Baldiger Frieden in der Ukraine? (Umfrage + Infos + Leitkommentar: Geopolitisches Blankziehen, Demokratie am Abgrund

Briefing Geopolitik, Ukrainekrieg, Ukraine, Russland, Wolodomir Selenskyj, Siegesplan, Europa-Tour, Waffen und Reichweiten, Verhandlungen und Niederlage, geopolitische Konsequenzen, Hochrüstung und Handelskrieg, Russland und China und der Westen, Weltfrieden und Demokratie

Gerade wollte der ukrainische Präsident Wolodomir Selenskyj seinen Siegesplan an die höchste denkbare Stelle vermitteln, US-Präsident Joe Biden, da sagte dieser eine Europareise ab, die ihn auch nach Deutschland geführt hätte. Einer der Zwecke dieser Reise wäre die Abstimmung mit den Verbündeten und ein größeres Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten gewesen. Da Joe Biden zuhause geblieben ist, um nach dem schlechten Wetter den Tornado Trump zu bremsen, musste Selenskyj durch Europa touren und die Forderungen sind bekannt: mehr Waffen, mehr Waffen und vor allem deren Freischaltung für den Einsatz im russischen Hinterland.

Wird dadurch ein baldiges Kriegsende erreicht werden? Oder muss es zu Verhandlungen kommen, und fall ja, zu welchen Bedingungen?

Eine andere Abstimmung gab es schon im August, nämlich die letzte Runde einer Umfrage, die seit 2022 immer ähnlich lautet, von der Jahreszahl abgesehen:

2024: Frieden in der Ukraine? (civey.com)

Sie können nicht mehr abstimmen, deswegen werden wir nach dem Begleittext der Meinungsforscher das Ergebnis referieren und einige der neuesten Entwicklungen, denn der Text ist quasi eingefroren auf dem Stand vor etwa zwei Monaten:

Seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine gibt es immer wieder Forderungen nach diplomatischen Gesprächen. Zuletzt forderte Ungarns Regierungschef Viktor Orbán den ukrainischen Präsident Wolodomir Selenskyj bei einem Besuch in Kiew zur Waffenruhe auf. Ein solcher Schritt könne geknüpft an eine Frist Friedensgespräche mit Russland beschleunigen, sagte er der Welt nach. Orbán gilt als kremlfreundlichster EU-Regierungsschef. Laut einer Umfrage des Rasumkow-Zentrums sprechen sich über 40 Prozent der Ukrainer:innen für Friedensgespräche mit Russland aus, berichtete der Tagesspiegel am Montag. 

Die große Mehrheit lehne die Friedensbedingungen Russland jedoch ab. Wladimir Putin forderte jüngst auf einer Sitzung des russischen Außenministeriums, dass die Ukraine für einen Waffenstillstand alle rechtswidrigen Eroberungen Russlands auf ukrainischem Staatsgebiet anerkennen müsste, berichtete die SZ. Zudem müssen sich die ukrainischen Truppen aus vier von Russland teils besetzten, aber vollständig beanspruchten und umkämpften Regionen vollständig zurückziehen. Zudem müsse die Ukraine auf die angestrebte NATO-Mitgliedschaft verzichten. 

Selenskyj unterstrich beim Treffen mit Orbán die Notwendigkeit nach einem gerechten Frieden für sein Land. Diese Woche lud er Russland erneut zum nächsten Friedensgipfel im November ein. Er erwarte laut Handelsblatt einen Plan zur Umsetzung der ukrainischen Friedensbedingung, die einen kompletten Abzug russischer Truppen vom ukrainischen Staatsgebiet vorsieht. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) stellte sich jüngst hinter die Ukraine. Einen Waffenstillstand, der auf eine Kapitulation der Ukraine abzielt, werde Deutschland niemals unterstützen, sagte er in seiner jüngsten Regierungserklärung. 

Wir haben uns schon oft zu dem geäußert, was wir Ukraine-Dilemma nennen, aber die Zeit schreitet voran und die Frage ist, ob es immer so weitergehen kann, oder ob man Meinungsverschiebungen beachten muss, sowohl in der ukrainischen als auch in der deutschen Bevölkerung. Nach dem obigen Text steht eine Mehrheit der Menschen in der Ukraine hinter Selenskyj und der Fortführung des Krieges und haben nach der Stimmung in der Ukraine gefragt:

Ja, es gibt aktuelle Umfragen in der Ukraine zu Friedensverhandlungen und der Fortführung des Krieges:

## Umfrageergebnisse

Eine Umfrage des ukrainischen Rasumkow-Forschungszentrums vom Juni 2024 ergab folgende Resultate[1]:

– 44% der Ukrainer in Gebieten hinter der Front glauben, dass es Zeit für offizielle Gespräche zwischen Kiew und Moskau ist.
– 35% meinen, es gebe keinen Grund für Friedensverhandlungen.
– 21% sind unentschlossen.

## Bedingungen für Verhandlungen

Die Umfrage zeigte auch klare Grenzen für mögliche Zugeständnisse[1]:

– 83% lehnen einen Abzug ukrainischer Truppen aus den nicht von Russland kontrollierten Teilen der Gebiete Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja ab.
– 84% sind gegen eine Abtretung dieser Gebiete an Russland.
– 77% sind gegen eine Aufhebung aller westlichen Sanktionen gegen Russland.

## Analyse der Ergebnisse

Experten sehen in den Umfrageergebnissen Ausdruck von Frustration in der Bevölkerung[1]:

– Die bisherigen Bemühungen zur Mobilisierung der Bevölkerung seien erschöpft, da sie auf einen kurzen Krieg ausgerichtet waren.
– Es fehle eine Vision, wie das Leben in der Ukraine unter Bedingungen eines langen Krieges aussehen soll.
– Themen wie Korruptionsbekämpfung, die auf die Zeit nach dem Krieg verschoben wurden, beunruhigen die Menschen zunehmend.

Insgesamt zeigen die Umfrageergebnisse eine komplexe Stimmungslage in der Ukraine. Einerseits wächst die Bereitschaft zu Verhandlungen, andererseits gibt es klare rote Linien bezüglich territorialer Zugeständnisse.[1]

Eine neuere Umfrage wurde nicht referiert, das bedeutet, dass die Stimmung sich nach drei weiteren Monaten Krieg ohne Fortschritte für die Ukraine noch einmal geändert haben kann. Vielleicht muss man auch die Kursk-Offensive der ukrainischen Kriegsführung als eine Botschaft an die eigene Bevölkerung sehen, die bedeuten soll: Es gibt nicht nur ein langsames und verlustreiches Zurückweichen vor den russischen Angreifern, sondern auch substanzielle Gegenschläge. Der strategische Wert der Kursk-Offensive ist indes umstritten.

Gleichwohl ist davon auszugehen, dass immer noch eine Mehrheit der Bevölkerung gegen Friedensverhandlungen ohne Bedingungen, sprich, gegen eine Kapitulation ist. Deutsche populistische Politiker:innen hingegen nehmen die 44 Prozent, die für Friedensverhandlungen sind, aber genau dafür als Zeugen und verschweigen, dass mit Friedensverhandlungen nicht gemeint ist, dass ein Diktatfrieden Russlands hingenommen werden soll. Im Grunde wären dies auch keine Verhandlungen. Selbstverständlich könnte man auch sagen, es wären insofern Verhandlungen, als Russland ansonsten weitermacht, biss die Ukraine nicht mehr existiert, zumal klar ist, dass im Westen niemand wegen der Ukraine einen Dritten Weltkrieg riskieren will, auch wenn dieser noch einmal nicht atomar geführt werden würde.

Diese Haltung, nicht All-in zu gehen, also keine Nato-Truppen einzusetzen und der Ukraine nicht einmal substanzielle Fernziel-Gegenschläge auf russische Kriegs-Infrastruktur mit Lenkwaffen zu erlauben, ist zu Recht umstritten und verschärft das Dilemma, das wir sehen.

Umfasst das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine auch, ihr auf diese wenig produktive Weise noch jahrelang zu helfen und wann müssen wir sagen, für diese Art von Hilfe werden die Kosten jetzt zu hoch? Dafür sterben zu viele Menschen und dafür fügt die Politik auch dem eigenen Land zu viele Schäden zu.

Deutschland ist, relativ zu seiner Größe, das Land, das sich am meisten für die Ukraine engagiert, wenn man von einigen kleineren Ländern im Osten Europas absieht, die ohnehin mehr für ihre Verteidigung ausgeben, relativ zum BIP. Anders ausgedrückt: Es ist das unter den größeren westlichen Ländern, das im Verhältnis zu seinen Möglichkeiten am meisten tut, erst dann kommen, relativ betrachtet, die USA, auch wenn diese insgesamt mehr an Waffenhilfe leisten. Bei der deutschen Hilfe müssen die Kosten für Geflüchtete und auch deutsche Gelder, die an die EU fließen und von dort in die Ukraine, berücksichtigt werden.

Noch einmal anders schaut die Rechnung aus, wenn man auch noch alle wirtschaftlichen Nachteile in ihr unterbringt, die Deutschland in Kauf nimmt, um Russland zu schaden. Die Behauptung beispielsweise, die Energiekrise sei beendet, ist falsch. Wir haben uns gerade die neuesten Zahlen von Destatis angeschaut. Zwar bestehen keine Versorgungsengpässe, aber ein Endverbraucher-Erdgaspreis von 190 Prozent des Preises von vor vier Jahren ist klar Ausdruck einer Versorgungskrisensituation politisch gewollter Natur, die nach wie vor wirtschaftliche Schleifspuren hinterlässt, und dies in einer Situation, in der die deutsche Wirtschaft von vielen Seiten unter Druck steht und erhebliche Anpassungsprobleme zeigt. Die Bundesregierung hat sich und den Menschen so viel aufgeladen, dass es der Demokratie zu schaden beginnt. Sie ist nun einmal eine Schönwetterdemokratie gewesen, bisher. Die Krisenprobe ist nicht sehr gut ausgefallen, und das muss Einfluss auf die Politik haben, denn eine Mentalitätsänderung, die eine Krisenresilienz wie in anderen Ländern hervorbringt, ist von der Politik selbst über Jahrzehnte hinweg verhindert worden, indem sie suggeriert hat, man kann im Wesentlichen immer weitermachen wie bisher, auch wenn die Vergleichszahlen bei näherem Hinschauen schon lange vor dem Ukrainekrieg immer schlechter wurden. Jetzt herrscht vor allem Panik, ob man das Verlorene wieder wird aufholen können.

Wir meinen, das ist ohnehin nicht möglich, man muss einiges neu denken, aber am Ende darf der Wohlstandsverlust, der vor allem die Ungleichheit weiter nach oben treibt, nicht so weit gehen, dass große Teile der Bevölkerung nicht mehr hinter dem System stehen. Der Ukrainekrieg ist das sichtbare Symbol für Kontrollverlust geworden, weil niemand eine Lösung anbieten kann, und das besorgt uns zusehends.

Somit zum Ergebnis der Umfrage: Schon Ende Juli bis Anfang August waren 75 Prozent der Abstimmenden der Ansicht, dass es dieses Jahr keine Friedenslösung mehr geben wird, etwa zu gleichen Teilen mit „auf keinen Fall“ und „eher nicht“. Woher die 15 Prozent, die „auf jeden Fall“ oder „eher ja“ votiert haben, ihren Optimismus nahmen, wissen wir nicht, aber wir müssen ja auch gut zwei Monate zurückdenken. Heute wäre das Ergebnis noch eindeutiger negativ. Zehn Prozent waren sich unschlüssig, von ihnen würden sicherlich jetzt viele sagen, es gibt keine Lösung mehr im Jahr 2024.

Wir haben uns bereits mehrfach dazu geäußert, wie der Westen geopolitisch abschneidet, wenn das sehr wahrscheinliche Szenario eintritt, dass die Ukraine mindestens einen Teil ihres Gebietes verlieren wird und sind im Wesentlichen dabei herausgekommen, dass man endlich neue Denkansätze finden und realisieren muss: Verteidigungsbereit sein, eine Wiederholung vermeiden, aber auch dafür sorgen, dass die Welt nicht mehrheitlich die eigene Position nicht teilt und man daher auch geostrategisch in der Defensive ist. Gegen Nazideutschland hat fast die gesamte Welt zusammengestanden, während die Ansicht des Westens in der Ukrainefrage eine Minderheitsmeinung ist, die durch Jahrzehnte einer wenig entgegenkommenden Politik geprägt wurde. Die Chancen dazu stehen gerade denkbar ungünstig, denn im Nahostkonflikt ist die Haltung des Westens noch exklusiver, und es kann gar nicht ausbleiben, dass von vielen Menschen auf der Welt eine Zusammenschau vorgenommen wird, die besagt, dass der Westen eine doppelzüngige und in seinen Standards unglaubwürdige Politik macht.

Wir sehen nicht, wie die „westliche Wertegemeinschaft“ sich in nächster Zeit aus der selbstgewählten Geiselhaft ihrer unglaubwürdigen Politik befreien will, zumal sie sich von im Grunde kleinen Akteuren ihre Haltung vorschreiben lässt. Wir haben noch nie eine Situation erlebt, in der die westliche Führungsmacht, die USA, so getrieben, so konzeptlos und ohnmächtig sind wie derzeit. Wenn wir das trotz unserer Westprägung wahrnehmen, wie werden Menschen also darauf schauen, die sich schon lange vom Westen übervorteilt und an der Nase herumgeführt vorkommen müssen? Sie werden widerständiger, und sie werden sich nicht mit der Ukrainepolitik der führenden westlichen Staaten solidarisieren.

Wie aber schauen die Menschen in Deutschland aktuell auf das Ukraine-Szenario?

Basierend auf den aktuellsten Umfragen in Deutschland zum Ukraine-Krieg lässt sich folgendes Stimmungsbild erkennen:

## Einschätzung der Kriegsdauer

Eine überwältigende Mehrheit von 87% der Deutschen glaubt nicht an ein Ende des Krieges im Jahr 2024. Nur 9% halten ein Kriegsende in diesem Jahr für wahrscheinlich, was einen deutlichen Rückgang im Vergleich zum Vorjahr darstellt, als noch 32% diese Hoffnung äußerten[3].

## Haltung zu Verhandlungen und territorialen Zugeständnissen

– 75% der Befragten sind der Meinung, dass die Ukraine selbst entscheiden muss, wann sie Verhandlungen mit Russland aufnimmt[3].
– 44% glauben, dass die Ukraine für eine Beendigung des Krieges gewisse Gebiete an Russland abtreten muss, während 43% dies ablehnen[3].

## Unterstützung für die Ukraine

Die Unterstützungsbereitschaft der Deutschen für die Ukraine bleibt insgesamt hoch, zeigt aber eine leicht rückläufige Tendenz:

– 41% finden, dass die finanzielle Unterstützung Deutschlands für die Ukraine zu weit geht (ein Anstieg um 21 Prozentpunkte seit April 2022)[3].
– 40% halten die Unterstützung für angemessen[3].
– 12% meinen, die Unterstützung gehe nicht weit genug[3].

## Haltung zu Bündnisbeitritten der Ukraine

– 53% befürworten einen langfristigen EU-Beitritt der Ukraine[3].
– 44% sprechen sich für einen NATO-Beitritt der Ukraine aus[3].

## Friedensverhandlungen und Diplomatie

Eine INSA-Umfrage vom August 2024 zeigt eine deutliche Mehrheit für diplomatische Lösungen:

– 68% sind für Friedensverhandlungen mit Russland[2].
– 65% befürworten einen Waffenstillstand[2].
– 46% beklagen mangelnde diplomatische Bemühungen der deutschen Bundesregierung[2].

## Waffenlieferungen

– 48% sind gegen die Lieferung des Waffensystems Taurus an die Ukraine[2].

## Kriegsangst in Deutschland

– 45% der Befragten fürchten eine Ausweitung des Krieges auf Deutschland, wobei Frauen (51%) und Ostdeutsche (55%) besonders besorgt sind[2].

Diese Umfrageergebnisse zeigen eine komplexe Stimmungslage in Deutschland. Während die Unterstützung für die Ukraine weiterhin hoch ist, wächst gleichzeitig der Wunsch nach diplomatischen Lösungen und Friedensverhandlungen. Die Mehrheit der Deutschen scheint eine pessimistische Sicht auf die kurzfristige Entwicklung des Konflikts zu haben, bleibt aber in der Frage der Unterstützung für die Ukraine gespalten.[2]

Wir gehören nicht zu jenen, die eine Ausweitung des Krieges auf Deutschland befürchten – sofern sich nicht wesentliche Parameter verändern. Wir würden selbst dann, wenn westliche Waffen voll eingesetzt werden dürften, eher davon ausgehen, dass sich an der Sicherheitslage in Deutschland nichts ändern wird. Unsere Frage ist unter gegenwärtigen Bedingungen also: Wie lange darf der jetzige Krieg noch weitergehen, was verursacht er an menschlichen und materiellen Kosten gerade unter der Prämisse, dass der Westen nicht offen gegen Russland Krieg führen will?

Die Idee, dass die Bundesregierung zu wenig diplomatische Initiative ergreift, scheint zwar sehr populär zu sein, aber diesbezüglich gehen zu viele Menschen populistischen Politiker:innen auf den Leim, die uns erzählen, Deutschland könnte tatsächlich das Kriegsgeschehen auf diplomatischem Weg beeinflussen. Das kann es nicht, wenn nicht in den USA eine klare Linie erarbeitet wird. Wäre das der Fall, könnte man sich an einer großen Initiative beteiligen und europäische Perspektiven einbringen, aber es alleine und in der jetzigen Situation zu versuchen, ist komplett unrealistisch.

Obwohl wir das aus anderen Gründen sehr kritisch sehen, wünschen wir uns manchmal, die Populisten hätten Regierungsverantwortung und müssten ihre Forderungen selbst umsetzen. Sehr schnell würden diese sich als heiße Luft herausstellen und Wladimir Putin hätte Spaß daran, die hiesige Demokratie weiter zu beschädigen, indem er jene, die sich jetzt als Hoffnungsträger:innen inszenieren, als Papiertiger:innen bloßstellen würde.

Wir hatten im vergangenen Jahr einmal eine Art Lösungsskizze für den Ukrainekrieg erarbeitet, aber die Zeit schreitet voran und das Pendel neigt sich mehr und mehr zu Lasten der Ukraine und ihrer Verbündeten, deswegen beziehen wir uns hier auch nicht mehr auf diese Idee, sondern müssen anerkennen, dass die Lage komplett verfahren ist. Deswegen muss eine realistische deutsche Politik jetzt so aussehen, dass das eigene Land wieder stärker wird. Das meinen wir nicht in erster Linie militärisch, obschon wir die Verteidigungsfähigkeit für wichtig halten. Wir meinen es vor allem im Sinne der Stärkung der Demokratie und der Ökonomie. Wenn die Autokratien auch noch behaupten können, sie seien erfolgreicher als das westeuropäische Nachkriegsmodell, wird es bei Demokratie-Erfolgsfans wie den Deutschen schwierig werden, sie bei der Stange zu halten. Wenn die Demokratie nicht mehr liefert, sucht man sich einen anderen Lieferanten. Idealismus, Menschenwürde, Humanismus, Solidarität, Universalismus, das sind Begriffe, mit denen auch summarisch nur eine Minderheit wirklich etwas anfangen kann, da sollten wir uns angesichts jüngerer Wahlergebnisse gar nichts vormachen. Also muss die Demokratie weiterhin liefern, sonst wird es wieder ganz düster werden in Deutschland.

Und liefern heißt, eigene Interessen in den Mittelpunkt rücken. Das hat die Bundesregierung in den letzten Jahren nicht nur sachlich auf sträfliche Weise vernachlässigt, sondern das, was sie als Notwendigkeit ansieht, auch noch auf schlechtestmögliche Weise vermittelt, zerstritten und kommunikativ überwiegend unfähig, wie sie ist. Die Ukraine hätte es besser, wären die westlichen Regierungen stärker, aber wir können uns alles Mögliche wünschen, hingegen schreitet die Wirklichkeit voran und stellt uns vor die Frage, ob wir weiter Wünsch-dir-was-was-du-eh-nicht-kriegst-Politik akzeptieren wollen oder darauf dringen müssen, dass das Land, das qualitativ in allen Fugen ächzt, wieder flottgemacht wird.

Nicht alle werden das so empfinden, aber wir dürfen uns nicht von einer privilegierten Minderheit, die jedweden öffentlichen Infrastrukturmangel wegprivatisieren kann, vorschreiben lassen, wie deutsche Politik auszusehen hat. Wir müssen an die Solidarität mit der Mehrheit denken, die das nicht kann. Und diese Solidarität ist am Ende – nicht des Tages, sondern nach zweieinhalb Jahren Krieg – stärker als diejenige mit einem Land, dessen viele Fehler wir ebenfalls schon hinreichend thematisiert haben.

Man mag das als Abnutzungserscheinung ansehen, aber das stimmt bezüglich unserer Haltung nur bedingt. Wir waren schon immer skeptisch, wenn es darum ging, der Ukraine gigantische Versprechungen wie etwa eine schnelle EU-Mitgliedschaft zu machen, weil sie in einem Abwehrkampf steht, nicht etwa, weil sie die Voraussetzungen erfüllen würde. Wir waren schon immer auf der Seite von Olaf Scholz, wenn er bei der Erweiterung von Waffenlieferungen vorsichtiger war als diejenigen, die Maximalforderungen in dieser Richtung aufgestellt hatten. Wenn man so will, haben wir damit die wenig eindeutige Haltung des Westens gespiegelt. Deswegen weisen wir seit 2023 auch darauf hin, dass es nur zwei Lösungsmöglichkeiten gibt: Russland siegen zu sehen oder einen offenen Krieg der Nato mit dessen Regime zu befürworten, den es nicht gewinnen könnte. Wenn wir Letzteres nicht wollen, werden wir Ersteres akzeptieren müssen und damit auch Teil des Scheiterns westlicher Denkmuster sein, das sich immer mehr abzeichnet.

Nicht zuletzt deswegen halten wir eine Veränderung dieser Denkmuster für wirklich dringend, da sie in internationalen Konflikten immer mehr in die Sackgasse führen. Sie beruhen auf der Idee, dass der Westen dem Rest der Welt mehr oder weniger vorschreiben kann, was geopolitisch angesagt ist. Das ist mittlerweile eine Illusion, die wir unbedingt aufgeben müssen, wenn wir nicht an den Rand des Weltgeschehens gedrängt werden wollen, zusammen mit ein paar ruchlosen Staaten, die Unfrieden auf eine wirklich fahrlässige oder gar willentliche Weise befördern, bis es doch einmal zu einem Großkrieg mit unabsehbaren Folgen für uns alle kommt. Wer Länder wie Russland ins Abseits stellen will, falls das angesichts ökonomischer Interessen anderer überhaupt möglich ist, der muss Werte wie die globale Partnerschaft in den Vordergrund stellen und außerdem akzeptieren, dass andere sowohl eigene ökonomische Interessen wie auch andere gesellschaftspolitische Vorstellungen haben. Das heißt nicht, dass man Menschenrechte nicht mehr fördern sollte, aber es heißt, anzuerkennen, dass man sie nicht diktieren kann. Schon gar nicht, wenn im eigenen System diesbezüglich immer mehr Fragen aufkommen.

Der Ukrainekrieg, egoistisch gedacht, könnte eine Chance sein, nach einer Niederlage endlich neue Richtlinien für westliche Politik zu erarbeiten, die nicht mehr auf Dominanz ausgerichtet sind, sondern anerkennen, dass diese Wertegemeinschaft, wenn sie sich nicht aus Gründen ihrer Attraktivität von selbst und ohne Zwang erweitert, in der Welt an Einfluss verlieren wird, weil sie nun einmal wirtschaftlich und bevölkerungsseitig weniger wächst als Länder, die andere Systeme haben oder gar schrumpft, die es den europäischen Staaten gehen wird, wenn sie nicht verstärkt auf Zuwanderung setzen. Wenn sie das aber tun, werden sie auch andere Lebenswelten importieren, und bevor man sein eigenes Lebensmodell überall ausbreiten will, muss man erst einmal dafür sorgen, dass es im Inneren für alle attraktiv ist. Da gibt es genug zu tun, und eine Bundesregierung, die das nicht sieht und meint, Weltpolitik ohne überzeugende Grundlage machen zu müssen, überdehnt ihre eigenen und unsere Möglichkeiten.

Wir müssen langsam dorthin kommen, uns einzugestehen, dass das zwitterhafte Verhalten des Westens nicht von Erfolg gekrönt sein kann und die Konsequenzen ziehen. Vor allem Deutschland läuft Gefahr, seine vielen Aufgaben nicht mehr stemmen zu können, zumindest nicht in der Form, dass die Demokratie nicht noch mehr leidet als ohnehin. Da wir für 2024 keinen Frieden voraussehen, richten sich unsere Augen auf das kommende Jahr. 2025 muss eine Lösung gefunden werden, oder es ist dringend angeraten. Wenn es nicht anders geht, muss die Lösung so aussehen, dass Deutschland der Ukraine ein Ultimatum stellt: Niemand stellt euren Anspruch auf Selbstverteidigung infrage, aber wenn diese vor allem mit unserem Mitteln durchgeführt wird, obwohl es keinen Bündnisverpflichtung unsererseits gibt, dann muss es ein Enddatum für die fast unbegrenzte Hilfe geben. Die Fehler wurden alle schon gemacht, man kann sie nur korrigieren, nicht mehr rückgängig machen.

Auch eine neue unionsregierte Bundesregierung könnte sich übrigens schnell unbeliebt machen, wenn sie bei diesem wichtigen Thema keine besseren Ideen zeigt als die Ampelkoalition. Die Gefahr ist groß, dass man als Augenwischerei das Migrationsthema und die Sozialhetze weiter hochfahren wird. Ob sich eine Regierung das leisten kann, was sie im Moment als Opposition im Sinne des allfälligen Populismus darbietet? Wir glauben das nicht, nicht auf Dauer jedenfalls. Das heißt auch, die Instabilität in Deutschland wird weiter zunehmen und der Drift nach rechts ebenfalls. Das alles zusammen ist ein zu hoher Preis für die Unterstützung eines Landes, das diesen Krieg auf dem Schlachtfeld nicht wird gewinnen können. Siegen werden am Ende nur die Rüstungsunternehmen und deren politische Statthalter. Die strategischen Mängel im Verhalten des Westens wirken jetzt mehr und mehr auf den inneren Zustand der westlichen Demokratien zurück, und es muss Priorität darauf gelegt werden, dass diese Tendenz gestoppt wird. Die Demokratie ist dadurch viel mehr in Gefahr als durch den Ukrainekrieg. Wir haben ohnehin nie an eine Domino-Theorie in diesem Sinne geglaubt und deswegen das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine und die Gerechtigkeit im Sinne einer regelbasierten Weltordnung in den Vordergrund gestellt.

2025 muss eine Entscheidung fallen, die das Blutvergießen und den finanziellen Aderlass endlich beendet. Einige Publikationen schwenken deshalb auch langsam auf eine Linie ein, die besagt, dass die Ukraine wird Gebiete abgeben müssen und dafür der verbliebene Rest auf eine Weise an den Westen angegliedert wird, dass er uneinnehmbar sein wird. Wir wollen hoffen, dass man in Russland jetzt nicht denkt, bei den Aussichten nehmen wir doch lieber die ganze Ukraine ein und lassen sie als Staat verschwinden. Dass Russland dabei die Puste ausgehen wird, glauben wir kaum. Eher schon dann, wenn es um die Konsequenzen für die Zukunft geht, nämlich das Wettrüsten, das aus dem Ukrainekrieg vermutlich hervorgehen wird, egal, wie er ausgeht. Das Ergebnis kann im konventionellen Bereich nicht zugunsten von Russland sein, man könnte also die östlichen Nato-Staaten zu Waffenburgen hochrüsten, gegen die ein konventioneller Angriff undenkbar ist. Sie geben ohnehin im Verhältnis zu ihrem BIP viel mehr für Rüstung aus als Deutschland, das trifft nach der „Zeitenwende“ weiterhin zu. Einen Atomkrieg hingegen wird weiterhin niemand wagen, der bei Verstand ist. Wer das nicht ist, stellt ohnehin ein großes Sicherheitsrisiko dar, weil er immer versuchen wird, erpresserisch auf die geopolitische Lage einzuwirken. Nordkorea ist diesbezüglich zum Beispiel ein Grenzfall, um den sich China zu kümmern hat. China wird auch dafür sorgen, dass Russland nicht ganz einknickt und es als billige und am Ende vollkommen abhängige Rohstoffquelle benutzen. Das muss man übrigens mitdenken, wenn man einen Rüstungswettlauf zwischen Russland und der Nato simulieren oder planen will. Das heißt, am Ende muss man auch China in die Knie zwingen. Ist das möglich? Ja, ist es. Der Westen ist ökonomisch immer noch viel stärker, als manche denken, die nur ideologisch, nicht mit Fokus auf jüngste Wirtschaftsentwicklungen unterwegs sind. China geht bereits ein hohes finanzielles Risiko ein, um weiter expandieren zu können, das war vor ein paar Jahren noch nicht in der Form notwendig. Dabei wird die Industriepolitik wird immer heimtückischer und konfrontativer. Nicht, dass der Westen an dieser Entwicklung keine Anteile hätte, aber er wird dem Druck am Ende besser standhalten, der sich hier aufbaut. Und wenn sich das herausgestellt hat, werden auch die „Neutralen“ ihre sibyllinische Meinung ändern und sich nach dem Wind richten.

Wir hätten es viel lieber anders, nämlich kooperativ und gleichberechtigt, aber der Ukrainekrieg ist einer von beiden Hauptkonflikten, die wir derzeit sehen, die verhindern, dass in absehbarer Zeit eine bessere Weltordnung entstehen wird. Darauf, dass das nicht der Fall sein wird, auch wenn der Ukrainekrieg, vermutlich mit einer Niederlage der Ukraine und damit des Westens, enden wird, können wir uns leider besser verlassen als auf alles andere derzeit. Es gibt einfach keinen Plan, den jemand mit gebührender Autorität in die Welt tragen könnte, und die internationale Gemeinschaft erweist sich immer mehr als unfähig, die Dinge gemeinschaftlich zu regeln. Gut möglich, dass aus dieser Unfähigkeit der Politik die verschroben und verschwörungstheoretisch klingende Weltherrschaft der Großkonzerne hervorgehen wird, aber das hätte die Politik sich dann selbst zuzuschreiben. Man darf eben nicht so schwach sein, in Zeiten, die Konzepte erfordern und den Mut, sie konsequent durchzusetzen. 

Wo wird bei alldem die Demokratie bleiben? Tja. Wenn wir sie nicht schützen, wird sie nicht mehr lange existieren. Schützen können wir sie nur durch das, was oben steht: Konsequenz und Mut, gerade der Politik gegenüber, die weder den Mut hat noch den Willen, sie zu schützen.

TH

[1] [1] https://www.dw.com/de/ukrainer-zu-friedensverhandlungen-mit-russland-bereit/a-69687979
[2] https://www.emma.de/artikel/ukraine-krieg-mehrheit-fuer-friedensverhandlungen-341207
[3] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/russland-kriegsziele-ukraine-100.html
[4] https://www.dw.com/de/faktencheck-wer-verhindert-friedensverhandlungen-zwischen-russland-und-der-ukraine/a-70199466
[5] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/putin-vorschlag-friedensgespraeche-ukraine-100.html

[2] [1] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2024-02/2-jahre-ukraine-krieg-deutsche-perspektive-pessimismus
[2] https://www.emma.de/artikel/ukraine-krieg-mehrheit-fuer-friedensverhandlungen-341207
[3] https://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend/deutschlandtrend-3412.html
[4] https://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend
[5] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1454716/umfrage/umfrage-zu-waffenlieferungen-von-deutschland-an-die-ukraine/


Entdecke mehr von DER WAHLBERLINER

Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.

Hinterlasse einen Kommentar