Mae West, die verruchte Blonde (Mae West: Dirty Blonde, USA 2020/2021) #Filmfest 1160

Filmfest 1160 Dokumentation

Mae West (* 17. August 1893 in Brooklyn, New York; † 22. November 1980 in Hollywood; eigentlich Mary Jane West) war eine US-amerikanische Filmschauspielerin, Sängerin und Autorin, die vor allem im Hollywood der 1930er-Jahre zu den bestbezahlten Filmstars zählte. Als Inbegriff der Femme fatale brach sie etliche sexuelle Tabus, indem sie beruflich wie auch privat die Freiheit der Liebe und Gleichheit der Geschlechter proklamierte. Bei einer Umfrage des American Film Institute aus dem Jahr 1999 wurde sie auf Platz 15 der größten weiblichen Filmstars gewählt.

Mae West war einer der ersten Hollywoodstars, über die ich etwas mehr wusste. Weil ich über sie gelesen hatte. Nicht wegen ihrer Filme. „Die Unsterblichen des Kinos, Band 1 – Stummfilmzeit und die goldenen 30er Jahre“ (Heinzlmeier/ Schulz/Witte). Das war etwa Mitte der 1980er. Und es ging natürlich um die goldenen 1930er. Die 30er Jahre des 21. Jahrhunderts werden aller Voraussicht nach eher schwierig werden. Das waren die 1930er in Deutschland natürlich auch, aber Hollywood blühte und eine der schillerndsten Blüten war ganz sicher Mae West. Und damit zu einer Premiere. Wenigstens kenne ich durch die Dokumentation Ausschnitte aus einigen ihrer Filme. Gesehen habe ich noch keinen einzigen. Und das ist die Premiere! Zum ersten Mal schreibe ich über die Dokumentation zu einem Star, den ich noch nie im Film gesehen habe. Es ist auch nicht einfach, an ihre Filme heranzukommen, aber immerhin gibt es auf Youtube eine offenbar leicht gekürzte Version von „She Done Him Wrong“ (1932), der ihr erster großer Erfolg war und mit dem sie gleichzeitig Cary Grant, ihren Wahlpartner, in die erste Reihe der Hollywoodstars katapultierte.

Inhalt

Hollywood-Star der 30er Jahre, Femme Fatale und Verfechterin des sozialen Wandels: Die US-Amerikanerin Mae West (eigentlich Mary Jane West) führte ein facettenreiches Leben. Die Dokumentation ergründet das außergewöhnliche Leben der legendären Unterhaltungskünstlerin.

Mae West war ein Bad Girl. Sie wurde berühmt als Sexsymbol, verruchte Blonde, Femme fatale und sorgte als immer sprungbereiter Vamp mit gewandtem Wortwitz in der prüden amerikanischen Gesellschaft fast 80 Jahre lang für kassenträchtige Skandale. Sie war ein „sexual gangster“ mit unverwechselbarem Hüftschwung, aber auch mit cleverem Geschäftssinn.
Schon im Alter von sieben Jahren wurde Mae von ihrer Mutter, die aus einer Münchner Bierbrauerfamilie stammte, auf die Bühne geschickt und mit 14 zum Vaudeville-Star befördert. Mit 25 war Mae West dann Tanzsensation, als 33-Jährige schrieb sie umstrittene Broadway-Stücke. Anfang der 1930er Jahre, sie war knapp 40 Jahre alt, begann ihre Hollywoodkarriere. Deren Regeln bestimmte sie bald weitgehend selbst, bis sie von der Zensur ausgebremst wurde. 62-jährig startete sie in Nachtclub-Acts in Las Vegas durch. Bis ins hohe Alter galt sie in Hollywood als Ikone.
Es gab kaum ein Unterhaltungsformat, das Mae West nicht für sich erobert hätte. Häufig generierte sie ihren Witz aus den Widersprüchen der amerikanischen Gesellschaft, ihrem Rassismus, den sozialen Ungerechtigkeiten und Restriktionen, ihren Zwängen zur geschlechtlichen Konformität, die Mae West als moralische Scheinheiligkeit offenlegte.
Die Dokumentation erzählt vom Wirken einer schlagfertigen Frau. Bei ihren sexuellen Grenzüberschreitungen stellte sie das etablierte Verhältnis zwischen den Geschlechtern provozierend auf den Kopf. Sie machte sichtbar, was die Frauen kleinhielt – eine Message, die heute noch Wirkung zeigt.[1]

Rezension

Also, nach dem, was ich in den Filmausschnitten gesehen habe, wäre sie in den 1980ern, als mein Interesse am Medium Film erwachte, nicht mein Typ gewesen. Dabei war sie so progressiv. Figürlich nahm sie die Kurvenstars der 1950er vorweg und ihre Art zu reden, wäre allenfalls nach dem Ende des Hays Codes Mitte der 1960er wieder möglich gewesen, vielleicht nicht einmal das.

Was ich gesehen habe, reicht nicht aus, um einordnen zu können, ob der Nachruhm von ihr gerechtfertigt ist. Filmhistorisch kann man es so sehen: Kein einziges ihrer Werke erreicht in der IMDb auch nur eine Wertung in den 7/10-Rängen, es endet nach oben bei „Ich bin kein Engel“ (6,9) und nach unten schließt sich der kleine Kreis bei 3,8 für ihren letzten Film „Sextette“ (1977). Sie war aber ein gefragter Star für Shows aller Art und offenbar eine sehr intelligente, witzige Frau. Und dem American Film Institute wichtig genug, um sie trotz ihrer wenigen und qualitativ vermutlich eher mittelmäßigen Filme auf Platz 15 der wichtigsten weiblichen Stars Hollywoods bis zum Ende des 20. Jahrhunderts zu heben.

Das wäre mir heute auch genauso wichtig wie sie anzuhimmeln, obwohl ich mich immer noch von optischen Reizen beeindrucken lasse und für jemanden, der cool Kritiken schreiben sollte, relativ starke Sympathien und Antipathien habe, verschiedene Stars betreffend.

Marlene Dietrich, Wests Zeit- und in gewisser Weise Bundesgenossin, die außerdem, wie West, bei dem Hochglanzstudio Paramount arbeitete, kommt bei mir nie aus dem Mittelfeld heraus, wenn es um die persönliche Zuneigung zu einer Person aus dem Filmgeschäft geht. Sie war aber auch Wests Konkurrentin um die höchsten Gagen. Es ist bemerkenswert, wie gut Paramount ein paar Jahre nach seiner Fast-Pleite wieder mitten in der Wirtschaftskrise aufgestellt sein musste, um seinen weiblichen Superstars 300.000 oder 400.000 Dollar pro Film zahlen zu können. Wenn man nur die Inflation berücksichtigt, wird man diesen Gagen übrigens nicht gerecht, man muss sie in Relation zu Normalgehältern von etwa 1.000 Dollar pro Jahr und zu der Krise setzen, die gerade das Land ökonomisch schüttelte. Diese Gagen waren obszöner als alle, was man auf der Leinwand zeigen konnte, auch vor der offiziellen Einführung des Production  Code (die Filme bis 1933 werden denn auch „Pre-Code“ genannt).

Es gab damals übrigens keinen männlichen Star, der so viel verdiente. Auch eine Form von Gleichberechtigung, die in der Regel aber durch strikten Gehorsam im Produktionssystem erkauft wurde, das natürlich von Männern geleitet wurde. West war wohl einer der ersten Frauen, die sich ab 1934 Partner aussuchen und eigene Drehbücher einreichen durfte. Es gab allerdings in der noch früheren Zeit schon weibliche Pionierinnen wie Mary Pickford, die sich mit einigen anderen zu einem unabhängigen Studio namens United Artists zusammenschloss. Es waren vor allem die Superstars Charles Chaplin und Douglas Fairbanks (sr.), mit denen sie zusammenging. Was sollte bei den Namen schon schiefgehen?

Zurück zu Paramount, dem zweitgrößten Studio nach MGM, in jenen Jahren. Dietrich hatte sich in Hollywood schnell veredelt, denn mit ihrer Darstellung in „Der blaue Engel“ wäre sie noch eine direkte, nur maßvoll leichtgewichtigere Konkurrentin für West gewesen, was die offene Sexualisierung der Atmosphäre angeht. Allerdings kam West schon als echtes Glamourgirl nach Hollywood, das war Dietrich noch nicht, als sie dort eintraf, und grenzte sich durch Verschlankung und Stilisierung schnell ab von anderen. Eine Reaktion auf Wests Präsenz als erdige Ikone des witzigen Sex? Vermutlich nicht, denn West kam ziemlich plötzlich zur Geltung, als Dietrich schon bei Paramount eingetroffen war, aber besonders in den Jahren 1933, 1934  war die Konkurrenzsituation sicherlich vorhanden. Es gibt unterschiedliche Aussagen zum Verhältnis der beiden, in der Dokumentation wird Dietrich als eine der wenigen Freundinnen von West bezeichnet, die die vom Broadway kommende Künstlerin hatte, die im Hollywoodbetrieb eine Außenseiterin war.

Generell ist der Status der Leinwandstars von Hollywood, der in den 1930ern seinen ersten, vielleicht auch größten Höhepunkt erreichte, nicht mit dem heutiger Schauspieler vergleichbar. Das Kino hatte damals noch etwas so Magisches, dass sie Göttinnen gleichkamen, Greta Garbo hieß deswegen auch „Die Göttliche“, obwohl sie, von heute aus betracht, zwar auf ihre Weise schön und unnahbar wirkt oder was immer gerade im Film gefragt wird, aber man doch die Zeitumstände berücksichtigen muss, um den Hype um damalige Filmstars zu verstehen. Allerdings lebe ich nicht in Amerika und bin  kein Leser von Klatschmedien bzw. Zuschauer bei solchen Formaten, die sich vor allem mit dem Leben der Reichen und Schönen befassen. Trotzdem meine ich, der Kult in jenen Tagen war eher von großen Sehnsüchten und Verzauberung geprägt als heute, wo es vor allem um Sensationsgier geht. Gerade deshalb waren Skandale in Hollywood auch richtige Aufreger und konnten eine Karriere schnell beenden.

Bei Mae West war es die Zensur. In ihre Filme wurde so stark eingegriffen, dass für Paramount ihre Weiterbeschäftigung keinen Sinn mehr ergab, denn sie wurde wohl mehr als jeder andere Star der frühen 1930er durch die Veränderung hin zum neuen Puritanismus ihrer Leinwand-Identität beraubt. Dem Übergang zum Tonfilm fielen einige große Stars zum Opfer, aber mir fällt spontan kein weiterer ein, der wegen der Zensur seine Karriere aufgeben musste. Die anderen passten sich eben an die neuen Verhältnisse an, kleideten sich etwas sittsamer, sprachen dezenter und die Zeit der unglaublich innovativen und zum Schmunzeln anregenden sexuellen Andeutungen war geboren, die regelmäßig an der bräsigen Zensur vorbeigeschoben wurden. Mae West aber war kein subtiler Typ, den man auf diese Weise hätte glätten können, sondern äußerst direkt, selbst für heutige Verhältnisse, siehe oben. Man konnte nach dem Ende des Hays-Codes, wie der Production Code nach seinem Installateur benannt wurde zwar viel mehr Haut zeigen als je zuvor, aber diese Sprache war schon sehr offensiv.

Aber sie war auch ehrlich. Überehrlich natürlich, denn im Film ist alles auf eine Stunde verdichtet, was im realen Leben über Tage, Wochen, Monate und Jahre zusammenkommt. Wahrscheinlich war es in dieser Verdichtung auch ein wenig grotesk, aber das Publikum mochte es, wenn es nicht gerade der „Legion of Decency“ angehörte. Auch da ist Dietrich ein gutes Gegenbeispiel. Während sie immer mehr optisch und in der Ausstrahlung zum Kunstjobekt geformt wurde, war Mae West auf drastische Weise authentisch wie vielleicht kein anderer Star jener Zeit oder nur wenige andere, die auch ziemlich gut sich selbst spielen konnten. Wie etwa Katherine Hepburn, Joan Crawford oder Bette Davis mit ihren unterschiedlichen Rollenprofilen.

Eine weitere Konkurrentin für West war die sehr hübsche Jean Harlow, die als „erste blonde Sexbombe“ galt und leider schon im Alter von 26 Jahren verstarb. Harlow sollte man nicht vergessen, denn ihre Filme ließen sich so an die neuen Zeiten anpassen, dass ihre Karriere ungebrochen war, als sie auf eine Art zu Tode kam, die bis heute Anlass für Spekulationen gibt.

Ich habe mir pauschal aufgeschrieben „Mae-West-Filme anschauen!“. Wir werden sehen, was wir finden.

Die Dokumentation zu beurteilen, ist nicht so leicht. Sie hat wieder dieses 50-Minuten-Format vieler Arte-Dokus, die ich oft als zu kurz und manchmal auch als ungenau empfinde, aber Mae West hatte keine so lange Filmkarriere wie die meisten Stars, die in diesen speziell für Arte gefertigten Dokus porträtiert werden. Außerdem hatte sie anscheinend trotz ihrer Verruchtheit kein darstellungswürdiges Privatleben. Vielleicht auch gerade deswegen nicht: Phänomale Ehekräche und Vorgänge von Untreue sind nicht zu berichten gewesen, auf der Leinwand war möglicherweise mehr zu sehen als dahinter.

Anmerkung anlässlich der Veröffentlichung: Ich habe in der IMDb recherchiert, dass die Dokumentation in Wirklichkeit eine verkürzte Fassung des Originals von 85 Minuten ist, das in den USA 2020 gezeigt wurde, der Zusammenschnitt erfolgte 2021 für Arte, um auf das übliche Doku-Format zu kommen. Eine mehr als fragwürdige Vorgehehensweise, denn andere Original-Dokus, die länger sind, werden ja auch nicht stark gekürzt, um diese Laufzeit zu erreichen. Vermutlich, weil es rechtlich nicht möglich ist, sonst würde man diesen Gewaltakt immer anwenden. 

Für die gekürzte Version: 6/10

TH

[1] https://www.arte.tv/de/videos/098863-000-A/die-verruchte-blonde-mae-west/

Regie:

Julia Marchesi  
Sally Rosenthal

Viele Stars der Zeit werden in der Dokumentation gezeigt / mit Stimme heutiger Personen versehen / durch diese gespielt, viele betreffende Szenen fehlen in der gekürzten Version.

TH


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