Crimetime 1237 – Titelfoto © NDR, Marion von der Mehden
Fallende Blätter im Finale
Atemnot ist ein Fernsehfilm aus der Kriminalreihe Tatort der ARD und des ORF. Der Film wurde vom Norddeutschen Rundfunk unter der Regie von Thomas Jauch produziert und am 22. Januar 2006 erstmals im Fernsehen ausgestrahlt. Es handelt sich um die Tatort-Folge 611.
Ein Trauerfall für Charlotte Lindholm, der ausnahmsweise nicht in einem finsteren Dorf spielt, sondern teilweise in einer finsteren Anwaltskanzlei, in dem die Autos fliegen wie die Schwalben und Blätter durch Fabrikhallendächer fallen. Es wird einiges geboten, was das moderne, an ins Geschehen involvierten Ermittlern orientierte Tatort-Format mit dem Melodram verbindet.
Wer war verantwortlich für die 13 Opfer einer Lebensmittelvergiftung. Der Deutschland-Chef des US-Lebensmittelkonzerns Corte hatte viele Feinde, und daraus ergibt sich ein Ansatzpunkt für einen guten Whodunnit. Spannend vor allem: Auf welch Weise ist Charlottes neue Liebe in diese Angelegenheit verstrickt? Mehr zum Film steht in der Rezension.
Handlung
Charlotte Lindholm und ihr Freund Tobias Endres schmieden Zukunftspläne: Seit über einem Jahr sind sie ein Paar, die Liebe ist groß und sie wollen endlich zusammenziehen. Einziges Problem: Charlotte hat sich noch nicht getraut, ihren Mitbewohner Martin Felser in ihre Pläne einzuweihen. Da wird Lindholm mit einem neuen Fall betraut: Der Geschäftsführer der Lebensmittelfirma CORTE GERMANY, Herwig Gruber, ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen.
Das LKA geht von einem Anschlag aus, denn Gruber war vor einiger Zeit in einen spektakulären Lebensmittelskandal verwickelt: CORTE GERMANY, deutscher Zweig eines amerikanischen Multikonzerns, hatte mit einem riesigem Werbeaufwand eine neue Spaghettisauce auf den Markt gebracht, die mit Pflanzenschutzmittel verseucht war. Zwar wurde Gruber in einem Prozess von allen Vorwürfen freigesprochen, doch für die Angehörigen der Opfer war er der Schuldige.
Charlottes Ermittlungen führen zu Lothar Pickert, dessen Tochter von der kontaminierten Sauce gegessen hat und seitdem schwerstbehindert ist. Pickert hatte Gruber bereits mehrfach bedroht. Als sie Kontakt zu der angesehenen Anwaltskanzlei Fisher & Bell aufnimmt, die damals die Interessen von CORTE vertreten und Gruber im Prozess verteidigt hatte, bekommt der Fall für Charlotte eine neue Dimension. Sie findet zu ihrer Überraschung heraus, dass ihr Freund Tobias als Anwalt bei Fisher & Bell gearbeitet hatte. Warum hat er ihr nichts davon erzählt? Hatte Tobias mit dem CORTE-Fall zu tun?
Kurz darauf gibt es ein weiteres Mordopfer: Liane Wagner. Die junge Frau war vor einiger Zeit Sekretärin bei Fisher & Bell und hatte damals eine heiße Liebesaffäre mit Tobias Endres. Tobias verhält sich in den Augen Charlottes zunehmend verdächtig. Im Verlauf ihrer Ermittlungen verdichten sich die Hinweise, dass Tobias Endres mit dem Skandal und den Mord an Liane zu tun hat. Kann Charlotte dem Mann, den sie liebt, noch vertrauen?
Rezension
- Wir sind im Jahr 2005, der Terrorismus ist allüberall (wie heute auch) und warum soll der Deutschland-Statthalter eines US-Konzerns nicht Opfer eines terroristischen Anschlages werden? Der Kommentar zu bösen Bush-Administration und ihrem Irak-Krieg, den Zweifeln an der richtigen Darstellung der US-Administration zu 9/11. Also können auch die US-Konzerne maximal böse dargestellt werden. So unrealistisch ist das nicht, auch wenn die Art, wie im Drehbuch Terrorgefahr angedacht wird, eher den deutschen Erfahrungen mit der RAF entspricht, die gezielt Manager, Lobbyisten und Politiker getötet hat. Die Haltung des Tatorts ist eindeutig: Terrorangst ist die Folge dessen, was die US-Politik und die der amerikanische Wirtschaftsimperialismus selbst heraufbeschwören. Für welchen US-Nahrungsmittelkonzern „Corte“ stehen soll, wissen wir nicht, aber es klingt schlimm nach Cortison und ein wenig nach „Kraft“.
- Die Gestaltung von „Atemnot“ ist ansprechend, besonders die musikalische Untermalung in spannenden oder bedrohlichen Szenen hat Suggestivkraft – und scheint einem Film entnommen, dessen Name uns leider nicht eingefallen ist. Aber etwas Hitchcock-Suspense kommt durchaus zur Entfaltung.
- Es war grundsätzlich eine gute Idee, Charlotte Lindholm emotional aufzubrechen, indem man eine weiche Seite an ihr zeigen wollte und mit „Atemnot“ haben wir jetzt auch ihren Schlüsseltatort gesehen. Wie „Schlaraffenland“ bei Klara Blum, „Direkt ins Herz“ bei Max Ballauf, „Tödliche Tarnung“ bei Torsten Lannert erklärt dieser Film viel über die Ermittlerfigur und kann für deren weitere Entwicklung verwendet werden.
- Das Paar Lindholm-Endres an sich ist spannend. Die norddeutsche Kante und der Mann mit dem Knuddelbärchen-Appeal. Ein netter Gegensatz, optisch, aber wie sieht es mit den langfristigen Perspektiven aus – bzw. hätte es ausgesehen, wenn Endres nicht in „Atemnot“ gestorben wäre? Die Kommunikation der beiden ist nicht gerade optimal. Das wirkt im Film sogar stimmig, weil eine Polizistin nicht auf Vertrauen, sondern auf Fakten gepolt ist, weil der Jetzt-Staatssekretär einen Bruch in der Biografie hat und ein Geheimnis, das er seiner neuen Partnerin sicher nicht sofort auf die Nase binden will. Dass er sich auch dann noch zurückhält, als er merkt, dass die jüngere Vergangenheit ihn einholen wird, ist emotional ebenfalls verständlich. Vertrauen muss eben auf beiden Seiten erst wachsen, und es wächst langsamer bei Menschen, die viel gesehen haben, wie eine Kommissarin, die sich ständig mit Morden befasst, und ein Wirtschaftsanwalt, und die viel nachdenken.
- Der Inszenierungsstil im Ganzen hat Stärken und Schwächen. Dramatische Momente werden gut herausgehoben und das Personaltableau ist gelungen, es gibt einige Spannungsfelder und Gegensatzpaare wie Endres und Felser, der Lover und der Möchtegern-Lover. Wie Lindholm und ihre Freundin mit der erkennbar anders geartete Persönlichkeit. Der Eisblock und der Lebemensch, überspitzt formuliert. Belinda Uzmann ist übrigens eine der ganz wenigen Personen im Lindholm-Universum, die aufzeigen, dass dieses Universum dann am besten funktioniert, wenn sie allein auftritt. Hier hat man mal eine erfrischend abweichende Variante gewählt, welche die Lindholm-Figur etwas eingängiger wirken lässt. Allerdings schrieb man für Lindholm ein Ende, das ihre Darstellerin wirklich fordert, und Lindholm ist ohnehin die Kommissarin, die bei aller Härte und Effizienz am häufigsten Tränen vergießen darf. Das, was wir über sie in der Rezension zu „Schwarzes Herz“ geschrieben haben und diese unterschwelligen Emotionen, die dann doch mal ausbrechen, warum sollte das nicht zusammengehen? Manches, was man sich verhaltensmäßig angewöhnt hat, ist eben auch ein Schutzpanzer. Zum Beispiel der Blick gegenüber dem Mann an der Rezeption von „Corte“. Es stand sicher nicht im Drehbuch, dass sie den so halb-somnambul-überheblich anschauen soll, das wirkt einfach echt, denn er ist nun einmal ein Kleindarsteller. Der Blick ist auch durch die Perspektive bedingt: Er sitzt, sie steht und hat dadurch den erhöhten Blickwinkel. Das ist es aber nicht allein. Der Film hält sich teilweise sehr genau an die „subjektive Kamera“, besonders in dem Moment, in dem der Rezeptionist auf den Parkplatz tritt und die Steadycam eingesetzt wird, merkt man das deutlich. Die oftmals wohltuende Genauigkeit wird allerdings durch einige Szenen ziemlich auf den Kopf gestellt: Auch bei 160 Km/h Aufprall auf eine Leitplanke, und egal in welchem Winkel das geschieht, fliegt ein 2-Tonnen-Jaguar nicht in 50 Metern Höhe über die Autobahn hinweg. Und, nein, in einer Fabrikhalle fallen keine Herbstblätter, auch wenn’s herrlich zur melodramatischen Szene passt. Aber entweder bindet man surreale Elemente in den Stil ein und lässt das frühzeitig erkennen, oder man tut es gar nicht, aber sie am Ende auszupacken und damit „Kitsch!“ zu evozieren, geht gar nicht. Übrigens hat man diesbezüglich nichts dazugelernt, im Lindholm-Tatort „Spielverderber“ (Rezension) ist das Ende auch wieder so überzogen.
- Die Handlung ist nicht besonders glaubwürdig, aber möglich. Der subjektive Eindruck bezüglich der Stimmigkeit leidet unter manchmal schwachen Dialogen. Da gibt es Sätze, die folgen aufeinander und man fragt sich, wie das denn nun? Die Handlung als solche wird dadurch gar nicht qualifiziert und auch nicht beeinträchtigt, dennoch beeinflusst die Underperformance der Sprache das Gefühl der Handlung gegenüber. Der „Nofretete“-Gag macht es nicht besser, denn er ist nicht nur diskriminierend, sondern zündet nicht so richtig, weil Sprachwitz gut getimt sein muss, und man merkt in der Szene auch, dass Linholm bzw. deren Darstellerin kein Komiker-Gen hat.
- Grundsätzlich wollen wir Lindholms Verlust, den sie in „Atemnot“ erleidet, eben nicht als „Schlüsselerlebnis“ ansehen, wie wir das bei einigen anderen Tatortkommissaren anhand ähnlicher Szenarien getan haben. Zum einen, weil die Figur damit nicht aus der Vergangenheit erklärt wird, wie etwa Torsten Lannert im angesprochenen Tatort oder sofort zu Beginn ihrer Tätigkeit beim Tatort, wie Klara Blum, a. a. O., oder wie Max Ballauf, dessen Einsamer-Wolf-Aura sich nach dem Tod der Geliebten verstärkt – Lindholm wirkt als Charakter zu statisch. Nur im erwähnten „Schwarzes Herz“, also dem Nachfolger von „Atemnot“, da wird noch einmal Bezug auf den Tatort 611 genommen und einiges in ihrem Verhalten mit dem Verlusttrauma erklärt. Aber ist das okay, vor allem, wenn es um Jahre und Jahre einseitiger Dominanz über alles führt, die nun folgen werden? Die Herleitung ist nicht schlüssig.
Finale
„Atemnot“ ist ein ansehnlicher und im Ganzen gut gespielter Tatort, sicher einer der besten unter den derzeit 23 Lindholm-Fällen. Dass man ziemlich auf die Tube gedrückt hat und wir trotzdem emotional nicht recht mitgehen konnten, liegt wohl auch in unserem mittlerweile besonderen, negativen Verhältnis zur Lindholm-Figur begründet. Aus der Nummer kommen wir nicht mehr so leicht raus – und wollen es auch nicht, denn eine Position nach so viel Befassung mit dem Thema Tatort, einschießend die überwiegende Mehrzahl aller Lindholm-Fälle, ist meist eine fundierte – und „Atemnot“ tut wenig, um ein grundsätzliches Überdenken derselben anzuregen.
Dieses Mal ist der Wirtschaftskrimi aber wirklich einer, das haben wir positiv vermerkt, und endet nicht damit, dass der Mörder getreu der Statistik, dass 90 % aller Tötungsdelikte aus dem Opferumfeld heraus begangen werden, aus genau jenem stammt.
Anmerkung anlässlich der Veröffentlichung des Textes im Jahr 2024: Den Text haben wir nur punktuell geändert, um die aktuelle Optik der Crimetime-Beiträge zu erreichen, ansonsten entspricht er dem Entwurf aus dem Jahr 2015.
7,5/10
© 2024 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2015)
Kursiv und tabellarisch: Wikipedia
| Regie | Thomas Jauch |
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| Drehbuch | |
| Produktion |
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| Musik | Jörg Lemberg |
| Kamera | Jörg Widmer |
| Schnitt | Claudia Wontorra |
| Premiere | 23. Okt. 2005 auf Das Erste |
| Besetzung | |
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