Crimetime 1236 – Titelfoto © WDR
Bonn anno 1972
Kressin und der Mann mit dem gelben Koffer ist der 20. Fernsehfilm der Krimireihe Tatort. Er wurde vom WDR produziert und zeigt Sieghardt Rupp zum fünften Mal in der Rolle des Zolloberinspektors Kressin. Die deutsche Erstausstrahlung fand am 9. Juli 1972 statt.
War der 20. Tatort der erste Polit-Thriller der Reihe? Auf jeden Fall gibt er interessante Einblicke in die Bonner Republik der frühen 1970er und hat auch sonst viel zu bieten.
Kressin und Sievers, das ist wie Bond und der Typ mit der Katze, heruntergebrochen aufs deutsche Fernsehformat, und dieses Mal hat der Schurke, der im Rolls Royce mit Liechtensteiner Kennzeichen gefahren wird, eine recht große Rolle. Ivan Desny verleiht im sein damals sehr bekanntes Gesicht. Überhaupt sieht man viele Persönlichkeiten, die zum Inventar der alten Republik gehörten. Auf Postkarten und einige sogar live. Mehr in der Rezension.
Handlung
Gangsterboss Sievers hat sich diesmal auf Waffenschmuggel verlegt. Mit Waffen, die eigentlich verschrottet werden sollten, unterbietet er den „legalen“ Waffenhändler Nobiling bei einem Geschäft mit einem jungen afrikanischen Staat. Sievers scheut nicht davor zurück, einen Informanten Nobilings ermorden zu lassen, der den Verteidigungsausschuss über Sievers‘ Machenschaften unterrichten sollte. Kressin, der Sievers wieder einmal auf der Spur ist, ermittelt gemeinsam mit einem Beamten der Sicherungsgruppe Bonn gegen Sievers.
Rezension
Michael Verhoeven hat also 1972 einen Tatort inszeniert, allein diese Tatsache macht hellhörig (1). Zwei Jahre vorher hatte er den Anti-Vietnam-Film „O. K.“ gemacht, der bei der Berlinale als offzieller deutscher Wettbewerbsbeitrag an den Start ging – und so harte Kontroversen verursachte, dass das Festival erst- und bisher einmalig abgebrochen wurde, ohne Preisverleihungen.
Einer seiner nächsten Filme war also Kressins Mann mit dem gelben Koffer, und das zeigt frappierend, wie die Dinge damals im Umbruch waren. Wenige Jahre zuvor wäre der Regisseur fürs Fernsehen nach einem solchen Skandal wie bei der Berlinale nicht mehr tragbar gewesen. Aber in den Zeiten von Friedrich Nowottny als stellvertretender Studioleiter in Bonn, mit Ernst-Dieter Lueg als Hauptstadtkorrespondent, als der WDR zunehmend als „Rotfunk“ galt und einzelne Mitarbeiter gar in RAF-Aktivitäten verwickelt waren, da lagen die Dinge schon deutlich anders. Einerseits wäre es sicher spannend, zu Ende zu recherchieren, welcher Produzent, Intendant, Programm- oder Unterhaltungschef die Freigabe des Projekts oder gar die Idee steuerte, aber ob sich daraus etwas Relevantes ableiten lässt? Ein Politikum war dieser Film, im Gegensatz zu „O. K.“, jedenfalls nicht, trotz seiner deutlichen Kritik an den Bonner Verhältnissen.
Werfen wir kurz einen Blick auf eine bestimmte Szene, um mehr über die Botschaft von „Kressin und der Mann mit dem gelben Koffer“ zu erfahren. Fantastisch, dass es 1972 Postkarten mit Politikern für Bonn-Touristen gab. Kann man sich heute vorstellen, dass Berliner Kartenkioske Merkel- oder Schäuble-Porträts an prominenter Stelle ihres Sortiments platzieren? Und gab es diese Bilder von Adenauer oder Schmidt wirklich – oder sind sie eine Erfindung für den Tatort? Jedenfalls haben sie uns stark an die Kanzlergalerie am Ende von R. W. Fassbinders „Die Ehe der Maria Braun“ erinnert, wobei die Dreh-Reihenfolge der Filme eher Fassbinders Galerie als Zitat von Verhoevens Postkartenschau ausweist.
Das erste Bild zeigte Konrad Adenauer, der die Bonner Republik geprägt hat wie keine andere Politikerpersönlichkeit und 1972, vier Jahre nach seinem Tod, neun jahre nach seiner Demission als Kanzler, noch sehr präsent in den Köpfen und Herzen der Menschen war – in manchen Herzen sicher auch als Feindbild. Nach Adenauer schwenkt die Kamera beiläufig über andere CDU-Politiker wie Kurt Georg Kiesinger, verhält dann aber bei Franz Josef Strauß – Hinweis auf seine Eigenschaft als prägender Verteidigungsminister bis zur SPIEGEL-Affäre 1962 und natürlich damals schon als Strippenzieher bekannt. Dann ein Schnitt und Helmut Schmidt wird gezeigt. Ebenso klar und konturiert, ebenso ernst und entschlossen drinblickend wie Adenauer, dann zieht die Kamera wieder nach oben und man sieht einen eher schwach kontruierten, gütig lächelnden Willi Brandt in Kurzeinstellung, dann Herbert Wehner, den damaligen Fraktionschef der SPD. Die Interpretation, dass Verhoeven Schmidt 1972 schon als den kommenden Mann der SPD identifiziert hat, dass er überdies aufgrund der Platzierung der Postkarten und der Art der Insbildsetzung eine Kontinuität von Adenauer zu Schmidt, der vielen Linksintellektuellen als Konservativer in der falschen Partei galt, ist eine mögliche Deutung für seine Hervorhebung in der Galerie, jedenfalls war er damals aber Verteidigungsminister, also mit dem Politikgebiet befasst, um das es im Film geht. Ausgestrahlt wurde der Film estmals am 9. Juli 1972, einen Tag, nachdem das Verteidigungsministerium von Schmidt in die Hände von Georg Leber überging.
Wenn man eine so dezidierte Arbeit mit den Postkarten annimmt, muss man davon ausgehen, dass der Film insgesamt vielleicht nicht ganz in dieser Sorgfalt, aber doch sehr in allem, was wir sehen, sehr bewusst inszeniert wurde, von einem sehr politischen Regisseur.
Wir haben bei einer Kurzrecherche zur Geschichte der Bundeswehr keine der Filmhandlung entsprechenden Vorgänge im relevanten Zeitraum gefunden und wissen nicht, ob die Daten und Preise zur Verschrottung bzw. zum Weiterverkauf ausgemusterter Bundeswehr-Waffensysteme stimmen, die der hochrangige Bundeswehroffizier an Kressin weitergibt. Das Kriegswaffenkontrollgesetz, das seit 1961 existiert, wird nicht namentlich erwähnt, begrenzt aber im Zusammenhang mit dem Außenwirtschaftsgesetzt die Möglichkeiten des legalen Waffenexports, weitere Normen spielen hierbei eine Rolle. Die Materie ist kompliziert, die Auslegungsmöglichkeiten sind vielfältig, weshalb einzelne Rüstungsgeschäfte und deren Genehmigung durch Bundesregierungen, insbesondere die Involvierung der jeweiligen Verteidigungs- und Wirtschaftsminister, immer wieder für Diskussionsstoff sorgen.
Umso beachtlicher, wie humorvoll der 20. Tatort geraten ist. Kressin kann man nicht ernst bringen, das hat auch Verhoeven erkannt und sich ganz locker und ironisch ins Thema Schmuggel von Altwaffen hineingearbeitet, das in der Tat ein Skandal gewesen wäre und in der politische aufgeheizten Stimmung der frühen 1970er sicher zu Proteststürmen geführt hätte.
Dass man sich heute mit einem Film dieser Art so gut amüsieren kann, liegt nicht nur daran, dass er einen hohen Nostalgiefaktor aufweist für jene, die in diese Bonner Republik, in jene Zeit hineingeboren wurden und mit vielen der genannten Politiker und Journalisten aufwuchsen, das Zeitkolorit geht ohnehin weit über diese Menschen hinaus. Von der muffigen, zigarettenrauchgeschwängerten Teppichatmosphäre der damaligen Büros, die zudem ziemlich vollgestopft wirken, die alle Geräusche ganz anders dämpfen und wirken lassen als die heutigen, harten Materialien und die viel großzügigere Gestaltung von solchen Räumen über die Autos und natürlich die Mode bis hin zu der Art, wie Menschen viel robuster und knackiger miteinander agieren als in den endzeitvisonsnahen Tatorten heutiger Prägung, alles ist in diesem Film genau so, wie wir noch in den Kindererinnerungen abgespeichert haben. Mit einem Satz: Die Atmosphäre jener Jahre ist grandios eingefangen, besser als bei vielen anderen frühen Tatorten, die unweigerlich in ihre Entstehungszeit zurückführen. Das liegt nicht nur an einer bewussten Inszenierung des Bonner Betriebes, sondern auch daran, dass eben Bonn, der Bundestag, die Abgeordneten, die Lobbyisten und Geschäftemacher damals so eng aufeinander saßen, die sich in Berlin viel mehr verteilen. Die Atmosphäre ist wahrhaft dicht, in diesem Film, obwohl dieser nicht vorrangig auf Verdichtung, sondern auf Auserzählen setzt.
Die Verständlichkeit der Vorgänge angesichts eines grundsätzlich komplizierten Themas ist ein weiterer Bonus von „Kressin und der Mann mit dem gelben Koffer“, und der Koffer ist mehr als ein MacGuffin, weil er tatsächlich Unterlagen beinhaltet, die einen Mitspieler im Waffenexport ausschalten sollten, und diese Unterlagen werden auch gezeigt. Ob das insofern logisch ist, als der Konkurrent legal handelt? Wohl eher nicht, aber vielleicht wird der Bundestagsabgeordnete, der so auffällig gut mit dem Exporthändler im helleren Anzug steht (Paul Verhoeven, der Vater des Regisseurs), von diesem auch geschmiert. Das auch noch deutlich herauszustellen, wäre wohl für damalige Verhältnisse dann doch etwas zu viel gewesen, zumal, wenn es keine bereits öffentlich gemachten Vorgänge dieser Art gab. Eines ist jedenfalls auffällig: Dass die Vertreter eines afrikanischen Staates, die sich um deutsche Waffen bemühen, diese nach der späteren Aussage des Bundeswehr-Verantwortlichen nicht bekommen dürften, da dieser Staat sicher kein NATO-Mitglied ist, und auf NATO-Mitglieder soll der Export ja laut diesem Angehörigen der Streitkräfte ja beschränkt sein. Konsequenterweise muss man also davon ausgehen, dass der MdB, der es dem einen Waffenhändler erlauben will, den anderen aus dem Markt zu drängen, gewusst hat, dass auch der Freund illegal handelt.
Über Kressins Persona haben wir anlässlich vorangehender Rezensionen zu Filmen mit ihm bereits einiges geschrieben (2 – die Rz hier listen), festzuhalten ist, dass es seinem Einsatz mit Humor und Frechheit nicht schadet, wenn er mal nicht ständig über Frauen stolpert, die ihm sowohl bei der Lösung seiner Aufgaben als auch beim Spaß nebenbei behilflich sein können – doch es ist auch dieses Mal wieder eine Dame, die ihn auf die Spur führt, nämlich die des gelben Koffers. Die umständliche Übergabe desselben zwischen dem Killer des Informanten und ihr ist sicher keine ruhmreiche Sequenz innerhalb des Films – dass die Frau ohne den Koffer ins Klohäuschen auf der Fähre geht und mit herauskommt, wäre wohl auch einem weniger kriminalistisch wahrnehmenden Menschen als Kressin aufgefallen. Dramaturgisch ist allerdings auch dieser Moment recht gut geworden, inklusive der Autofahrerei davor und danach, die stellenweise etwas Slapstickhaftes hat, wenn Kressin auf der Autobahnausfahrt zurücksetzt oder mit quietschenden Reifen und schleuderndem Heck durch die Gegend jagt, während die Frau mit dem gelben Hut ganz entspannt fährt. Vielleicht hatten damals die Mercedes SL doch gegenüber den Porsche 356 das deutlich bessere Fahrwerk. Es ist aber alles ohne Rückprojektion gefilmt und wirkt daher richtig schön echt, besonders, wenn Kressin sich beim Rückwärtsfahren plötzlich etwas anstrengen muss und dabei auch seine Mimik von der sonst zur Schau gestellten Gelassenheit abweicht.
Was uns noch gefallen hat? Wie gut Verhoeven Ensemble-Szenen beherrscht, wie sich an der Festnahme in der Villa zeigt, in der alle relevanten Personen anwesend sind, ein richtiges großes Finale, in dem die Interaktion komplett beherrscht wird von einer souveränen Regie, die Dialoge auch nicht abfallen, wie sonst oft in solchen Sequenzen, sondern genauso trocken und witzig bleiben wie über die gesamte Handlung hinweg, wo die (meist) knappe und pointierte Sprache ebenfalls für zusätzlichen Genuss sorgt. Natürlich fanden wir auch den Gag mit diesen gelben Kugeln schön, deren Bezeichnung wir leider nicht kennen und deren Bedienung als Spielzeug eines der Symbole in dem Film ist: Der MdB will sich nicht mit ihnen befassen, sie gehen ihm als Modespielzeug seiner Tochter auf die Nerven, Kressin versucht sich – sic! – spielerisch daran und versteht sofort, wie’s funktioniert, der Mann von der Bundeswehr will das ebenfalls, aber es misslingt ihm natürlich. Charakterisierungen nebenbei anhand von skurril wirkenden Accessoires, wo gibt es derlei in heutigen Tatorten noch? So etwas erfordert natürlich eine gewisse Lässigkeit und das richtige Personal, keinen der anderen Tatort-Ermittler jener Zeit hätten wir uns mit einem solchen Beinahe-Running Gag vorstellen können und auch nicht, dass er unbefugt in eine Pizzeria eindringt.
Finale
Allgemein erzählen die Tatorte viel über die Zeit, in der sie gedreht wurden, aber heute wirken sie doch entkoppelter als in ihren frühen Jahren, in denen man das Produktionsjahr beinahe exakt anhand gewisser Faktoren bestimmen kann. Das ist heute nicht mehr anhand allgemeiner Zeitgeistmerkmale möglich. Heute gibt es nur noch ein „ab“, wenn neueste Pkw-Modelle zum Einsatz kommen. Inszenierungsstil, Mode, Architektur sind nicht mehr so präzise wie damals zeitlich eingrenzbar. Und es gibt keine weit offen stehenden Hemden mit Schweißflecken mehr bei Ermittlern. Kressin war für seine Zeit nach unserer Ansicht provokanter als Schimanski zehn Jahre später mit seiner Fäkalsprache.
8/10
© 2024 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2015)
(1) Bis zu seiner zweiten Regiearbeit für die Reihe dauerte es dann bis 2005, als er den Bodensee-Tatort „Der Spieler“ drehte – einen der wenigen Blum / Perlmann-Fälle, die wir noch nicht gesehen und rezensiert haben.
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