Crimetime 1251 – Titelbild © SWF / SWR
Die Neue ist ein Fernsehfilm aus der Kriminalreihe Tatort der ARD und des ORF. Der am 29. Oktober 1989 erstmals ausgestrahlte Fernsehfilm ist der 224. Tatort und der erste Fall Lena Odenthals.
Derzeit ist der SWR damit befasst, die Erstlingsfilme verschiedener berühmt gewordener Tatort-Ermittler zu zeigen, und da es sich bei Lena Odenthal um ein „Hausgewächs“ handelt, liegt das besonders nah. Sie ist seit 1989 im Dienst und damit am längsten von allen Kommissarinnen, Kommissaren und anderen Kriminalern, die sich für die deutsche Premium-Krimireihe mit dem Verbrechen auseinanderzusetzen haben.
Anmerkung anlässlich der Veröffentlichung des Textes im Jahr 2024: An den obigen Tatsachen hat sich nichts geändert, da Lena Odenthal immer noch tätig ist und von anderen Ermittler:innen nicht überholt werden kann, solange das der Fall ist. Bezüglich der Zahl ihrer Fälle liegt sie an dritter Stelle hinter den Münchnern Batic / Leitmayr und den Kölnern Schenk / Ballauf. Alle weiteren Angaben im Text mit Zeitbezügen sind unverändert aus dem Entwurf des Jahres 2016 übernommen worden.
Handlung
Die junge Kommissarin Lena Odenthal arbeitet im Sittendezernat. Eine Serie von Vergewaltigungen beunruhigt die Bevölkerung. Der Täter ist immer maskiert. Die Frauen sind nicht in der Lage, eine verwertbare Beschreibung von ihm zu geben. Das jüngste Opfer, Carmen Posniak, hat Anzeige erstattet. Lena ist auf Spuren aus der Kartei und auf Carmens Bereitschaft mitzuhelfen angewiesen. Ihre Ermittlungen konzentrieren sich auf drei einschlägig Vorbestrafte: Koslowski, Geißler und Appold. Lena bringt Carmen unauffällig mit den Männern zusammen, in der Hoffnung, daß sie sich durch die unerwartete und unmittelbare Begegnung mit ihrem Opfer entlarven. Fehlanzeige.
Lena geht bei ihrer Arbeit einen schmalen Grat entlang. Einerseits hat sie Mitgefühl für das Opfer, andererseits die Einsicht, daß nur dann die Chance besteht, den Täter – zumindest in diesem einen Fall zu stellen, wenn es ihr gelingt, ein objektives Bild der Männer und deren Persönlichkeiten aufzubauen.
Ein neuer Überfall endet tödlich. Da die Stelle der Hauptkommissarin Wiegand noch nicht wieder besetzt worden ist, darf Lena weiter ermitteln, nun als kommissarische Leiterin einer Mordkommission. Sie nimmt sich die drei Männer wieder vor. Einfühlsam, beharrlich und nicht ohne persönliches Risiko erarbeitet sie Psychogramme der Verdächtigen. Die Indizien zeigen zunehmend in eine Richtung. Aber Lena braucht Beweise. Sie beschließt, dem Täter eine Falle zu stellen.
Rezension (mit Spoilern)
Sicher ein guter Moment, um diese besondere Karriere zu würdigen. Als Ulrike Folkerts im Film das Alter ihrer Figur verrät (28 Jahre), da stimmt das nicht nur mit dem der Darstellerin überein, sondern weist uns darauf hin, dass diese mitsamt ihrer Lena Odenthal ein halbes Leben im Dienst des Formats Tatort verbracht hat. Nächstes Jahr wird sie so lange dabei sein, wie sie in ihrem ersten Film an Jahren zählt. Das ist einmalig im deutschen Serienfernsehen, auch wenn die Münchener Batic und Leitmayr ihr dicht auf den Fersen sind (derzeit 25 Jahre Dienstzeit).
Mit der Figur und der Darstellerin muss der damalige SWF etwas richtig gemacht haben, sonst hätte es diese einmalige Karriere nicht gegeben. Dass in den letzten Jahren eine Stagnation zu erkennen ist, darf man ansprechen, aber das schmälert nicht Odenthals / Folkerts Verdienste um den Tatort. Dabei ist der Anfang in „Die Neue“ nicht so spektakulär, wie man angesichts einiger ihrer Auftritte in den nächsten Jahren vermuten könnte.
Sie ist zunächst der der „Sitte“ und wird im Verlauf von „Die Neue“ zur Nachfolgerin von Hanne Wiegand (Karin Anselm) ernannt. Und selbst diese Kommissarin war nicht die erste im Südwestfernsehen, sondern folgte auf Marianne Buchmüller (Nicole Heesters), diese wiederum kam als erste weibliche Ermittlerin im gesamten deutschen Fernsehen auf den Bildschirm. Lena Odenthal stand also bereits in einer Tradition, als sie 1989 eingeführt wurde.
Und sie wirkt weitaus konservativer als in einigen späteren Filmen. Sie eben nicht als weiblichen Schimanski zu inszenieren, diesen Vergleich lese ich immer mal wieder, war zumindest ganz am Anfang deutlich erkennbar. Ja, sie sagt einmal „Scheiße“, das wäre ihren Vorgängerinnen nicht passiert, aber sie ist auch eine andere Generation und passt wunderbar in diese Zeit, wirkt noch heute als junge Frau mit beruflichen Ambitionen in jenen Vorwendejahren sehr stimmig angelegt. Sicher ist es eine Sensation, dass jemand mit 28 Dienststellenleiterin wird, und sicher ist das auch heute nicht üblich, aber sie muss wohl auf der Polizeischule überragend gewesen sein. Man kann sie als Symbol für die Gleichberechtigung sehen, für etwas, das selbstverständlich werden sollte, aber noch nicht als Gegenmodell zu konservativen Ermittlern mit Hut, wie es damals noch mehrere gab, gerade beim SDR kam mit Bienzle sogar einer von diesem traditionellen Typen hinzu, als Odenthal schon im Dienst war. Durchaus möglich, dass dies wiederum ein ausgleichendes Angebot für Traditionalisten sein sollte. Später waren beide beim selben Sender SWR vereint.
Vielleicht wurde das 1989 anders empfunden und mein Blick ist ein wenig verstellt dadurch, dass ich sie als so normal ansehe, weil sie (etwa) meine Generation ist und Frauen, die ich an der Uni oder beim Sport kennengelernt habe, ähnlich getickt haben wie sie. Viele jedenfalls. Ich würde allerding weiter gehen und sagen, da waren ganz andere Karrierebiester dabei, denn es war auch die Zeit, in welcher der Neoliberalismus mit all seinen Begleiterscheinungen so richtig auf die Mentalität junger Leute durchgriff. So gesehen, wirkt Lena geradezu angenehm zurückhaltend und sachlich, wenig prätentiös und gar nicht als Feindbild dominanter Männer geeignet. Sie wird auch in diesem Film nie als junge Frau mit älteren Männern konfrontiert, die ihr die Kompetenz zum Ermitteln absprechen.
Sowohl dieser Aspekt als auch ihre Art, sich in die Fälle emotional so zu verstricken, dass sie persönlich angekratzt ist, wenn die Dinge sich tragisch entwickeln, sind späteren Tatorten vorbehalten. Das ist auch deshalb erstaunlich, weil es ja immerhin um Triebtäter, um Vergewaltiger geht und letztlich um einen Frauenmörder. Vielleicht war es auch ein Gesichtspunkt des Konzepts, sie erst einmal sachte einzuführen und schrittweise dominanter und präsenter wirken zu lassen. Ihren langjährigen Co-Ermittler Mario Kopper habe ich nicht vermisst, was nicht bedeutet, dass ich ihn nicht schätze. Aber sie kann es auch allein. Mit einem kleinen Trick: Sie bildet mit einem weiblichen Opfer eine Art Ermittlungsgespann, und da sind auch Szenen dabei, die wirken, als wolle man ganz unterschwellig Homosexualität zwischen Frauen andeuten – aber so, dass es absolut keine Beweise gibt, wie lange Zeit bei den Tatverdächtigen. Die Atmosphäre, die in Lenas Wohnung entsteht und an anderen Orten, ist großartig, manchmal auch bedrückend und hinreichend deprimierend – ein sehr stimmungsvoller Tatort, „Die Neue“.
Der Fall selbst zeigt wohl die bis dahin am meisten dezidierte Befassung mit Triebtätern, und zwar in gleich drei Varianten, sehr didaktisch aufbereitet, und einerseits den meisten Tatorten seiner Zeit voraus, andererseits gerade dadurch aus heutiger Sicht problematischer als Filme, die weniger genau auf Tätertypen in einem besonderen Feld der Gewaltkriminalität eingehen. Man kann auch sagen, das Genaue und Erklärende ist das, was heute dafür sorgt, dass Vieles in diesem Film kurios wirkt. Noch vor den Typen und den Therapien gilt allerdings für die Handlung, dass sie heute keine fünf Minuten Film abgeben würde.
Folgende Tatsachen sind festzuhalten: a.) Der Täter mit der sanften Maske und dem Wuschelhaar lässt jedes Mal am Tatort eine Kippe zurück, immer dieselbe Marke von Mentholzigarette. b.) Der wirkliche Täter entstammt einem Verdächtigen-Kreis, der von Beginn an feststeht. c.) Es wäre heute ein Leichtes, anhand der Kippen DNA-Abgleiche mit diesen Verdächtigen vorzunehmen und sie dadurch zu überführen, c2.) bei den Vergewaltigungen blieben auch Spuren an den Opfern zurück, die verwertbar gewesen wären, und es mussten in einer ersten Runde ja nur wenige Männer überprüft werden, weil man den Kreis der möglichen Täter so stark eingegrenzt hatte, d.) der erste DNA-Abgleich bei der Straftäter-Ermittlung in Deutschland fand 1988 statt, ein Jahr, bevor „Die Neue“ gedreht wurde, und es ist okay, dass man ihn hier noch nicht als Standard zeigt. e.) Im weiteren Verlauf wäre Lena trotzdem viel schneller vorangekommen, wenn sie den Zigarettenmarken-Aspekt nicht vernachlässigt hätte.
So sehr Lena Odenthal als Figur auch von Beginn an gelungen wirkt, so furchtbar sind ihre Ermittlungsmethoden. Besonders der ältere Ex-Triebtäter, der sich ein neues Leben mit Frau und Kind aufgebaut hat, tat mir leid, weil Lenas offensive Ermittlungen und Eingriffe in sein Privatleben ihm selbiges mehr oder weniger zerstören. Ob man das als Glück bezeichnen kann, weil seine Frau nicht gerade ein empathischer Typ ist und der Hintersinn wohl sein soll, dass das Glück für einen Mann wie Geißler einen hohen Preis erfordert und für jemanden mit seinen Neigungen immer viele emotionale Verluste beinhalten wird? Möglicherweise. Aber da ist ja noch das Kind.
Bei Koslowski, grandios gespielt von Michael Mendl, liegt die Sache anders, aber bei ihm wäre Lena auch beinahe so weit gegangen, dass sie nicht nur, wie generell bei ihrer Vorgehensweise, das Opfer Carmen (Karin Abt) mit sich herumschleppt, um dem wahren Täter eine Reaktion abzunötigen, sondern auch sich selbst in Gefahr bringt, denn dieser Koslowski ist kein zahmer Mensch. Deshalb ist er auch in der Lage, sich selbst mit Elektroschocks zu malträtieren. Der Mann hat etwas von Hannibal Lecter, aber der Tatort „Die Neue“ entstand vor „Das Schweigen der Lämmer“ und die Typen darin sind realistischer.
Dass letztlich ein gewisser Appold der Täter ist, einer, der so normal aussieht, wirkt stimmig. Und das ergibt sich schon daraus, wie er therapiert wird. Mir ist es in einem Schnelldurchlauf nicht gelungen herauszufinden, ob es die Oregon-Methode tatsächlich gibt oder gab, jedenfalls handelt es sich um eine Art Hardcore-Konfrontationstherapie, und dass die, so wie sie hier gezeigt wird, nichts bewirkt als dass die Psychopharmaka-Dosis des Patienten erhöht werden muss, ist sehr gut nachvollziehbar. Der Triebtäter als solcher wird in „Die Neue“ doch ganz schön zum Objekt spekulativ-spektakulärer Darstellungen in drei Varianten degradiert, und es gibt dabei durchaus peinliche Momente. Besonders im Fall Koslowski werden sie dadurch wettgemacht, dass der Mann auch eine ausgeprägte, eigenständige Persönlichkeit aufweist, die sein Schicksal erfahrbar macht.
Einen Hinweis auf die damalige Mentalität und wie man sich den vielleicht am meisten heraufordernden und heute noch sehr kontrovers diskutierten Triebtätern und wie sie sind und was sie anrichten, nur langsam annähern konnte, liefert auch die Tatsache, dass sowohl die Täter als auch das Opfer Carmen auf eine Weise hermetisch und kategorisiert dargeboten werden, die man heute zugunsten einer mehr vagen, um mal ein Modewort zu gebrauchen, mehr inklusiven und weniger festlegenden Darstellung solcher Typen nicht mehr bringen würde – zudem wird die junge Frau Carmen doch als ziemlich robust rübergebracht, und selbst, wenn es möglich sein sollte, dass jemand eine Vergewaltigung übersteht, ohne danach einer psychologischen Betreuung zu bedürfen, wäre es nicht gut, eine solche Ausnahme in den Mittelpunkt der Betrachtungen zu stellen und es einer Therapiesitzung während der Anwendung der Oregon-Methode zu überlassen, die unterschiedlichen Emotionen von Frauen nach ihrer Vergewaltigung kurz zu erwähnen.
Am Ende stellt Lena Odenthal, wie es vor ihr viele klassische Detektivfiguren taten und wie es Monsieur Maigret und andere taten, eine Falle. Sie erstellt eine Situation, in welcher der Täter dann wirklich konfrontiert wird – mit seinem Opfer Carmen. Und wer es vorher nicht ahnte, weil der eine Verdächtige zu sehr ein außergewöhnlicher Typ war und der andere zu bemitleidenswert, der sieht es in den Augen des Mannes. Dass er das Mädchen wiedererkennt und mehr.
Das Hörgerät als Identifikationsmerkmal ist allerdings wiederum ein typisches Plothole. Watte im Ohr sieht nicht nur anders aus als ein Hörgerät, wo es doch heißt, in solchen Momenten bemerkt man sich als Opfer plötzlich so viele Details, es hätte ja auch dazu kommen müssen, dass mehrere Opfer dieses Merkmal wahrnehmen und dass es in der Akte über den Mann vermerkt wäre, verstünde sich von selbst. Dass er das verräterische Gerät bei seinen Taten überhaupt trägt, ist ebenfalls fragwürdig. Jedenfalls braucht man nicht den lauten Fernseher als Krücke, um auf den Mann zu kommen, zumal die anderen beiden Verdächtigen ein solches Merkmal nicht aufweisen. Wie Lena da die ältere Dame im Treppenhaus befragt, das ist eine der schwächsten Szenen des Films, nicht nur, weil die Nebendarstellerin sich verhaspelt. Offenbar waren alle überzeugt von dieser Einstellung, sonst wäre sie wiederholt worden oder Augen zu und durch, das ist menschlich und kann auch beim Drehen passieren.
Finale
Der Film lässt mich etwas zwiespältig zurück. Er ist ambitioniert, durchdacht, sehr stimmungsvoll, mit einer vielversprechenden neuen Ermittlerfigur, wagt etwas, hat einige schön gespielte Szenen und insgesamt mehr gute als schlechte Momente, aber da ist auch etwas Freakiges drin, das aus den veralteten Ansichten über Triebtäter und veralteten Kommunikationsansätzen und Umgangsweisen herrührt. Andererseits ist es ja richtig, dass das „damals so war“ und dass das, was ich zuweilen als unangenehmes berührt sein empfand, genau daher kommt: Dass die 1980er noch ziemlich übergriffig und Old School waren, ungeachtet der Tatsache, dass Lena als LE schon so selbstverständlich wirkt. Interessanterweise kann ein Film dadurch mehr outdated wirken als die viel älteren Tatorte, die Klassiker aus den 1970er Jahren, die sich mehr auf sicherem Boden bewegten und im psychologischen Bereich viel mehr Interpretationsspielraum zuließen.
Ich muss mich bei der Bewertung entscheiden, ob ich dem tollen Projekt und dem Wagnis oder den Ausführungsmängeln, die aus heutiger Sicht wahrzunehmen sind, den Vorzug gebe, und entscheide mich doch fürs Projekt. Ein Tatort, das vergesse ich selten zu erwähnen, ist eben auch ein Zeitdokument. Für das, wovon wir heute sagen, Mensch, war ja damals im Grunde genau so – oder für das, was wir mittlerweile als befremdlich ansehen. Ich kann mich übrigens noch gut erinnern, dass Pantomime damals schwer in war: Im Jahr, bevor „Die Neue“ gedreht wurde, habe ich „Die Kinder des Olymp“ erstmals gesehen, selbstredend im örtlichen Arthouse-Kino.
8/10
© 2024 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2016)
Kursiv, tabellarisch: Wikipedia
| Regie | Peter Schulze-Rohr |
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| Drehbuch | Norbert Ehry |
| Kamera | Charly Steinberger |
| Schnitt | Gudrun Weber |
| Premiere | 29. Okt. 1989 auf ARD |
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