Fast dreimal so viele Studierende wie Azubis (Statista + Kommentar)

Briefing Wirtschaft, Gesellschaft, Studenten, Studierende, Akademiker, Azubis, Auzubildende, Verhältnisumkehr, Gehaltsgefüge

Die Berufswelt in Deutschland ist im Wandel. Nirgendwo wird das so gut deutlich wie am Verhältnis von Akademikern und Nichtakademikern. Dazu hat Statista eine „Rennliniengrafik“ erstellt, die die erhebliche Verschiebung seit den frühen 2000er Jahren wiedergibt.

Mehr Studis als Azubis: Statista Racing Bar Animation DE – YouTube

Die Differenz zwischen der Anzahl der Studierenden und der Auszubildenden bleibt in Deutschland groß. Gleichwohl ist diese Differenz im Jahr 2023 zumindest nicht größer geworden. Das lag zum einen an der stagnierenden Zahl der Auszubildenden und zum anderen an der leicht gesunkenen Zahl der Studierenden. Das zeigt die Statista-Animation mit Daten des Statistischen Bundesamts. 

Begleittext auf Youtube

Der Aufwärtstrend bei der Anzahl der Studierenden war in den letzten Jahrzehnten groß. So gab es im Jahr 2003 rund 2 Millionen Studierende an Hochschulen, 2023 hingegen bereits 2,9 Millionen Studierende – ein Plus von rund 43 Prozent. Die Zahl der Auszubildenden ist im selben Zeitraum hingegen um rund 23 Prozent auf 1,22 Millionen gefallen.

Der Rückgang bei der Anzahl der Auszubildenden stellt viele Betriebe vor Probleme, da sie Ausbildungsplätze nicht oder nur noch schwer besetzen können: Mehr als 68.000 Ausbildungsstellen blieben im Jahr 2022 unbesetzt. Die Anzahl der angebotenen Plätze ist seit Jahren höher als die der Bewerber. Laut des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) sind ungeeignete Bewerbungen der Hauptgrund für die Nichtbesetzung von Ausbildungsplätzen. Die Ausbildung zum Klempner hatte im Jahr 2022 den höchsten Anteil an unbesetzten Plätzen.

Ein Grund für die hohe Zahl der Studierenden dürfte sein, dass sich eine akademische Ausbildung in vielen Fällen finanziell lohnt. So ist das durchschnittliche Jahres-Bruttogehalt von Akademikern mehrere tausend Euro über dem von Berufstätigen mit einer abgeschlossenen Lehre bzw. Ausbildung.

Nun dauert ein Studium in der Regel länger als eine Ausbildung, das relativiert die obigen Zahlen ein wenig, sie bedeuten deshalb nicht, dass es fast dreimal so viele Menschen in Deutschland gibt, die studieren, wie solche, die eine Ausbildung machen. Viele haben mittlerweile beides, eine abgeschlossene Ausbildung und ein Studium.Um einen Output-Vergleich zu haben, müsste man die Abbruchzahlen in Betracht ziehen, um einen echten Gehaltsvergleich zu erstellen, müsste man in Abzug bringen, wie viel später Studierende ins Berufsleben starten. Allerdings haben auch die meisten Auszubildenden heute Abitur, das heißt, sie starten nicht mehr früher in die Ausbildung als andere in ihrem Jahrgang ins Studium.

Wir sind gewiss keine Gegner der Bildungsoffensive der 1970er, wir haben schließlich auch davon profitiert. Aber der Effekt in der zweiten und dritten Generation ist jetzt, dass sich das Gehaltsverhältnis insbesondere zwischen Handwerkern und Akademikern bald umkehren könnte, wenn die aktuelle Entwicklung anhält. Warum? Auch unter den Azubis sind die meisten in Büroberufen tätig, machen Bank- oder sonstige Kaufmannslehren, das vor allem, außerdem gibt es auch im IT-Bereich mittlerweile Lehrberufe. Nicht zu vergessen, dass fast 6 Millionen Menschen in Deutschland im Gesundheitswesen tätig sind und dort dringend Nachwuchs gebraucht wird.

Das bedeutet, dass sich die aktuelle Tendenz fortsetzen und verschärfen wird, dass händische Tätigkeiten unbeliebt sind, aber gebraucht werden und vorerst nicht durch KI ersetzt werden können. Viel weniger jedenfalls als manche Büroberufe.

Wir werden in einem Update noch auf die Gehaltsstruktur eingehen, so viel vorweg: Die Unterschiede sind angesichts des höheren Bildungsaufwands, auch nach dem Studium, den Akademiker betreiben, nicht so groß. Vor allem dann nicht, wenn man bedenkt, dass es einige Akademiker gibt, die herausragend verdienen, während bei vielen Ausbildungsberufen die Gehaltsaussichten gedeckelt sind. Das heißt, viele Akademiker liegen unter dem Durchschnitt ihrer eigenen Bildungsstufe, was durch einige Topverdiener wie Ärzte, Anwälte, Unternehmer mit Studium usw. kaschiert wird. Wir glauben, dass sich das Medianeinkommen von Akademikern und Nichtadademikern mehr und mehr angleichen wird. Kippen wird es vermutlich nicht, wegen der Topverdiener mit Hochschulabschluss, aber es wird zu Verschiebungen kommen. Das ist ein Ergebnis von Angebot und Nachfrage. Viele akademische Berufe heutiger Prägung sind außerdem kaum noch von Ausbildungen zu unterscheiden, was das Niveau angeht. Nicht, weil man die Ausbildungen so extrem hochgezogen hat, sondern weil das Studium im Bologna-Prozess geschreddert wurde. Wenn wir so mitbekommen, wofür es heutzutage alles „Credit Points“ gibt, stellen sich uns Fragen bezüglich der Ernsthaftigkeit des akademischen Anspruchs.

Das wirkt sich natürlich auch auf die Jobaussichten aus, und es führt zu einem immer mehr überbordenden „Wasserkopf“ von Menschen, die nicht mehr produktiv tätig sind in dem Sinne, dass sie etwas Sichtbares oder Gebrauchsfähiges schaffen. Wir staunen immer wieder, wie viele Institute für alles Mögliche es in Deutschland mittlerweile gibt. Überall wird gespart, nur in dem Bereich nicht, man hat das Gefühl, es werden immer mehr solcher Thinktanks aller Art ins Leben gerufen. Wenn sich dadurch wenigstens für die Realität der Mehrheit etwas verbessern würde, dann hätten wir auch dagegen nichts, aber unser Eindruck ist, dass unglaublich viel heiße Luft in dem Sinne erzeugt wird, dass die politischen und wirtschaftlichen Entscheider:innen sich schlicht einen Kehricht um das kümmern, was aufopferungsvoll in unzähligen Studien analysiert wird und vor allem eines klarmacht: Es gibt Grund, sich Sorgen zu machen. Zum Beispiel darüber, dass auch die obige Statistik die Politiker nicht ins Grübeln bringen wird. Die Unternehmer übrigens auch nicht, denn es sind oft die unzulänglichen Arbeitsbedingungen, die junge Menschen Abstand von einfachen Berufen nehmen lassen. Der persönliche Umgang ist in solchen Betrieben oft komplett hinter der Zeit.

Nun sind die Ersteller der Studien, allesamt Akademiker, aber keine Aktivisten, und ihre Tätigkeit schafft keinen gesellschaftlichen Vortrieb. Oder höchstens dann, wenn der Zeitgeist sowieso in diese Richtung tendiert, woran man natürlich mitwirken kann. Tut er aktuell aber nicht, und das heißt, wir haben riesige Kontingente von Menschen, die zwar nicht im Leerlaufmodus sind, aber nicht wirksam werden für die Gesellschaft. Sicher ist unsere Beobachtung von Berlin geprägt, das besonders kopflastig ist, und viele Jobs sind wirklich notwendig, um den Laden am Laufen zu halten. Damit wollen wir andererseits dem üblichen Bashing von Menschen entgegentreten, die nicht sichtbar für alle am schwerlastigen Werk sind.

Das Verhältnis macht’s, und in Deutschland steht mittlerweile die Ausbildungssituation genauso in einem Missverhältnis wie quasi alles andere, ist ein Symbol für unzählige Fehlstellungen und verstärkt oder produziert diese teilweise auch. Wenn man bedenkt, wie klein die hier in Rede stehenden Jahrgänge der Studierenden und Auszubildende insgesamt sind, kann man sich die Situation in manchen Berufen wie einen Trichter vorstellen, durch den nur ab und zu mal ein junger Mensch ins Arbeitsleben tröpfelt.

Das wird den ohnehin schlechten Service in Deutschland weiter abwärts treiben und wir sehen einen Effekt kommen, der für weitere Schieflagen sorgen wird: Leistungen werden nicht nur mit ewigen Wartezeiten verbunden sein, auch wenn sie dringend erbracht werden müssten, es wird sie sich auch nicht mehr jeder leisten können. Akademiker, die sich keine Handwerker für allfällige Reparaturen leisten können, das wird in Zukunft häufiger vorkommen. Wir sehen das überhaupt nicht mit Wohlgefallen, weil wir die politische Einstellung vieler „händisch arbeitender“ Menschen kennen, aber die Fakten lassen sich nicht beiseiteschieben.

Statistiken sind ja deswegen so interessant, weil sie auf den Punkt bringen, weil sie zahlenmäßig untermauern, was wir im Alltag sehen oder sehen werden. Das gilt jedenfalls für die großangelegten, wichtigen Statistiken, die sich mit der Bevölkerungsstruktur befassen.

Vielleicht sollten sich junge Akademiker darauf einstellen, viele Dinge im wörtlichen Sinne selbst in die Hand zu nehmen, wofür eine kleine Zusatzausbildung oder der eine oder andere Nebenjob an der Basis nicht schädlich wäre. Das erdet auch und man ist nicht so extrem in einer Blase verortet, die mit der Realität „da draußen“ in der Tat nicht immer viel zu tun hat.

Als wir Abitur gemacht hatten, war das alles noch kein Thema. Abiturienten machten etwa 25 Prozent eines Jahrgangs aus, dass sie anschließend eine Ausbildung machten, war die Ausnahme. Durch diese niedrige Zugangsquote zum Studium war gesichert, dass Studierende nicht die Mehrheit eines Jahrgangs stellen konnten.

Gute Handwerksleistungen waren noch nie billig, aber in den vielen Produktionsbetrieben konnte man auch ohne Studium einen hochwertigen und wertschöpfenden Arbeitsplatz bekommen. Seitdem hat sich die Industriequote am BIP in Deutschland aber von 40 auf etwas über 20 Prozent vermindert. Das heißt, die Zeiten, in denen auch für Nichtakademiker sehr attraktive Arbeitsplätze in großer Anzahl angeboten wurden, werden wir wohl nicht wieder sehen, zumal die Politik alles dafür tut, den Wert der Dinge auf den Kopf zu stellen. Natürlich kann kein menschlicher Organismus lange auf dem Kopf stehen, ohne gesundheitlich Schaden zu nehmen,das wird sich anhand der Zukunft des Landes noch erweisen.

TH


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