Bienzle und der Tag der Rache – Tatort 494 #Crimetime 1231 #Stuttgart #Bienzle #SWR #Rache

Crimetime 1231 – Titelfoto © SWR

Kein Glück auf zwei Rädern

Bienzle und der Tag der Rache ist eine Folge der Krimireihe Tatort. Die Erstausstrahlung des vom Südwestrundfunk unter der Regie von Konrad Sabrautzky produzierten Beitrags fand am 10. März 2002 im Ersten Deutschen Fernsehen statt. Es handelt sich um die 494. Episode der Filmreihe sowie die fünfzehnte mit dem Stuttgarter Kommissar Ernst Bienzle.

Wir haben den guten Bienzle mit der Zeit schätzen gelernt, weil er in der Welt der Tatorte mit seinem schwäbischen Pietismus eine ganz eigene Note gesetzt hat – nachdem wir zu Beginn unserer Tätigkeit für die „TatortAnthologie“ des (ersten, Anm. anlässlich der Wiederveröffentlichung des Textes im Jahr 2024) Wahlberliners, als noch sehr viele Wiederholungen zu kommentieren waren, meist andere Ermittler vorzogen, wenn das Zeitbudget nicht ausreichte, um sich allen gesendeten Tatorten zu widmen.  Mittlerweile gibt es den neuen Wahlberliner, in dem jetzt schon zweieinhalbmal mehr Crimetime-Beiträge veröffentlicht wurden als in der ersten Ausgabe dieses Blogs (2011 bis 2016) – in etwa demselben Zeitraum (2018 bis 2024). Natürlich kam uns bei der schnelleren Taktung zu Hilfe, dass schon viele Rezensionen für den ersten Wahlberliner geschrieben waren und beim Start der Neuausgabe weitere im Archiv lagen, die noch nicht publiziert worden waren. Nun aber zu Bienzle und seinem Wesen, mehr dazu steht in der Rezension. 

Handlung 

Jahrelang hat Susanne Kuron die teure Motorradbesessenheit ihres Mannes Mike akzeptiert, nun aber hat sie genug: Statt in Mikes Bikerkarriere soll endlich Geld in ihr Projekt einer Kindertagesstätte fließen. Mike will das nicht zulassen. Dann kommt sein Bruder Christian nach dreijähriger Haft aus dem Gefängnis und will ebenfalls wieder in das Renngeschäft einsteigen. Mit Mikes Maschine. Immerhin hat er die Schuld an der Brandstiftung allein auf sich genommen, mit der die beiden ihren härtesten Konkurrenten Ronald Merdinger ausschalten wollten. Christian versucht, Mike unter Druck zu setzen. Dieses Gespräch bekommt Merdinger mit. 

Rezension

Was Bienzle wert ist, verraten die schlechteren seiner Fälle besser als die guten. Zum Beispiel „Tag der Rache“. Würde es den ruhigen und gefestigten Mann hier nicht geben, man würde zusammen mit den übrigen Figuren durchdrehen. Nicht, weil alle so exzentrisch wären. Sondern, weil sie so schrecklich nervig und teilweise unglaubwürdig daherkommen. Wie Bienzle etwa die Balance zwischen Tante und Freundin aufrecht erhält, die ihm das Leben schwer machen, ist sehenswert. Wie gutmütig dieser Kommissar ist und wie viel Verständnis er für die Schrullen seiner Umgebung hat. Aber auch, wie wenig er von dem Hinterhofdrama mitbekommt, das sich in der Familie Kuron, in seiner direkten Nachbarschaft, abspielt.

Ernst Bienzle wirkt gar nicht wie jemand, der die natürliche Aufmerksamkeit des Kriminalers und Spürhundes besitzt, wie jemand, der eine sich andeutende Katastrophe aufnimmt, sondern wie ein x-beliebiger Mitbewohner, der sich einen Kehricht um Missstände im eigenen Haus schert, und der sich dann eher routinemäßig um den Tod von Herrn Kuron zu kümmern beginnt. Er hat überhaupt keine Haltung zu dieser Familie, die er etwa seiner Freundin gegenüber äußern würde, was deren Funktion als Dialogpartnerin und damit als Stellvertreterin des Publikums rechtfertigen würde. Es gibt Bienzle-Tatorte, in denen diese Figur besser eingesetzt wird.

Die Idee hinter der Familie Kuron ist diese: Susanne hatte in ihrer Kindheit Probleme, vor allem unter dem Verlust des Vaters zu leiden, wurde in ein Heim gegeben, hat nie Nestwärme rfahren, sucht Halt bei  den immer falschen Männern. Erst dem Kuron Max, dann dem Bruder Christian, wobei es in der Vergangenheit auch schon mal umgekehrt war. Die beiden werden so gruselig selbstsüchtig dargestellt, dass man sich schwer vorstellen kann, dass eine Frau wie Susanne, die innerlich beinahe vor Willen und verdeckter Aggression platzt, sich jahrelang von den beiden hat schikanieren lassen und ihre eigenen Dinge immer wieder zurückgestellt hat, weil nur Geld für die Motorrad-Rennerei da war, nie für ihr Kindertagesstätten-Projekt.

Kein Wunder, dass es zum Mord kommen musste, damit endlich Schluss sein kann mit dieser Mésalliance à trois. Ah, diese beiden Zweirad-Machos mit ihrem Hang dazu, andere zu epressen, zu Diebstählen und sogar zum Feuer legen! Da wirkt die Szene, in der Max seiner Tochter ein Schlaflied singt, das sogar wir kennen, wie angeklebt, um der Figur eine Art von Differenzierung nachzuschieben, die nicht funktioniert, zumal Max alsbald tot sein wird und seine mögliche bessere Seite nicht mehr zeigen kann. Leider ist die Geschichte der Susanne-Darstellerin Jennifer Nitsch da nicht ganz herauszuhalten, die für die Rolle prädestiniert scheint, sie aber zu stark spielt. Auch das gibt es, dass jemand als Darsteller so präsent wirkt, dass man dem verkörperten Charakter die jahrelange Duldsamkeit nicht richtig abnimmt.

Das ist allerdings nicht so selten, gerade wenn profilierte Kräfte engagiert werden, um Rollen zu spielen, in denen sie sehr verhalten agieren müssten, um authentisch zu sein, dann aber den Bildschirm so dominieren, wie Jennifer Nitsch es in den meisten ihrer Szenen tut. Dass diese Darstellung etwas Irritierendes hat, fiel uns sofort auf, erst jetzt, für die Rezension, haben wir das Leben und das tragische Ende der Schauspielerin recherchiert, in dem es Parallelen zu Susanne Kuron gibt, die ihr entweder auf den Leib geschrieben wurden oder ihre Besetzung bedingt haben.

Ihre Darstellung trägt erheblich dazu bei, das befremdliche Gefühl zu verstärken, das uns während beinahe des gesamten Films begleitet hat, dass hier ein Personaltableau mit Schieflage geschaffen wurde, das von der psychologischen Grundidee stimmig sein mag, aber in der Ausführung nicht so wirkt. Auf eine Weise spiegelt sich dies mit Bienzles Privatleben. Ob die krampfigen Kämpfe zwischen Tante Gerlinde und Hannelore witzig sein sollten oder genau so nervend, wie sie wirklich sind, wissen wir nicht, aber es ist nicht komisch. Es ist nur übergriffig und dass Gerlinde am Ende so gar nicht bösartig ist, diese Wendung kaufen wir so wenig wie die Konstellation der Familie Kuron.

Agnes Windeck schoss uns durch den Kopf. In einer anderen Zeit, versteht sich, hat sie solche Rollen wie die Tante Gerlinde bei aller Schrulligkeit mit einem Charme versehen, der unwiderstehlich war und dazu geführt hat, dass man über Szenen, wie sie in „Bienzle und der Tag der Rache“ zu sehen sind, wirklich schmunzeln musste. Noch schlimmer als der missglückte Versuch, Komik zu installieren, wäre allerdings die Variante, dass dieses klischeehafte Gezicke tatsächlich eine Art ernsthafte Spiegelung der wirklich schlimmen Verhältnisse bei den Kurons sein sollte, falsch gestricktes, unharmonisches Zusammenleben en miniature, sozusagen.

Das Knirschen im sozialen Gebälk des Hauses wird durch die Handlung solange vorangetrieben und verstärkt sich, bis das Gebälk einstürzt. Dieses Hin und Her mit dem Brandanschlag auf den Kuron-Konkurrenten Ronald Merdinger (schön verfremdet per Maske, Thomas Balou Martin, der Staatsanwalt in den Sänger / Dellwo-Tatorten des HR, den hätten wir niemals erkannt), also dieses Gezerre, wer nun was allein oder zusammen gemacht hat, ist im Grunde vollkommen unwichtig, denn es ist kaum vorstellbar, dass die unguten Brüder sich nicht zumindest abgesprochen und damit beide einen ideellen Tatbeitrag zu verantworten hatten.

Und warum das Motorrad, das Susanne dann an Merdinger verkauft, ohne ihm auch nur einen Cent oder einen Pfennig nachzulassen (hier wird 2002 noch in Mark gerechnet), weil er so unter den Kurons leiden musste, nicht wenigstens gesichert wird, damit Christian es nicht mitgehen lassen kann, weiß der Himmel. So gut müsste Susanne ihn doch gekannt haben, bevor die Situation entsteht, dass er mit fremdem Eigentum auf die Rennstrecke geht. Unter gegebenen Umständen wäre er außerdem disqualifiziert worden, hätte nicht die angeschnittene Bremsleitung schon für sein Ende beim Rennen gesorgt. Überhaupt wird die Welt der Privatfahrer hier ziemlich vogelwild und als ein Sumpf des Verbrechens aus Konkurrenzgründen dargestellt. Man könnte meinen,  man wäre in der Formel 1 oder bei der FIFA.

Finale

Oftmals sind die Bienzle-Tatorte als Howcatchems angelegt, was eine gute Charakterisierung der Täterfigur(en) ermöglicht. Hier aber wird ein klassischer Whodunit vorgeführt, der außerdem nicht perfekt aufgelöst wird. Wer war nun der Mörder, in zwei Fällen? Im zweiten wohl wirklich Susannes Vater? Oder doch sie selbst, wie vermutlich im ersten? Bienzle lässt es dabei bewenden, dass der todgeweihte Mann die Schuld auf sich nimmt, um sein an der Tochter in der Vergangenheit verübtes Unrecht wiedergutzumachen und die grässlichen Kuron-Brüder loszuwerden. Zumal dieser Mann schon durch unheilbaren Krebs so krank ist, dass er nach Verurteilung gar nicht einsitzen wird.

Das haben wir dann wieder mit einem Lächeln quittieren können, dass Bienzle den Fall nicht weiter hartnäckig ausermittelt, sondern es bei dieser Auflösung bewenden lässt. Leider wird diese Beeinflussung des Justizganges durch Passivität beinahe verschluckt, sodass das Ende un(ter)entwickelt bleibt. Wieder einmal bestätigt sich unser Eindruck, dass Tatorte, in denen es um Sport geht, underperformen, weil das Milieu sich den oft sehr einfachen Botschaften widersetzt. Meist wird der Sport dahingehend verwendet, um zu zeigen, wie Menschen buchstäblich über Leichen gehen, um sich Wettbewerbsvorteile zu verschaffen oder weil sie Kränkungen durch Wettbewerbsnachteile erfahren haben. Wenn es darum geht, dass Motorradfahrer dann tatächlich die Werkstatt der Konkurrenz anzünden, wird’s allerdings doch etwas zu viel des Schlechten. Und irgendwie ist das dann unspannend, selbst wenn die Inszenierung der Rasanz des hier gezeigten Motorrad-Rennsportes angemessen ist, was hier erst am Schluss der Fall ist, wo die Handlung sich immerhin beschleunigt.

Die Rezension ist der Tandem-Beitrag zum neuen Stuttgart-Fall „Preis des Lebens“ mit Torsten Lannert und Sebatian Bootz (Richy Müller, Felix Klare), den direkten Nachfolgern von Ernst Bienzle.

5,5/10

© 2024, 2015 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

Kursiv, tabellarisch: Wikipedia

Regie Konrad Sabrautzky
Drehbuch Felix Huby
Produktion Brigitte Dithard
Musik Nikolaus Glowna
Kamera Hans-Jörg Allgeier
Schnitt Roswitha Gnädig
Premiere 10. März 2002 auf Erstes Deutsches Fernsehen
Besetzung

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