagen: Wir haben sie nicht gewählt. Auch bei der Europawahl nicht. Aber nützt uns dies etwas? Natürlich nicht, es sei denn, wir würden auswandern und das Land denen überlassen, die noch merken werden, wie es ist, wenn alle, die diesen Laden am Laufen halten, sich abwenden – innerlich oder sogar physisch emigrieren.
Scholz würde uns nicht davon abhalten, wenn der Entschluss erst einmal feststünde. Er hätte nicht die Ansprache, die das bewirken könnte. Schon Merkel hatte sie nicht, wenngleich unser Wechsel ins Ausland just in dem Moment, in dem sie Kanzlerin wurde, nichts mit ihr und nichts mit der Politik zu tun hatte. Womit wir im Grunde nun zu Merkels Vorgänger Schröder kommen müssten, der richtig tiefe Schneisen der Verwüstung und der Spaltung in dieses Land hineingezogen hat und heute immer noch für einen Jobwundermacher gehalten wird. Journalisten und ökonomisches Grundwissen, aber mach was dagegen. Da machst du nichts, genau, wie du weiter nach jemandem dürsten musst, der Politik wieder spannend machen und Optimismus erzeugen kann. Um es gleich zu sagen, die neuen populistischen Kräfte sind es für uns auch nicht. Das ist alles viel zu fadenscheinig und durchsichtig, was von der Seite angeboten wird. Mit der wir uns außerdem ein wenig auskennen und daher wissen, zu welchen Enttäuschungen es bei Wähler:innen noch kommen wird, die hier sozusagen ihre letzte Chance auf politische Erlösung sehen.
Merkel hat das Land in einer Ratlosigkeit zurückgelassen, die brandgefährlich für die Zukunft ist, und wir fragen uns noch heute: Was hat sie dazu motiviert? Sie kann doch angeblich so gut analysieren. Wenn sie das wirklich kann, dann hätte sie doch merken müssen, dass sie anders handeln oder jemand anderen ranlassen muss? Demnächst soll ja ein dicker Autobiografie-Wälzer von ihr erscheinen. Sind wir danach schlauer? Wenn sie darin so schreibt oder einen Ghostwriter, den wir nicht beneiden, so schreiben lässt, wie sie Politik gemacht hat, dann wissen wir auch nach 700 Seiten nicht wirklich, wer die Frau ist, die 16 Jahre lang die Geschicke des Landes in der gerauteten Hand hatte. Die Raute ist nach unserer Ansicht ebenfalls ein Symbol, das man nicht unterschätzen darf. Die Faust hätte es in mancher Situation sein müssen, die auf den Tisch haut. Aber ihr Führungsstil ist ja zum letzten Haltepunkt der Zivilisation in einem Umfeld von männlichen Mega-Egos verklärt worden. Glauben Sie wirklich, Merkel hätte ein kleineres Ego als diese Männer? Ihre Karriere und wie sie politische Gegner abgesägt hat, das spricht sehr dagegen.
Dass sie auch sozial nichts vorangebracht hat, versteht sich demgemäß geradezu von selbst, denn dafür hätte man ja eine Idee, ein solidarisches Narrativ gebraucht, und den Willen gebraucht, etwas zu verändern, und die Empathie, die es neben der Durchsetzungsfähigkeit erfordert, die Gesellschaft zusammenzuführen, anstatt ihre Spaltungstendenz zu verwalten.
Wir würden die 16 Merkel-Jahre politisch lieber vergessen, als dass wir deren dominierende Figur vermissen würden. Aber Merkel begleitet uns Tag für Tag. Die negativen Folgen ihrer Politik sind nicht mehr zu übersehen. Und weil sie vom Stil her weitergeführt wird. Zumindest vom Kanzler. Und das schafft neue Entfremdungsprobleme zwischen Politik und Bevölkerung und vertieft die von Merkel gezogenen Gräben.
TH
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