Abgezockt – Tatort 568 #Crimetime 1232 #Tatort #Ludwigshafen #Odenthal #Kopper #SWR #Abgezockt

Crimetime 1232 – Titelfoto © SWR

Das Passwort zu Geld und Sex

Abgezockt ist die 568. Tatort-Folge und der 31. Fall für die Ludwigshafener Ermittlerin Lena Odenthal, gespielt von Ulrike Folkerts und der 22. Fall für Mario Kopper, gespielt von Andreas Hoppe. Die Folge wurde erstmals am 16. Mai 2004 ausgestrahlt und ist eine Tatort-Produktion des SWR.

Im Tatort Nr. 568 aus dem Jahr 2004 hat sich Lena Odenthal mit einem Strukturvertrieb zu befassen, dessen Machenschaften für den Tod eines jungen Mannes verantwortlich sein könnte, den sie kurz zuvor kennengelernt hatte. Es sieht nach Selbstmord aus, doch Lena glaubt nicht daran und begibt sich in die Tiefen des MLM (Multi-Level-Marketing).

„Schneelballsystem“, wie die hier gezeigte Form des Verkaufs gerne genannt wird, heißen offiziell Strukturvertriebe, aber das Bedrohliche eines Schneeballs, der immer größer und größer wird und alles überrollt, ist genauso einprägsam, wie „Strukturvertrieb“ verräterisch ist. Denn in der Tat geht es dabei nicht in erster Linie um das Produkt, sondern die Struktur, nach welcher eine Verkaufsorganisation funktioniert. Mittlerweile hat sich auch der Begriff „MLM“ eingebürgert, der im Stil unserer Zeit alles etwas flauschiger und natürlich in Englisch daherkommen lässt, aber am exaktesten beschreibt, worum es geht: Dass Verkäufer nur dann Erfolg haben, wenn sie immer weitere Level, also Ebenen, von Verkäufern heranziehen, die ihrerseits Verkäufer werben. Dass so etwas überhaupt längere Zeit funktionieren kann, liegt an den besonderen Schwächen des menschlichen Charakters, insbesondere an der Gier, die den Verstand immer wieder ausblendet. Dabei gibt es doch das schöne Schachspiel-Gleichnis, um sich in Erinnerung zu rufen, dass von solchen Vertriebssystem nur die allerobersten Ebenen wirklich profitieren können. Mehr dazu steht in der Rezension.

Handlung

Fast wäre es als Selbstmord durchgegangen. Der junge Mann war ohne zu bremsen auf leerer Straße gegen die Leitplanken und einen Brückenpfeiler gerast. Doch Lena Odenthal hatte Lutz Bergmann am selben Abend beim Karatetraining kennen gelernt und ist sicher: In Selbstmordstimmung war er nicht. Tatsächlich beweisen die Analysen, dass Bergmann mit einem Medikamentencocktail vergiftet wurde. Lena hat Recht behalten und einen Fall zu lösen.

Was Lena Odenthal selbst wahrgenommen hatte, bestätigen die Befragungen: Lutz Bergmann hatte ein überaus anziehendes Wesen und wusste die Menschen für sich einzunehmen. Seiner Mutter war er ein liebevoller Sohn, das rührt auch deren Pflegerin Ursula Schäfer. Seine Schwester Biggi trauert um den Bruder und hat bereits einen Schuldigen parat: Lutz‘ Freund Ritchy, der ihn als Verkäufer eines Strukturvertriebs angeworben und dann ausgebeutet habe. In der Begegnung mit Biggis Wohngenossin Su wirft Lena einen ersten Blick auf die andere Seite von Lutz Bergmann. Zeitweilig sowohl mit ihm als auch mit Ritchy Horst liiert, hat Su sich als Verkäuferin für den Strukturvertrieb Rocket Marketing werben lassen. Doch statt hoher Provisionen türmen sich bei ihr teure Kartons mit Energy-Drings. Su fühlt sich von Lutz und Ritchy reingelegt.

Ritchy Horst, lässig, charmant, eloquent, sieht das selbstverständlich anders. Lutz war ganz unten, Ritchy gab ihm die Chance im Pyramidensystem von Rocket Marketing und entdeckte damit Lutz‘ großes Überredungs-Talent. Sie waren beste Freunde, was auch immer die Schwester behauptet. Ebenso wie Max Hüllen, der charismatische Deutschland-Chef von Rocket Marketing, der bei Werbeveranstaltungen das Publikum reihenweise für den Rausch des Verkaufens begeistert, beharrt Ritchy darauf, dass Rocket Marketing eine lebensbejahende, glückbringende Gemeinschaft sei.

Doch Lena begegnet vor allem Opfern des Strukturvertriebs. Wie Paul Wattenscheid, den Rocket Marketing an den Tiefpunkt seines Lebens gebracht hat. Der Illusion eines Nebenjobs erlegen, mit dem man einfach und flexibel seine Liquiditätsprobleme lösen könne, verlor Wattenscheid seinen Betrieb, sein Haus und seine Frau. Wattenscheid ist zwar so verzweifelt und wütend, dass er Ritchy Horst tätlich angreifen will. Bis zum Mord aber, so beteuert Wattenscheid, wäre er nie und nimmer gegangen.

Lena ist überzeugt, dass Bergmanns Tod mit dem Strukturvertrieb zu tun hat. Wollte er wirklich aussteigen und Max Hüllen unter Druck setzen, wie seine Schwester behauptet? Hat einer der betrogenen Verkäufer sich an ihm gerächt? Oder war die Freundschaft zwischen Lutz und Ritchy in Wirklichkeit doch eine erbitterte Konkurrenz um Geld und um Frauen? Immerhin stellt sich selbst bei einer beherrschten Frau wie der Pflegerin Ursula Schäfer heraus, dass sie Ritchy nicht widerstehen konnte. Um mehr über den Strukturvertrieb zu erfahren, lässt Kopper sich undercover anwerben und erlebt den psychischen Druck, der von Rocket Marketing ausgeht, am eigenen Leibe. Aber auch Ritchy gerät unter Druck. Er ist längst nicht mehr so erfolgreich, wie Max Hüllen es von ihm erwartet. 

Rezension

Uns hat „Abgezockt“ gefallen. Aus mehreren Gründen. Er ist nicht perfekt, aber überwiegend gelungen, daher haben wir auf der

Plus-Seite:

  • Die Darstellung der Vertriebsmühle „Rocket Marketing“. Vieles darin ist zugespitzt, aber gerade die Zuspitzung macht alles verständlich und sie ist offenbar von jemandem vorgenommen worden, der sich zumindest mit den Grundzügen dessen, was er hier beschreibt, tatsächlich befasst hat. Das ist leider nicht bei allen Tatorten so, die uns Einblicke ins Wirtschaftsleben gewähren sollen, doch die Figuren des charismatischen, aber kruden Chefs, die konkurrierenden Starverkäufer, die von eben jenem Chef gegeneinander ausgespielt werden, das Fußvolk, das sein Umfeld nach Verkaufsmöglichkeiten abklappert und sich dabei eher Freundschaften ruiniert als Geld verdient, wie unbedarfte Typen, wie Kopper hier einen spielt, als letztes Aufgebot herhalten müssen, bevor die Zitrone endgülig ausgequetscht ist – alles sehr realitätsnah.
  • Herrlich fanden wir den Moment, in dem erklärt wird, dass Kunden, die ein Waschbecken kaufen wollen, nun Energydrinks aufgeschwatzt werden. Solche Fälle gab und gibt es wirklich, wir haben u. a. erlebt, dass ein Gutachter seine Position als Kontrolleur für eine Bankengruppe ausgenutzt hat, um Häuslebauern Finanzprodukte aufzuschwatzen. Die Synergien sind besonders zwischen Immobilien- und Finanzbranche reichhaltig, wenn man entsprechend Fantasie und Chuzpe hat.
  • Entsprechend der einprägsamen Darstellung des Strukturvertriebswesens sind die darin vorkommenden Typen gut gespielt: Schmierige Niemande ohne jede Kompetenz, die plötzlich zu Stars aufgebau(sch)t werden, mit Geld ebenso wenig klarkommen wie ohne Geld, die aber immer noch in der Lage sind, Dritte, etwa ihre gutgläubigen Partnerinnen, in die Sache hineinzuziehen. Dementsprechend gut spielen Sebastian Blomberg las Ritchy, Paul Wattenscheid und Dietrich Hollinderbäumer als Antipoden des Vertriebswesens. Nicht zu vergessen Mario Kopper als begriffsstutzig-knuffiger Newbie, der auf eine ziemlich hintergründige Weise erläutert, wie lächerlich der Hype um die sogenannten Verkäuferpersönlichkeiten ist. Anna Schudt, heute Kommissarin in Dortmund, sehen wir in ihrer ersten Tatort-Rolle als Täterin.
  • Lena Odenthal ist in diesem Film nicht nur als Kampfsportlerin zu sehen, was bei Ulrike Folkerts sehr authentisch wirkt, sie wirkt auch sehr klar und nur einmal kommt der moralische Impetus durch, als sie Ritchy angeht, weil dieser den Tod seines Freundes Lutz nach ihrer Ansicht zu leicht nimmt. Außerdem ist sie bezüglich ihrer Ausstrahlung und optischen Wirkung auf dem Zenit und im Grunde zu attraktiv, um sich von einem Typ wie diesem Lutz einseifen zu lassen – und trotz all ihres kriminalistischen Spürsinns nicht auf das zu kommen, was uns als Zuschauer sofort klar war: Dass dieser Lutz ihr die Autoreifen zerstochen hat, um sie nach Hause bzw. in seine Lusthöhle fahren zu können. Das geht ein wenig zu leicht, wie überhaupt die Methoden, mit denen die Strukis reihenweise Frauen flach legen können, ein wenig frauenfeindlich wirkt. Klar gibt es immer Menschen, die sich blenden lassen, aber ab einem gewissen Niveau, auf dem man stolz auf Eroberungen sein kann, spielen auch Dinge wie Ausstrahlung, Charme und sogar ein Schimmer von Kultur eine Rolle. Es ist allerdings ein Problem der meisten Filme, nicht nur der Tatorte, dass die Finesse der Methoden, mit denen die Geschlechter einander umgarnen, weit hinter der Wirklichkeit zurückbleiben und deren komplexe Wirkungsmechanismen nur unvollkommen spiegeln können.

Weniger gut:

  • Dass das Mordmotiv, wie bei vielen Tatorten, eben doch nicht im Wirtschaftsbereich angesiedelt ist, zumindest nicht innerhalb des Strukturvertriebs, sondern dass eine eifersüchtige Frau, Krankenschwester und blondes Seelchen, austickt und anfängt, ihre Liebhaber umzubringen. Sehr gut hinterlegt ist ihr Verhalten nicht und vor allem ist die Schlussszene zu lang geraten – so lang, dass der Spannungsbogen hier nicht seine höchste Stelle erreicht, sondern vorzeitig abflacht und man diese ewig erscheinende Inszenierung eines Liebesmordes, einer inszenierten gemeinsamen (Selbst-) Verbrennung irgendwann als ein Beispiel unfreiwilliger Komik ansieht. Klar, dass Lena Odenthal inzwischen Zeit genug hat, sich dem nächsten Tatort so rechtzeitig zu nähern, dass sie den Tod zweier weiterer Menschen verhindern kann. Würde man heute, beinahe 12 Jahre nach dem Dreh von „Abgezockt“ (21 Jahre vom Zeitpunkt der Veröffentlichung im neuen Wahlberliner aus), den großen, finalen Knall geschehen und Lena zu spät kommen lassen? Bei den neueren Tatort-Teams meinen wir: ja. Es entspricht unserer Zeit, die düstere Variante zu wählen. Bei den Ludwigshafen-Tatorten sind wir aber nicht sicher, denn Odenthal ist immer noch eine klassische Problemlöserin und insofern ein traditioneller Polizisten-Typ, der die Ordnung wiederherstellt.
  • Weil Lena in dem beschriebenen Szenario mit den zerstochenen Reifen nicht sehr typgerecht agieren muss, wirkt das persönliche involviert sein beim ersten Mord nicht sehr gekonnt. Warum musste man ausgerechnet an ihrem Beispiel zeigen, wie die Brauseverkäufer vorgehen, um ihre Absatzmöglichkeiten zu erhöhen? Es ist doch kaum wahrscheinlich, dass sie als Beamtin tatsächlich in dieses MLM-Geschäft einsteigen wird. Apropos: Das Beamtengejammer des Spusi-Becker wird heute noch klischeehafter und deplatzierter, als das vielleicht 2004 der Fall gewesen sein mag. Zwar ist die Arbeitslosenzahl etwas zurückgegangen, aber die Ironie erschließt sich ja erst im Verlauf des Films, wie riskant es wirklich ist, in der freien Wirtschaft Geld zu verdienen. Und wenn man dabei den Anstand und die Gesetze halbwegs beherzigt, ist es mehr als gerechtfertigt, dass man gegenüber den Sicherheitsdenkern, die schon mit einer greisenhaft ängstlichen Persönlichkeitsstruktur auf die Welt gekommen sind, einen materiellen Vorteil hat.

Fazit in Form von Anmerkungen zum Strukturvertriebswesen:

  • Dass man nur mit Energydrinks ein solches System aufbauen kann, kommt uns ein wenig unterpowert vor, weil darin nicht genug finanzielle Fantasie steckt. Wenn schon im Fitnessbereich, dann ganze Ernährungsprogramme mit verschiedenen, oft maßlos überteuerten Produkten, die wirklich in der Lage sind, die Oberen in der Struktur zu reichen Leuten zu machen. Es gibt MLM-System hauptsächlich in der Finanzberatungs-Industrie, bei den Versicherungen, also dort, wo tatsächlich Geld zu machen ist. 
  • Anmerkung 2024: Hier haben wir einen Satz gestrichen, der konkrete Beispiele von realen Strukturvertrieben nennt und auch die Versicherungswirtschaft dabei markiert. Es ist heutzutage schon alles so normal, so abgefuckt normal, was soll’s, as noch Namen zu nennen, die wir alle kennen.
  • Wer die Methoden der Strukis ein wenig kennt und wie Kunden nicht nach Bedarf, sondern nach bestmöglicher Provision beraten und außerdem als mögliche Opfer, sprich als potenzielle Mitarbeiter betrachtet werden, wie dabei auch noch mit „Unabhängigkeit“ von einzelnen Anbietern geworben wird, wer weiß, wie unerfahrene, naive Menschen, mehr noch die Mitarbeiter als die Kunden, hier tatsächlich abgezockt werden, der ärgert sich darüber, dass zum Beispiel selbst  Spitzensportler das Logo von Strukturvertrieben aufs Käppi setzen  lassen. Für uns ist das Akzeptieren von Sponsoren aus dem Finanz-Strukturvertriebsgewerbe ethisch ähnlich bedenklich wie das früher übliche Sponsoring  durch die Tabak- oder das heute noch weit verbreitete durch die Alkoholindustrie.
  • Auch oberhalb haben wir 2024 eine kleine Änderung vorgenommen. Uns wundert eh nichts mehr, das ist der Grund.
  • Dass Strukturvertriebe nicht nach wenigen Jahren implodieren wie es hier bei der „Rocket Marketing“ den Anschein erweckt, liegt tatsächlich daran, dass immer wieder neue unbedarfte Menschen als Mitarbeiter und Kunden „nachwachsen“. Der schärfste Feind der Strukturvertriebe war früher das Direktmarketing, dem aber durch Verschärfungen des Verbraucherschutzes mittlerweile Zügel angelegt wurden – jetzt ist das Internet mit seinen exorbitanten Vergleichsmöglichkeiten von Angeboten vermutlich der mittelfristige, endgültige Totengräber dieser Vertriebsform, auch deshalb, weil die Leute immer versierer im Umgang mit Informationen werden und immer resistenter gegen vorgebliche Beratung.
  • Und hier war der Wunsch Vater des Gedankens, denn die Dummen werden trotz der ausgefuchsten Vergleichsmöglichkeiten, die im Jahr 2024 noch viel besser geworden sind, nicht alle.
  • Ob der Preisdruck, den die Internet-Vergleichsportale und die entstehende On-Demand-Economy ausüben, ob die suggerierte Vergleichbarkeit nahezu unvergleichbarer, komplexer Angebote etwa von Versicherungen mit all ihren Klauseln besser sind als die Bespaßung durch Mitglieder von Drückerkolonnen, ist für uns ein offenes Kapitel – letztlich sind dies alles Erscheinungen, die beweisen, dass ein zu unregulierter Kapitalismus in die Sackgasse führt. Bis auf ein paar Leute, die ganz oben in den Hierarchien angesiedelt sind.
  • Eben, auch deshalb: Die Vergleichbarkeit wird durch immer mehr ausgetüftelte und höchst variantenreiche Spezifikationen erheblich erschwert, das gilt auch für technische Produkte. 

8/10

© 2024 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2015)

Kursiv, tabellarisch: Wikipedia

Regie Christoph Stark
Drehbuch Klaus-Peter Wolf
Produktion Michel Becker
Musik Thomas Osterhoff
Kamera Jürgen Carle
Schnitt Olga Barthel
Premiere 16. Mai 2004 auf Das Erste
Besetzung

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