Filmfest 1154 Cinema
„Rebecca“ mit Pilzen
Der seidene Faden (Originaltitel: Phantom Thread) ist ein Spielfilm von Paul Thomas Anderson aus dem Jahr 2017. Das Drama basiert auf einem Originaldrehbuch des Regisseurs und erzählt von einem Londoner Modeschöpfer (dargestellt von Daniel Day-Lewis) der 1950er-Jahre, der die Bekanntschaft mit einer jungen, ausländischen Kellnerin (Vicky Krieps) macht. Der eingefleischte Junggeselle holt sie, wie viele Frauen zuvor, als Muse in sein Haus, wo sie aber zunehmend ihren Platz zu behaupten beginnt.
Was tun Sie, wenn die Zähmung des Widerspenstigen partout nicht gelingen mag? „Der seidene Faden“ verrät es Ihnen. Wir verraten in der Rezension das eine oder andere über „Phantom Thread“, wie der Film im Original heißt.
Handlung (1)
In London in der Nachkriegszeit der 1950er Jahre. Der bekannte Schneider Reynolds Woodcock und seine Schwester Cyril betreiben gemeinsam The House of Woodcock. Reynolds ist der übersensible Kreative, Cyril organisiert den Betrieb und hält alle Fäden in der Hand. The House of Woodcock fertigt Kleider für die Mitglieder der High Society und der königlichen Familie. Zu den Kunden gehören reiche Erbinnen, Filmstars und andere Prominente. Die Frauen kommen und gehen durch das Leben von Reynolds, die eine oder andere lebt in seinem Haushalt. Sie inspirieren den eingefleischten Junggesellen, fördern seine Kreativität so lange, bis sie ihn langweilen. Hat er genug von ihnen, sorgt seine Schwester Cyril dafür, dass sie sein Haus verlassen.
Bei einem Restaurantbesuch macht er die Bekanntschaft der jungen Kellnerin Alma, die er zum Essen einlädt. Nach einem Abendessen in einem Feinschmeckerrestaurant am Meer fahren sie mit seinem Sportwagen nach London zurück. Er lädt sie zu sich ein, bittet sie, seine neueste Schöpfung, ein Abendkleid, anzuziehen und bittet sie dann, sie „vermessen“ zu dürfen, wobei der Akt des „Vermessens“ zunehmend ein erotisch-intimes Flair annimmt. Bald zieht sie in sein Haus ein, wird zur Muse, Mitarbeiterin in seinem Atelier. Nach dem großen Erfolg seiner neuen Kollektion packt er Alma voller Euphorie bei der Hand und stürmt mit ihr ins Schlafzimmer. Alma wird seine Geliebte.
Allerdings stößt sich Alma bald an all den Regeln, eisernen Gewohnheiten und Hyperempfindlichkeiten, die Reynolds‘ tägliches Leben bestimmen. So stur wie er sich an seine Regeln klammert, ebenso stur bringt sie ebendiese Regeln ins Wackeln, ohne jedoch, das ist das Ziel ihrer Aktionen, zu ihm wirklich vorzudringen. Sie bleibt in seinem Leben außen vor. Sein kontrolliertes und durchgeplantes Leben gerät aber allmählich aus den Fugen. Reynolds erhält den Auftrag, das Brautkleid für eine belgische Prinzessin zu schneidern, und das ganze Atelier gerät in Aufregung. Reynolds empfängt die Prinzessin, für die er schon das Taufkleid genäht hat, mit größter Zuvorkommenheit. Alma beobachtet die beiden, in ihr keimt Eifersucht auf.
Der Kampf zwischen den beiden kulminiert, als sie ihn, trotz der ernsten Warnung Cyrils, das Ganze zu unterlassen, mit einem selbstgekochten Abendessen „überrascht“. Diese Überraschung bringt ihn völlig aus der Fassung. In der folgenden Auseinandersetzung schlägt er die Trennung vor. Wütend verlässt sie den Raum, bleibt jedoch im Haus und ordnet sich scheinbar unter. Bei einem Waldspaziergang sammelt sie Pilze, und vergiftet seinen Frühstückstee mit getrockneten Pilzen. Reynolds geht in das Atelier, um letzte Hand an das Kleid der Prinzessin, das auf einer Kleiderpuppe präsentiert wird, anzulegen. Ihm wird schwindelig, er taumelt und stürzt zusammen mit dem Brautkleid zu Boden. Das Kleid ist ruiniert und Reynolds unfähig sich zu rühren. In einer Nachtschicht gelingt es den Mitarbeiterinnen aber, das Kleid neu zu schneidern. Reynolds wird schwer krank, fiebert, weigert sich aber, einen Arzt zuzulassen, er duldet nur Alma um sich. Sie pflegt ihn hingebungsvoll, er wird langsam wieder gesund und kann wieder arbeiten. Er macht Alma einen Heiratsantrag, den sie annimmt. Beide heiraten und scheinen sehr glücklich miteinander. Damit ist der Machtkampf zwischen den beiden aber nicht beendet. (…)
Rezension
Im Rahmen der Oscarverleihung 2018 wurde Der seidene Faden in insgesamt sechs Kategorien nominiert, darunter als bester Film, Anderson für die beste Regie und Day-Lewis als bester Hauptdarsteller. Gewinnen konnte der Film in der Kategorie Bestes Kostümdesign.
Und das Ende verraten wir hier auch nicht, aber es hat geradezu etwas Faustisches. Mir kam beim Anschauen des Films eine Idee: Endlich eine Neuverfilmung von „Dr. Jekyll and Mr. Hyde“ zu wagen, die sich mit der des Jahres 1931 messen kann, in der Fredric March in der Doppelrolle brilliert. Aber dieses Mal würde ich erstmals zwei verschiedene Schauspieler einsetzen. Daniel Day-Lewis als Dr. Jekyll und Christoph Waltz als Mr. Hyde. Ich weiß nicht, ob die beiden größenmäßig zueinander passen, aber für die CGI ist das ja ein heutzutage ein Klacks, sie passend zu machen. Der große Vorzug: Man bräuchte kaum Maske und könnte das Ego und das Alter Ego tatsächlich anhand von zwei Männern ausleuchten, die beide durch herausragende Akteure verkörpert werden. Stellenweise ist Day-Lews in „Der seidene Faden“ dem Waltz im Ausdruck in der Tat recht ähnlich, verlässt nicht die eher edle Seite, entgleist nicht vollkommen, geht aber vor allem in dem Schluss, den wir hier nicht verraten, in eine dämonische Rollenauslegung über, weil er alles durchschaut und trotzdem das tut, was er tut.
Vielleicht ist Daniel Day-Lews der beste Schauspieler seiner Generation, die Zahl der Preise, die er gewinnen konnte, legt es jedenfalls nah. Kein anderer männlicher Darsteller gewann drei Hauptrollen-Oscars und er könnte sogar mit Katharine Hepburn gleichziehen, die als einzige Darstellerin vier Hauptrollen-Trophäen mitnehmen konnte. Frances McDormand ist die einzige lebende Schauspielerin, die das vielleicht auch erreichen könnte, sie hat, wie Day-Lewis, bisher drei Hauptrollen-Oscars gewonnen. Wenn also Day-Lewis in einem Film mitmacht, ist immer hochklassiges Spiel geboten und wir werden in „Der seidene Faden“ nicht eine Sekunde lang enttäuscht. Aber trotzdem habe zumindest ich den Akteur hinter der Figur nicht vergessen können, das kommt davon, wenn man Rollen so sehr den eigenen Stempel aufdrückt und so hohe Erwartungen weckt.
Das weibliche Gegenstück in Sachen Hauptrolle heißt Vicky Krieps, kommt aus Luxemburg und war eine komplette Newcomerin, als sie mit diesem Superstar geteamt wurde. Allein durch diese Konstellation wirkt der Kampf eines Nobodys, einer schlichten Kellnerin, um Anerkennung und Liebe so echt. In der deutschen Synchronisierung kommt gar nicht raus, dass sie auch eine Ausländerin spielt, lediglich ist ihre Tonlage sehr dezent und ihre Sätze sind einfach gehalten. Die dritte Person im Bunde ist die Schwester des Damenschneiders, die bisher sein Leben organisiert und dominiert hat und zu allem Überfluss hat Alma, die Rollenfigur von Krieps, auch noch mit der verstorbenen Mutter des Geliebten und späteren Gatten zu kämpfen, die offenbar seinen Wunsch entfacht hat, sein Leben lang nichts anderes zu tun, als Frauen in wunderschöne Kleider zu stecken. Es gibt Schlimmeres, was Mütter anrichten können, trotzdem ist es ein Komplex, denn Reynolds Woodcook ist nicht fähig, echte Liebe zu empfinden. Bis Alma kommt und ihn bekocht. Halten Sie kurz inne. An welchen berühmten Film erinnert Sie das beschriebene Szenario, vor allem, wenn man die Mutter durch eine erste Ehefrau ersetzt, die verstorben ist?
An Hitchcocks „Rebecca“ natürlich. Und „Der seidene Faden“ funktioniert auch ähnlich gut. Mit einem zeitgemäßen Unterschied natürlich: Die Frau bleibt nicht nur treu an der Seite des Mannes, der unter Druck steht, sondern erobert aktiv seine Welt. Sie passt sich zwar ebenfalls an, wie Rebeccas Nachfolgerin in Hitchcocks Klassiker, aber subtil unterläuft sie den Code, der im Hause gilt und ganz so düster wie die Haushälterin Miss Danvers ist die Schwester von Reynolds nicht, sondern zollt der Konkurrentin am Ende Respekt. Außerdem hat Reynolds keinen Mord auf dem Gewissen, sondern ist lediglich eine harte Nuss, die es zu knacken gilt.
Anhand von „Rebecca“ lässt sich aber auch gut über die Entwicklung des Kinos nachdenken. Während dieses Meisterwerk aus dem Jahr 1940 durchaus Fragen an das Frauenbild stellt, das darin gezeigt wird und Joan Fontaine „die zweite Mrs. DeWinter“ so spielt, dass man sie am liebsten in den Arm nehmen oder niederknieen möchte, wirkt Vicky Krieps in „Der seidene Faden“ nicht nur etwas robuster, weil ihre Optik eine andere ist, sondern evoziert auch nicht das Gefühl, ihr beispringen und helfen zu wollen. Man ahnt von Beginn an, dass sie sich selbst wird helfen können, obwohl auch sie in ein für sie überraschendes Szenario eintritt, im Wohn- und Geschäftshaus von Reynolds Woodcook. Es ist eine Welt, die sie nicht kennt. Während wir bei „Rebecca“ sachte kritisiert haben, dass Joan Fontaine für eine Frau, die als Gesellschafterin durch die Welt gereist ist und alle mondänen Plätze kennt, doch etwas schlicht wirkt, als es um Dinge der Etikette usw. geht, wirkt das Vorgehen von Alma sehr austariert, immer glaubwürdig, nie über- oder untertrieben. Im Grunde hat sie die auch im Film selbst die schwierigste Aufgabe, auch das wieder eine Ähnlichkeit mit dem Hitchcock-Klassiker, der von Joan Fontaine mehr verlangt hat als von Laurence Olivier als DeWinter.
Die Figurenanlage von Alma ist also moderner, aber man könnte sich noch darüber Gedanken machen, wie es sich mit dem Erobern des Mannes verhält. Ich meine, es sind schon so viele Filme gedreht worden, auch vor der Emanzipation, in denen es genau umgekehrt läuft und Männer um eine Frau kämpfen, dass man das mal beiseitelassen und die Vorzüge dieser Neuinterpretation von „Rebecca“ genießen kann. Am Ende herrscht sowieso etwas wie Gleichberechtigung, und die Art, auf welche sich Alma ihren Liebsten erobert, ist nicht die sanfteste, die man sich vorstellen kann. Für einen Moment war ich mir nicht sicher, ob Woodcook Bescheid weiß, aber dann doch. Einer der vielen Vorzüge des Films ist, dass er zwar ein wenig Raum für die innere Ausgestaltung lässt, für Assoziationen, für Vergleiche, wie eben jenen mit „Rebecca“, aber er treibt keinen Schabernack, auch nicht im Sinne Hitchcocks, sondern baut den Suspense ganz aus der Lage heraus auf und spannend sind die Figuren und was sie miteinander anstellen werden dennoch, weil sie nicht komplett berechenbar sind. Sie verhalten sich immer so, dass man es ihnen abnimmt, aber der Spielraum ist groß genug, um jedes Ende, auch ein Scheitern der Beziehung oder gar ein tödliches als eine nicht allzu fern liegende Variante erscheinen zu lassen.
Einen Oscar hat „Der seidene Faden“ dann doch nur für die Kostüme bekommen, aber die sind, wie die Dekors, großes Kino. Selbst Filme, die sich mit der Haute Couture befassen, lassen selten zu, dass die Sinnlichkeit des Einkleidens von Menschen in erlesene Stoffe so an uns vermittelt wird wie in „Der seidene Faden“. Es ist kein Job, sondern eine Berufung, der Reynolds nachgeht, das wird von Beginn an klar. Sicher ist das ein Klischee, das allen Couturiers anhängt, dass sie auch Freaks sind und exzentrisch, aber Letzteres zeigt sich bei Woodcook nur in seiner strikten Routine, nicht im Auftreten in der Öffentlichkeit. Wir sind jedoch in den 1950ern, als die Kleider unfassbar elegant waren und diejenigen, die sie schufen, keine schrillen Vögel, sondern vermutlich so distinguiert, wie man es bei Woodcook sieht und vielleicht sogar noch mehr, denn der Film erlaubt sich im Verlauf aus Gründen der Dramaturgie zunehmend Durchbrechungen dieses Musters. Es soll sich ja ein Wandel einstellen und der bedingt auch, dass die strenge Form sich allmählich auflöst.
Finale
Durch Alma wird Reynolds auch von seinem Kindheitskokon, der über alles geliebten Mutter, dem Trauma ihres frühen Todes, befreit und ist endlich frei für eine neue Bindung, die nicht aus der Vergangenheit emporgewachsen ist und diese Vergangenheit nicht aufbrechen kann, nicht aufbrechen mag, nämlich der zu seiner Schwester. Ein Platz muss geräumt werden und im Grunde darf niemand hoffen, für immer ein Verhältnis auf einem Defizit aufbauen zu können, das war in „Rebecca“ so und wir sehen es hier wieder.
Das neue, ruhig und beharrlich auf das Alte einwirkend und es aushöhlend, bis auf eine bezaubernde Szene, in der Alma die gediegenen Worte fehlen und sie wütend wird, im Original vermutlich mit Akzent, so dass klar wird, dass ihr Wortschatz nicht ausreicht, um so scharf zu sein, wie sie gerne wäre, siegt, wie es natürlich und positiv ist, denn wen könnte sich Reynolds Besseres an seiner Seite wünschen als die Frau, die er lieber als alle anderen einkleidet, obwohl sie nicht über eine perfekte Figur nach den Maßstäben der 1950er verfügt. Ihre erste große Szene hat sie in der Öffentlichkeit, als sie sich ein Kleid zurückgeben lässt, das auf eine unwürdige Weise getragen wird bzw. in einer unwürdigen Situation von einer demgemäß unwürdigen Kundin. Das reicht aber nicht aus, um den verknöcherten Schneider zu überzeugen und sie verfällt auf einen gefährlichen Weg, eines Thrillers würdig.
„Der seidene Faden“ ist zum Genießen, wenn nicht zum Schwelgen. Das Manierierte gehört dazu, wenn die 1950er auferstehen, alles andere hätte nicht diese spannungsgeladene Atmosphäre aus Kunst des Scheins, der Kleider, die Leute machen oder auch gemachten Leuten wie etwa Adeligen gut stehen und unbewältigten Konflikten geschaffen, mit denen wir ins Haus Woodcook eingeführt werden. Das Dreieck oder Viereck, inklusive schwer zu unterdrückender Eifersucht, funktioniert ähnlich gut wie in Rebecca, die Spannung steigt und berührende Momente gibt es auch. „Rebecca“ hat tatsächlich den Oscar für den besten Film des Jahres gewonnen, weil er ein Meilenstein in Sachen mystisches Thriller-Drama war, der erste Film, der all diese Elemente gekonnt verwoben hat. Eine solche Position kann heute ein Kinostück nicht mehr einnehmen und weise hat man sich bei „Der seidene Faden“ ein wenig zurückgenommen, was die dramatische Wucht angeht und sich auf unzählige, manchmal auch witzige Details konzentriert. Ein Must-See für Fans des feinen Spiels und der feinen Mode und natürlich für alle, die eine gelungene Reminiszenz an Alfred Hitchcocks Meisterwerke schätzen. In diesem Fall gefällt mir übrigens der deutsche Titel ausnahmsweise besser als das Original, weil er konkreter und beziehungsreicher ist.
86/100
© 2021 Der Wahlberliner, Thomas Hocke
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