Lion – Der lange Weg nach Hause (Lion, USA / AU / GB 2016) #Filmfest 1153

Auch ein Löwe 

Lion – Der lange Weg nach Hause ist ein US-amerikanisches Filmdrama des Regisseurs Garth Davis aus dem Jahr 2016. Der Film feierte im Rahmen des Toronto International Film Festivals 2016 seine Premiere und kam am 25. November 2016 in die US-amerikanischen Kinos. Der Film basiert auf dem Roman Lion: Der lange Weg nach Hause von Saroo Brierley aus dem Jahr 2014, in dem der Autor seine eigene Lebensgeschichte niederschrieb.

Im Rahmen der Oscarverleihung 2017 erhielt Lion in sechs Kategorien eine Nominierung, darunter als Bester Film und für das Beste adaptierte Drehbuch.

Die Überraschung kam nach dem Anschauen: Die Recherche brachte zutage, dass „Lion“ ein viel größerer Film ist, als ich angenommen hatte, kein Indie-Kino oder dergleichen, sondern dazu bestimmt, viele internationale Auszeichnungen zu gewinnen. Angesichts der Besetzung mit Nicole Kidman und Dev Patel, der durch „Slumdog Millionär“ berühmt wurde und der Produktion durch die Weinstein Company hatte ich allerdings schon nach dem Vorspann das Gefühl, dass es sich um ein ambitioniertes Werk handelt. Dieser Einstieg ist vor allem der Tatsache zu verdanken, dass ich von „Lion“ zuvor nicht gehört hatte, obwohl ich die 2017er Oscars, die hauptsächlich an „Moonlight“,  „La La Land“ und „Manchester by the Sea“ gingen, ziemlich eng verfolgt hatte. „La La Land“ wird einer der nächsten Filme sein, die ich rezensieren werde. Ist es nur frustrierend oder auch logisch, dass „Lion“, der Film mit den meisten Oscar-Nominierungen des Jahres, dann gar keine Auszeichnung erhielt? Wir klären das in der –> Rezension.

Handlung (1)

Der fünfjährige Junge Saroo lebt in einem kleinen Dorf bei Khandwa in Indien mit seiner Mutter, seinem älteren Bruder und einer kleineren Schwester. Eines Tages begleitet er seinen großen Bruder Guddu zur Arbeit und soll eigentlich am Bahnhof auf ihn warten, doch als Guddu nicht auftaucht und auch seine Suche nach ihm erfolglos verläuft, klettert der Junge in einen leeren Zug, um dort auf ihn zu warten. Saroo schläft jedoch ein, und als er aufwacht, ist der Zug unterwegs in die 1600 Kilometer entfernte Millionenmetropole Kalkutta.

Als er dort ankommt, kann er sich nicht verständlich machen, da die Menschen bengalisch sprechen, er aber nur Hindi. Da er zudem seinen Familiennamen nicht kennt und auch den Namen seines Wohnortes falsch ausspricht, weiß er nicht, wie er wieder zurückkommen soll. Saroo muss einige Wochen auf der Straße leben, bis er schließlich von der Polizei in einem Waisenhaus untergebracht und bald von einem australischen Ehepaar aufgenommen und adoptiert wird. Sue und John Brierley bieten dem Jungen in Tasmanien, wo Saroo groß wird, ein liebevolles Zuhause.

Durch Jalebi, eine indische Süßigkeit, wird Saroo an seine frühere Heimat erinnert

Als Erwachsener ist Saroo äußerst ehrgeizig und befindet sich in einer Ausbildung zum Hotelmanager. Bald beginnt er sich allerdings mit der Frage seiner Herkunft zu beschäftigen, und auf einer Party durch eine indische Süßigkeit namens Jalebi an seine Kindheit in Indien erinnert, wird die Sehnsucht nach seiner leiblichen Familie zunehmend größer. Freunde erzählen ihm von Google Earth, einer neuen Technologie, mit der Saroo im Jahr 2008 beginnt, Indien nach dem Bahnhof abzusuchen, an dem er seinen Bruder verloren hatte. Weil er ungefähr weiß, wie lange er im Zug saß, und im Internet recherchiert, wie schnell dieser fuhr, ist er in der Lage, einen Suchradius zu berechnen, in dem er seine alte Heimat vermutet. Als er sich eines Abends nach jahrelanger Suche auf Google Earth außerhalb des ursprünglichen Suchgebietes die Landschaft ansieht, kommt ihm diese bekannt vor. Er folgt einer Bahnlinie und erkennt einen Wasserturm an einem Bahnhof wieder. Von dort folgt er dem Weg, den er als Kind heimgelaufen war, und findet schließlich seinen Heimatort wieder.

Er beschließt, nach Indien zu fliegen, ohne zu wissen, ob seine Mutter, die den Lebensunterhalt mit dem Schleppen von Steinen verdiente, und sein Bruder noch leben. Seiner Adoptivmutter erzählt er davon erst kurz vorher; entgegen seiner Erwartung zeigt sie Verständnis. Seine Freundin Lucy versteht anfänglich nicht, warum er ein solches Interesse daran hat, seine leiblichen Verwandten zu finden. Saroo findet tatsächlich seine Mutter und seine Schwester, sein Bruder ist aber in jener Nacht von einem Zug erfasst und getötet worden. Zudem erfährt er, dass er seinen Namen immer falsch ausgesprochen hat, denn eigentlich heißt er „Sheru“, was „Löwe“ bedeutet. Am Ende zeigen dokumentarische Aufnahmen, dass ein Jahr später auch seine Adoptiveltern Saroos indische Heimat besuchen.

Rezension

Die IMDb-Nutzer:innen geben dem Film derzeit durchschnittlich 8/10, ginge es nach ihnen, wäre  „Lion“ auf jeden Fall oscar-würdig und an der Schwelle zur Aufnahme in die Top 250 aller Zeiten. Er ist aber nie darin enthalten gewesen und unterfällt daher nicht unserem Projekt, alle bisher ca. 970 Filme zu sichten, für die das gilt. Auch „La La Land“, der bei 14 Nominierungen sechs Oscars erhielt, kommt auf 8/10, alle anderen Filme liegen schwächer, auch „Moonlight“, der Gewinner in der Kategorie „Bester Film“, der nur auf 7,4/10 kommt. Aber es gibt ein weiteres Kriterium: Während die letztlichen Sieger echte Kritikerfilme sind und einen Metacore von 94 (La La Land) und 99 haben (Moonlight), erreicht „Lion“ nur 69/100, was in der Tat für einen Film enttäuschend ist, der bestimmt dazu war, Preise zu erringen. 

Was also gefiel den Profis, anders als den Filmfans, nicht? Es gibt keine wirklich negatie Kritik, die im Metascore gelistet wäre, aber vor allem zwei Punkte bemängeln die Kritiker: Der zweite Teil sei erheblich weniger beeindruckend als der erste, der in Saroos Kindheit spielt und von dessen jungem Darsteller viel abverlangt und der Film sei genau das, zu sehr auf Preise ausgerichtet, weswegen er an einigen Stellen zu gestylt oder zu hochfliegend wirke. 

Man muss sich ohnehin in Kinostücke, die bittere Armut zeigen, erst einfinden, weil sie unangenehm sind, egal, ob man selbst arm ist oder ob man sich, wie Saroo später, mit eigenen Privilegien konfrontiert sieht, die man nicht „verdient“ hat, sondern die durch Umstände der Geburt bestimmt sind. Saroo ist ein herausragendes Beispiel für einen kleinen Jungen, der im Grunde durch einen Fehler, nämlich in einem stehenden Zug einzuschlafen, ein besonderes Schicksal erfährt, das viele Millionen indischer Kinder nicht erträumen dürfen. Er kommt in eine fremde Stadt, kann seine Heimat nicht identifizieren und wird von einem australischen Mittelstands-Ehepaar adoptiert, das ihm alle Möglichkeiten öffnet, sein Talent fördert, eine Karriere für ihn vorbereitet. Der echte Saroo ist aber nicht Hotelmanager geworden, sondern arbeitet heute im Betrieb seiner Adoptiveltern, wobei der junge Mann im Film ja auch kündigt, während er auf der Suche nach seiner Mutter, seiner Identität ist. 

Der zweite Teil entspricht doch wieder Hollywoodvorstellungen, auch wenn sie durch den realen Verlauf der Dinge als die natürliche Form der Handlungsanlage erscheinen mögen. Damit der Film wenigstens die heute übliche Überlänge vermeidet, gibt es teilweise sehr große Zeitsprünge, vor allem jenen, in dem 20 Jahre ausgelassen werden, muss man sich erst einrichten. So etwas ist im Film nicht ungewöhnlich, aber es fehlt eben doch die gesamte Entwicklung, es fehlen die Stolpersteine, die Kinder mit Traumata erst überwinden müssen, bevor sie so nett werden können wie Saroo. Sie werden gezeigt anhand seines Stiefbruders Mantosh, der sich zum schwarzen Schaf der Familie entwickelt. Auch er wurde aus Indien „herausgeholt“ und von den Brierleys nach Australien adoptiert. Der weibliche Teil des Ehepaares wird sinnigerweise von der Australierin Nicole Kidman verkörpert. 

Aus einem düsteren Sozialdrama im ersten Teil wird eine retrospektiv wirkende Sinnsuche im zweiten, das also ist der Bruch, den viele in dem Film sehen. Mir hat hier ausgerechnet das Epische etwas gefehlt, das ich sonst bei Filmen bemängele, die keinen geeigneten Stoff für 150 oder 180 Minuten haben. Hier wäre dieser Stoff aber vorhanden gewesen, sofern das Buch, das als Vorlage dient, die lange Zeit in Australien nicht wirklich so knapp behandelt, dass ein Zeitsprung von 20 Jahren bei der Umsetzung in einen Kinofilm geradezu auf der Hand liegt. Dass die Suche nach der Heimat so lange nicht stattfindet und dann zum dominierenden Lebensthema von Saroo wird, nur, weil er an einem Gericht gerochen hat, das ihn an seine Kindheit erinnert, ist hoffentlich eine Verkürzung, die dem Medium Film geschuldet ist, das so viel kann, aber nicht eine außergewöhnliche Biografie an einem einzigen Abend exkat nachzeichnen und auch solche Vorgänge wie die plötzlich einsetzende Suche nach der Herkunft plausibel machen, wenn sie sich zuvor  nicht ein wenig ankündigen. Google Earth spielt dabei eine tragende und natürlich positive Rolle, übrigens. Erstaunlich immer wieder, das offene Product Placement in US-Filmen. Klar wirken sie dadurch auf einer ersten Ebene realistischer, als wenn man alles umständlich durch Umbenennung verklauseln muss, was unser Online-Leben ausmacht. Aber eben auch unkritisch.

Und damit sind wir bei dem Thema, das ich gerne vertieft gesehen hätte: Die große Armut in einem Riesenland wie Indien, die sich trotz seines starken Wirtschaftswachstums für weite Teile der Bevölkerung nicht verändert hat und die Malaise wie auch die Gunst eines Schicksals, das besonders wird und dadurch tatsächlich an die Welt von Charles Dickens erinnert. Offenbar hat einigen Betrachter:innen auch der Kampf um die neue, bessere Welt gefehlt und die Gefährdung der gerade in ihr Angekommenen, die Dickens‘ Werke so packend, so überaus dramatisch wirken lässt. Das ist der perfekte Stoff fürs Kino und wurde logischerweise mehrfach verfilmt. Insbesondere „Oliver Twist“ ruft geradezu nach großen Regisseuren, die große Filme daraus machen, wie etwa David Lean in der Verfilmung von 1948, die heute noch als maßgeblich gilt. Diese Tiefe, diesen Impact hat „Lion“ nicht, denn es ist von vornherein nahezu ausgeschlossen, dass Saroo nun in die Armut seiner Vorfahren zurückkehrt. Im Gegenteil, es wird ein harmonisches Ende erreicht. Wiederfinden ja, aber Liebe zu den Adoptiveltern ebenfalls ja und be ihnen bleiben. Das ist alles sehr nachvollziehbar, sehr ehrlich wohl auch, aber eben kein perfekter Filmstoff und Hollywood ist eben immer dann am besten, wenn es seinem eigenen Stern folgen kann und nicht in den Bereich der Sozial- und Milieustuden übertritt, der viel eher europäisches oder auch asiatisches Kino ist, das diesen Konventionen nicht folgen muss. 

Finale

Trotzdem ist „Lion“ ein guter Film, der dazu anregt, über die eigene Biografie nachzudenken. Was darin hat zu bestimmen Ergebnissen geführt? Ich hätte zum Beispiel keinen Spaß am Schreiben, wenn diese Fähigkeit nicht vom Elternhaus gefördert worden wäre und wäre vielleicht nicht so fasziniert vom Medium Film, wenn in ebenjenem Elternhaus nicht mit Film und Fernsehen sehr selektiv und auch restriktiv verfahren worden wäre. Das ist keine soziale Betrachtung, aber wir haben auf der Welt weit mehr Talente, die verlorengehen, als sich entfalten dürfen, weil es keine Gerechtigkeit qua Geburt gibt, keine Chancengleichheit, aber oftmals auch nicht das Miteinander, das dafür sorgt, dass Menschen wirklich frei sind. Im Grunde ist „Lion“ also durchaus kritisch, er zeigt nur den in der Tat langen Weg von dem kleinen Jungen aus Indien zu einem Studenten westlicher Prägung mit einer westlichen Freundin und westlichen Eltern nicht, sondern nur das Ergebnis. Damit stellt er sich auch gegen Rassismus, denn was den Menschen macht, das ist, wo und wie er lebt.

Ganz stimmt das nicht und ich mag es nicht, wenn behauptet wird, Kinder würden quasi von Erwachsenen böse gemacht. Wir alle tragen bereits mit unserm Eintritt in die Welt ganz unterschiedliche Eigenschaften in uns, sonst hätte es u. a. keine Evolution gegeben, die auch einen gewissen, harten Überlebenswillen von uns verlangte. Doch ich bin auch der Ansicht, dass die Umwelt diese Eigenschaften steuern und die besten von ihnen zur Entfaltung bringen und den Humanismus in uns stärken kann. Oder eben nicht. Wie Saroo von den Brierdleys erzogen wird, kann man erahnen, im Grunde ist alles ganz typisch, wenn man von den Problemen mit dem nicht blutsverwandten Bruder absieht. Ist er von Geburt an anders gewesen oder waren seine Traumata zu stark, um den Weg in den Mainstream beschreiten zu können? Vermutlich eher Letzteres.

Berührt hat mich „Lion“ erst ganz am Ende, da sieht Saroo seine Mutter wieder, nach mehr als 25 Jahren. Wenn eine solche Szene nicht emotionalisiert, ist sie falsch gefilmt oder der Zuschauer ist ein Fisch. Der erste Teil war aber zu dunkel und gleichzeitig zu fremd und spannend, um Traurigkeit aufkommen zu lassen oder große Freude, man folgt einfach dem Geschehen, das nicht durch herausragend getriebene Charaktere, sondern durch den Beginn einer langen Such gekennzeichnet ist. Ob die letztlich oscarprämierten Filme besser sind, werden wir noch sehen, ich kenne bisher keinen der drei Hauptgewinner. 

77/100

© 2024 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2021)

(1), kursiv und tabellarisch: Wikipedia

Regie

Garth Davis

Drehbuch

Luke Davies

Produktion

Emile Sherman,
Iain Canning,
Angie Fielder

Musik

Volker Bertelmann,
Dustin O’Halloran

Kamera

Greig Fraser

Schnitt

Alexandre de Franceschi

Besetzung

 


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