Filmfest 1189 Cinema – Die große Rezension
Der große Eisenbahnraub (Originaltitel: The Great Train Robbery) ist ein zwölfminütiger US-amerikanischer Spielfilm aus dem Jahre 1903 und einer der ersten Western der Filmgeschichte.[1]
Eigentlich wollten wir uns in aller Ruhe vorarbeiten, vielleicht nach den Eineinhalbminütern des Vorjahres ein schöner Dreiminutenfilm aus dem Jahr 1903? Und dann ist es passiert. Wir kamen nicht um eine Großproduktion herum, die satte 150 Dollar gekostet hatte und unfassbare zwölf Minuten Spielzeit umfasst. Sie werden, wenn Sie sich ein wenig auskennen, schon wissen, worum es geht. Natürlich um „The Great Train Robbery“, der erste Film aus den USA, der nicht nur Spezialisten etwas sagen dürfte, sondern vielen als erster richtiger Spielfilm gilt und als erster Western. Beides stimmt nicht, wobei es auch auf die Definition ankommt.[2] Der andere interessante Film aus dem Jahr 1903 wäre die erste Verfilmung von „Onkel Toms Hütte“ gewesen, vom selben Regisseur, der auch den großen Eisenbahnraub inszeniert hat, Edwin S. Porter. In den USA waren damals die Edison Studios führend, und Porter war dort Produktionschef und Chefregisseur in einer Person. Aber „Onkel Toms Hütte“ wäre sogar 19 Minuten lang gewesen, und wir wollten so wenig Übertreibung wie möglich.
Der Film kam auch etwas später in die Kinos als dieser vielleicht nicht erste, aber prototypische Western und stellte insofern eine weitere Steigerung dar. Und noch etwas gilt als gesichert: „Der große Eisenbahnraub“ war aufgrund seines großen Erfolgs die Initialzündung für die Entwicklung der riesigen Filmindustrie der USA. Zuvor war man nicht sicher, ob die laufenden Bilder wirklich ein Geschäft werden würden. Und das war wichtiger als die künstlerische Entwicklung. Dass es zum Beispiel in Frankreich schon seit Jahren den Filmzauber von Georges Méliès gab, hatte zunächst in den USA nicht für einen Sprung der Qualität hin zum narrativen Spielfilm gesorgt, aber wir werden im Verlauf der Rezension noch lesen, dass diese Filme und auch die „Brighton School“ in England sehr wohl einen Einfluss auf das Entstehen von „The Great Train Robbery“ hatten. „Der große Eisenbahnraub“ ist aber so typisch amerikanisch, dass er Film ein Knaller werden musste, sofern dieses neue Medien überhaupt Chancen auf Massenwirksamkeit behalten sollte, nachdem die erste Sensation, nämlich, dass es überhaupt Filme gab, schon ein wenig lange her war. Und diese Wirksamkeit „Der große Eisenbahnraub“ bewiesen und zu mehr ermutigt.[3]
Gleichwohl war die Initialzündung bei Regisseur Edwin S. Porter offenbar das Betrachten der Filme von Méliès, der Franzose, der damals schon richtige, zudem fantastische Geschichten erzählte, soll großen Einfluss darauf gehabt haben, dass Edwin S. Porter begann, handlungsorientierte und längere Filme zu drehen.[4]
Handlung (1)
In 14 Szenen wird die Geschichte eines Überfalls auf einen Eisenbahnzug sowie die Verfolgung der Räuber durch den Sheriff erzählt.
Zwei maskierte Banditen überfallen den Angestellten eines Telegrafenbüros und zwingen ihn, durch ein Haltesignal den Zug zu stoppen. Nachdem der Angestellte gefesselt und geknebelt wurde, besteigen vier Banditen während des Halts heimlich den Zug. Als der Zug wieder losfährt, versuchen sie die Tür zum Postwagen aufzubrechen. Als der Schaffner dieses bemerkt, schließt er den Tresor mit den Wertsachen ab und wirft den Schlüssel aus dem fahrenden Zug. Als zwei Räuber endlich die Tür aufbrechen können, kommt es zu einem Schusswechsel, bei dem der Schaffner erschossen wird. Nach einer erfolglosen Suche nach dem Schlüssel wird der Tresor mit Dynamit aufgesprengt.
Zur gleichen Zeit schleichen sich die beiden anderen Räuber an den Lokführer und den Heizer heran. Dabei kommt es zu einem Handgemenge mit dem Heizer, welcher aber niedergeschlagen und aus dem fahrenden Zug geworfen wird. Daraufhin wird auch der Lokführer überwältigt, der gezwungen wird, den Zug anzuhalten und die Passagierwagen abzukoppeln. Anschließend werden die Reisenden vor dem Zug versammelt und ausgeraubt. Als ein Passagier zu fliehen versucht, wird er niedergeschossen. Nachdem die Wertsachen eingesammelt worden sind, besteigen die Räuber die Dampflokomotive und verlassen den Schauplatz ihres Verbrechens. Nach einiger Zeit stoppen sie die Lokomotive und setzen ihre Flucht zu Pferd fort.
Inzwischen wird der gefesselte Telegrafenangestellte von seiner Tochter entdeckt und befreit. Er eilt sofort in die Stadt, wo er von dem Überfall berichtet. Der Sheriff bricht mit einigen Gefolgsleuten auf, um die Räuber zu verfolgen. Nach einer Verfolgungsjagd und einem Schusswechsel, bei dem ein Bandit getötet wird, glauben die übrigen Räuber zunächst, ihren Verfolgern entkommen zu sein, doch wird ihr Versteck entdeckt und die Räuber werden nach und nach in einem finalen Schusswechsel erschossen.
In einer letzten Einstellung sieht man den Anführer der Räuber in Nahaufnahme, wie er seinen Revolver zieht, direkt in die Kamera zielt und schießt, bis die Trommel leer ist.
Rezension & Information
Natürlich ist auch dieser Film, wie alle, die wir bisher im Jahr-für-Jahr-Modus der dritten US-Chronologie rezensiert haben, wieder mit einem „first“ versehen. Er war eben der erste Spielfilm seiner Art, auch wenn er von Standards, die schon wenige Jahre später erreicht wurden, weit entfernt war.
Die erste Sensation war, dass in dem Film nicht weniger als sieben oder acht Personen das Zeitliche segnen, inklusive der Eisenbahnräuber, die am Ende von einer „Posse“, also einer zivilgesellschaftlichen, spontan unter der Leitung des örtlichen Sheriffs zusammengerufenen Verfolgerschar, getötet werden. Und das innerhalb von zwölf Minuten. Spätestens mit diesem Film war das berühmt-berüchtigte amerikanische Gewaltkino geboren. Und das Ganze wird auf eine so rudimentäre, um nicht zu sagen selbstverständliche und beinahe alltägliche Weise dargestellt. Sogar eine Steigerung der Gewaltorgie ist zu vermelden, ein Finale, als die Verfolger die Räuber in einem glücklicherweise sehr lichten Wald aufspüren, der sich bestens eignet, um dem Zuschauer den Überblick über das Geschehen nicht mit Laubwerk zu verstellen. Man konnte ja nur Totalen filmen bzw. hat das hier, bis auf die ikonische Schlussszene, getan.
Es gibt in dem Film also schon den titelgebenden Eisenbahnraub, es gibt Fahrtszenen in einem Zug, natürlich mit einer echten Rückprojektion aufgenommen (im Geldtransportwagen), aber auch tatsächlich schon auf dem fahrenden Zug gefilmt, was ich sensationell finde. Es gibt die Zivilgesellschaft, die gerade ein Tanzvergnügen abhält, als der Sheriff kommt und einige der Männer braucht, um die Räuber zu jagen, es gibt einen Massenshowdown, der natürlich noch nicht stilisiert, sondern kurz und schmerzvoll ist. Außerdem werden Schüsse und fallende Männer noch ohne Umschnitt gezeigt. Das war später aus Zensurgründen nicht mehr möglich. Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass zwischen Ereignis (Schuss) und Ergebnis (jemand stirbt) in Tonfilmen der klassischen Ära ein Schnitt gelegt wurde, da Gewalt und Folge nicht so unverblümt zusammenhängend dargestellt werden durften. Wer die USA heute beobachtet, der denkt sich. Die Gewalt-Bigotterie hat schon früh angefangen, spätestens mit der verbindlichen Einführung des Production Code 1934. Einunddreißig Jahre zuvor war noch alles ganz ungeschminkt. Außerdem war „The Great Train Roberry“ kein „Period Piece“, sondern damals ein Gegenwartsfilm. Das ging noch, Western nicht rückblickend zu drehen. Zumindest solche mit einem Zugüberfall als Handlungszentrum, die „Indianerkriege“ hingegen waren bereits zu Ende. Butch Cassidy, der von Paul Newman 1969 zusammen mit Robert Redford als „The Sundance Kid“ im Film unsterblich gemacht wurde, führte um 1900 tatsächlich noch Raubzüge wie den hier gefilmten durch. Ob sie auch so blutig waren, wie in „The Great Train Robbery“ dargestellt? Die deutsche Wikipedia gibt das zumindest nicht her.[5]
Der große Eisenbahnraub zählt zu den bekanntesten Werken aus den frühen Jahren des Kinos. Er ist nicht der erste Film, der als Western eingeordnet werden kann. So entstand 1899 in Großbritannien Kidnapping by Indians,[1] der diesem Genre zugeordnet werden könnte.[2][3] 1901 bereits kamen der US-amerikanische Kurzfilm Stage Coach Hold-up (in the Days of ’49)[4] und 1903 der britische Kurzfilm Robbery of the Mail Coach[5][6] heraus. Beide Werke behandelten die Thematik „Hinterhalt, Überfall auf Reisende“ (i. d. F. einer Postkutsche) durch „Highwaymen“ bzw. „Banditen“, also Räuber. Die Inszenierung von Überfällen auf Reisende kam in Theaterstücken und Bühnenshows schon länger vor, welche als Inspiration für die ersten filmischen Darstellungen gelten können.[7]
Der Film Der große Eisenbahnraub basiert auf einer 1896 veröffentlichten Geschichte von Scott Marble (1847 – 1919) und auf einem ähnlich abgelaufenen Überfall der Bande von Butch Cassidy aus dem Jahre 1900.
Während als die Zugräuber später eine Huldigung erfuhren, hat man „The Great Train Robbery“ vonseiten der moderneren Filmforschung ein wenig am Zeug zu flicken versucht, ihn gar als Sackgasse für Edwin S. Porter und die Edison Manufactoring Company bezeichnet. Technisch sei er schon nicht mehr Avantgarde gewesen und die Narration ebenjene Sackgasse. Was damit gemeint gewesen sein könnte? Ich versuche, meine eigenen Beobachtungen voranzustellen: Die vielen Tropen, die in dem Film verwendet werden und die den Western über 120 Jahre prägen sollten, können es nicht gewesen sein, sie stellten sicher nicht das Problem dar, denn auf ihnen fußt die Narration im Film teilweise bis heute, und diese westerntypischen Elemente habe sich weiterbewegt ins Actionkino, in Science Fiction und Fantasy.
Dafür gibt es auffällig wenig Charakterzeichnung. Keine Person tritt als Mensch irgendwie hervor, daher ist auch keine Identifikation mit der einen oder anderen Seite möglich. Der Film hat etwas geradezu Dokumentarisch-Distanziertes. Es gab 1903 schon Kinostücke, die deutlich mehr „Personality“ zeigten, gerade in Europa, aber auch die kurzen Filme aus den USA, die wir uns bisher angeschaut hatten, zeigten mehr etwas wie „Eigenschaften“ der Mitwirkenden, obgleich das damals wohl generell nicht die Stärke des amerikanischen Films war. Erst die nächste Generation von Filmpionieren sollte das radikal ändern und heute noch weltberühmte Melodramen schaffen, die Zuschauer über Stunden hinweg tragen, zum Lachen und zum Weinen bringen konnten, unter anderem David Wark Griffith, der bei Edwin S. Porter wiederum hospitiert hatte. Teilweise stimmt unsere Beobachtung mit dem überein, was in der amerikanischen Wikipedia zur wenig innovativen Filmweise zu lesen ist, aber es gibt auch Anmerkungen zur Technik, für die meine Kenntnisse über damalige Filme noch nicht tief genug sind, deswegen packen wir sie in eine Fußnote, zusammen mit den bestätigenden Angaben zum Inhalt.[6] Dass es Sprünge und Unerklärtes gibt, den Eindruck hatte ich allerdings auch, insbesondere während der Tanzszene.
Einer der Schauspieler, Max Aronson, der gleich in drei Rollen auftrat, wurde wenige Jahre später unter dem Pseudonym Gilbert M. Anderson selbst Filmproduzent und Regisseur und schuf mit der von ihm verkörperten Figur Broncho Billy den ersten Star des Westerngenres. Viele Westernklischees wie das durch Pistolenschüsse auf den Boden zum Tanzen animierte Greenhorn finden in Der große Eisenbahnraub ihren Ursprung.
Aus „Der große Eisenbahnraub“ nämlich hätte sich niemals „Stardom“ ergeben können, weil das Schauspiel dazu viel zu rudimentär ist und keine Figur deutlich in den Vordergrund gerückt wird, im wörtlichen wie im handlungstechnischen Sinne.
Neu war die Anwendung der erst seit Beginn des Jahrzehnts bekannten Möglichkeiten des Filmschnitts. Durch den Einsatz von Parallelmontagen und Jump Cuts gelang es Porter, zwischen gleichzeitig stattfindenden Ereignissen hin und her zu springen, wodurch die Spannung für den Zuschauer erhöht wurde. Durch einen Stopptrick wurde es möglich, eine lebensgroße Puppe als „Heizer“ vom Zug zu werfen. In anderen Szenen arbeitete Porter mit Ellipsen, um die Handlung schneller voranzubringen. Trotz dieser Dynamik in der Montage war die Kamera selbst noch statisch, doch sind in einigen Szenen bereits Kameraschwenks eingesetzt, um den Handlungsort innerhalb einer Szene zu verlagern.
Diese Beschreibung wiederum lässt darauf schließen, dass der Film technisch nicht hinter der Zeit war, zumindest nicht die Montage betreffend, und die Kamerarbeit sollte noch für Jahre überwiegend statisch bleiben. Später trug das deutsche Kino viel dazu bei, die Kamera zu „entfesseln“ und damit den Film ein gutes Stück weiter auf seinem Weg zum heutigen Gepräge zu bringen.
Die berühmteste Szene aus Der große Eisenbahnraub ist die Schlussszene mit Justus D. Barnes, der seine Waffe direkt auf die Kamera richtet und abfeuert. Es wurde erzählt, dass das Kinopublikum bei dieser Szene häufig in Panik geriet, doch dürften diese Schilderungen übertrieben sein und hauptsächlich der Werbung für den Film gedient haben. Porter war sich der Wirkung dieser Szene bewusst, sie steht in keinem Zusammenhang zu den übrigen Szenen des Films und konnte, so eine Anweisung für die Filmvorführer, wahlweise zu Beginn oder zum Ende des Films eingefügt werden. Im deutschsprachigen Raum ist diese Szene vor allem durch die Fernsehserie Western von gestern bekannt, wo sie sowohl im Vorspann als auch im Nachspann gezeigt wurde.
Dazu muss ich eine persönliche Anmerkung schreiben: „Western von gestern“ gehörte zu den Fernsehsendungen, die mein Interesse am Kino geweckt hatten, wobei ich damals freilich noch nicht erkannte, dass es sich bei diesen Schüssen in die Kamera um die Schlusseinstellung eines Films handelte, der noch viel älter war als die damals gezeigten Streifen aus den 1930ern und 1940ern, die natürlich schon mit Ton kamen. Einige der Film zeigten Stars wie John Wayne, andere sehr spezifische Darsteller in Western-Serials der USA. Ich hatte die Szene aus „Der große Eisenbahnraub“ wohl als aus den häufig gezeigten „Fuzzy“-Serials extrahiert angesehen, zwar bemerkt, dass das Bild sehr flimmerig und voller Verschleißstellen war, aber mangels Kenntnissen über das Medium daraus nicht sogleich geschlossen, dass das Filmmaterial noch viel älter sein musste.[7]
Der große Eisenbahnraub wurde ein großer kommerzieller Erfolg und zu einem der erfolgreichsten Filme von Edisons Filmstudio, bei sehr geringen Herstellungskosten von nur 150 US-Dollar (heute entsprechend 4.767 US-Dollar). Er zog zahlreiche Nachahmungen nach sich, an denen sich die Firma Edison selbst mit Filmen wie der Filmparodie The Little Train Robbery (1905) beteiligte. In den aufstrebenden Nickelodeons gehörte Der große Eisenbahnraub jahrelang zum Standardrepertoire; er gilt als das Werk, das die Zukunft des Mediums Film sicherte. Zudem galt dieser Film als Leitfaden für andere Filmemacher, bis D. W. Griffith zu Beginn der 1910er Jahre die durch Porter im US-amerikanischen Film etablierten Techniken weiter perfektionierte.
Im Vergleich zu anderen Werken der 1900er Jahre ist dieser – erstmals am 1. Dezember 1903 in die US-Kinos gekommene – Film in gutem Zustand. Von dem in der Library of Congress aufbewahrten Kameranegativ können Kopien gezogen werden. Von dem Film existieren außerdem handkolorierte Fassungen, in denen beispielsweise die Explosionswolken eingefärbt sind. 1990 wurde Der große Eisenbahnraub in das National Film Registry aufgenommen.
Finale
Ungewöhnlich für die damalige Zeit wurde der Film sogar in der New York Times ausführlich beschrieben; Der anonyme Rezensent kritisierte die meisten Spieler, lobte aber die Reiten und Stunts und kam zu dem Schluss: „All dies ist das Ergebnis schlechter Schauspielerei, aber die Ergebnisse sind sicherlich erstaunlich.“ [21]/[8]
Schauspielerführung im engeren Sinne kommt in dem Film nicht vor, das habe ich oben schon erwähnt, wobei es eine kleine, sozusagen niedliche Ausnahme gibt: Das kleine Mädchen, das die Tochter des Bahnhofswärters spielt, der niedergeschlagen und gefesselt wurde. Der erste Kinderstar des amerikanischen Films?
In den Jahrzehnten nach dem großen Zugraub entwickelten sich verschiedene ungenaue Legenden, die die historische Bedeutung des Films übertrieben. [40] Um die Mitte des Jahrhunderts waren die irrtümlichen Behauptungen üblich, es sei der „erste Western“ oder sogar der „erste Story-Film“ gewesen. [31] Der Historiker Scott Simmon kritisiert diese ungenauen Legenden und verweist auf den fehlenden Einfluss des Films auf das Western-Genre und kommentiert, dass die „größte Überraschung im Nachhinein darin besteht, dass der Film nirgendwo hinführte, weder für seinen Schöpfer noch für das Genre, außer dass er lose als narratives Modell für waffenschwingende Verbrechen und Vergeltung mit Pferden diente.“ [39] Behauptungen über die historische Priorität wurden von Autoren für das breite Publikum bis ins frühe 21. Jahrhundert hinein wiederholt. [41]
Spätere Filmkritiker, die die übertriebenen Behauptungen aufgegeben haben, tendierten dazu, die Bedeutung des Films vor allem mit seiner großen Popularität und Porters einflussreicher, actionorientierter Erzählweise zu erklären. William Everson und George Fenin nannten ihn „den ersten dramatisch kreativen amerikanischen Film“, während Robert Sklar die Fähigkeit des Films lobte, „das Filmspektakel mit Mythen und Geschichten über Amerika zu vereinen, die von Menschen auf der ganzen Welt geteilt wurden“. [24] Historiker haben The Great Train Robbery als Porters wichtigsten Film bezeichnet,[42] und ihn als einen populären frühen Film bezeichnet, der zahlreiche wichtige Western-Tropen versammelt, wie z.B. „Elemente von Handgreiflichkeiten, Verfolgungsjagden zu Pferd und Schießereien“. [31] Die Filmhistorikerin Pamela Hutchinson hebt vor allem die ikonische Nahaufnahme hervor, „ein Ruck des Schreckens, der so beunruhigend ist wie eine Hand, die aus einem Grab hervorbricht“:
Es gibt nur wenige Filme, die in jeder Hinsicht zur Zeit ihrer Entstehung ganz vorne waren, die meisten epochalen Werke haben ihre Schwächen, aber eben auch besondere Stärken. Die Stärke von „Der große Eisenbahnraub“ ist ganz sicher, dass er das im Entstehen begriffene amerikanische Volksmärchen, den Western, in dieser Vollständigkeit erstmals für den Film adaptierte. Zur Legendenbildung trug er wohl weniger bei, weil nichts stilisiert, nichts mit einer bestimmten Moral oder gar einem Mythos verbunden wird, bis auf die Tatsache, dass die Guten siegen, selbstverständlich. Dass die Räuber mit der Beute davonkommen, wie in der Realität Butch Cassidy und Sundance Kid, die um 1905 nach Südamerika ausrückten, weil ihnen der Boden in den USA zu heiß geworden war, das war prinzipiell nicht möglich, bis der erwähnte Production Code in den späten 1960ern endgültig ad acta gelegt wurde. Auch danach mussten Gauner sympathisch sein, damit sie ein gute Ende haben konnten und vor allem durften sie keine Mörder sein. Vielleicht war das Publikum von „The Great Train Robbery“ wirklich zum Zerreißen gespannt, wie es ausgeht, weil es an diese Konventionen noch nicht gewöhnt war und der Film die benannte dokumentarische Anmutung hat – und weil es in der Realität eben teilweise anders lief, als wir es hier sehen, zumindest, wenn man davon ausgeht, dass die Taten von Cassidy / Sundance Kid als Vorlage dienten.
Die Dichte der Action hätte heute trotz aller Exzesse bei der Handlungsorientierung etwas geradezu Comic- oder Slapstickhaftes, auch diese Rasanz hat dem Publikum sicherlich gefallen. Wenn es schon keine Stilisierung ab, eine Portion Übertreibung kann nie schaden, dieses Wissen hat das US-Kino nachhaltig geprägt.
Dass es quasi Plotholes gibt und kaum Spiel, spricht im Grunde nicht gegen den Einfluss des Films, denn seine Tropen wurden zu Standards. Die Filmwissenschaftler wissen sicher, warum die heute die Wirkung von „The Great Train Robbery“ auf spätere Filmemacher einschränken möchten, ich kann nur beurteilen, was ich gesehen habe. Und das ist, dass der Film bahnbrechend und auch ein Dammbruch gewesen ist, dass sein Stil die Heraushebung von Personen vermissen lässt, aber dafür fast exakt das Handlungsmuster liefert, nach dem viele Filme, nicht nur Western, in der Folge gestrickt wurden.
Daher zählt er für mich nicht nur als einer der „Firsts“, die wir besprechen, sondern auch zu den historisch besonders wichtigen Filmen. Das sichert ihm auch eine „hohe Bewertung aus Gründen der historischen Bedeutung“, die höchste, die wir bisher im Rahmen der dritten US-Chronologie vergeben. Auch die IMDb-Nutzer gehen mit 7,3/10 für einen aus heutiger Sicht doch schlichten Stummfilm sehr hoch.
78/100
© 2024 Der Wahlberliner, Thomas Hocke
| Regie | Edwin S. Porter |
|---|---|
| Drehbuch | Scott Marble, Edwin S. Porter |
| Kamera | Edwin S. Porter, Blair Smith |
| Besetzung | |
|
|
Kursiv ohne Fußnote: Wikipedia, tabellarisch: Wikipedia
[1] Der große Eisenbahnraub (1903) – Wikipedia
[2] Der große Zugüberfall (Film aus dem Jahr 1903) – Wikipedia: Westernthemen waren bereits in Filmen und anderen Unterhaltungsfilmen beliebt, was das breite öffentliche Interesse an Geschichten über die Vergangenheit und Gegenwart des amerikanischen Westens widerspiegelt. Viele amerikanische Filme vor 1900 können als Western klassifiziert werden,[12] wie z.B. Darstellungen des Cowboy-Lebens, inszenierte Western-Anekdoten wie A Bluff from a Tenderfoot und Cripple Creek Bar-Room Scene (beide 1899) sowie Aufnahmen von Annie Oakley und von Oglala– und Brulé-Tänzern aus Buffalo Bills Wild West Show (beide 1894). [13] Auch Studios im Ausland begannen schon früh, westliche Geschichten zu erzählen, wobei Mitchell und Kenyons britischer Film „Kidnapping by Indians“ aus dem Jahr 1899 das erste bekannte Beispiel dafür war. [14] Edisons Film „Stage Coach Hold-up“ aus dem Jahr 1901, der auf Buffalo Bills „Hold-up of the Deadwood Stage“-Akt basiert, beeinflusste Porter wahrscheinlich direkt. [11] Porter könnte sich auch von den jüngsten realen Ereignissen im Zusammenhang mit dem amerikanischen Westen inspirieren lassen: Im August 1900 hatten Butch Cassidy und seine Bande einen Zug der Union Pacific Railroad ausgeraubt und waren der Gefangennahme entkommen,[15] und im September 1903 überfiel Bill Miners Bande erfolglos einen Zug der Oregon Railroad and Navigation Company. [16]
[3] Der große Zugüberfall (Film aus dem Jahr 1903) – Wikipedia: In den Jahren vor The Great Train Robbery war die Filmindustrie von viel Innovation und Vielfalt geprägt. Einige Studios, wie die Edison Manufacturing Company und die Lumière Company, waren vor allem für kurze Skizzen und Realfilme bekannt, die in einem geradlinigen Stil präsentiert wurden,[2] oft nur eine einzige Einstellung lang. [3] Andere Filmemacher strebten jedoch aufwendigere Produktionen an; Georges Méliès‚ Filme, wie der internationale Erfolg Eine Reise zum Mond aus dem Jahr 1902, wurden für ihre visuelle Erzählweise gefeiert, die oft mehrere Szenen umfasste und einen sorgfältigen Schnitt und komplizierte Spezialeffekte erforderte. In der Zwischenzeit machten britische Filmemacher, die in und um Brighton arbeiteten, eine Gruppe, die später den Spitznamen „Brighton School“ erhielt, viele Innovationen in der Grammatik des narrativen Films und entwickelten Konventionen für Bildausschnitte und Schnitte, die zu Industriestandards werden sollten. [4]
[4]Der große Zugüberfall (Film aus dem Jahr 1903) – Wikipedia: Seine frühen Filme waren Skizzen und Aktualitäten im einfachen Stil, den andere Edison-Mitarbeiter verwendeten. [2] Seine Arbeit gab ihm aber auch die Möglichkeit, die vielen ausländischen Filme zu sehen, die die Firma Edison vertrieb und raubkopierte,[6] und um 1901 oder 1902 entdeckte er die komplexeren Werke von Méliès und der Brighton School. Porter begann mit Versuchen, Edison-Filme auf ein ähnliches Erfolgsniveau zu bringen,[2] und erinnerte sich später: „Nach der Laboruntersuchung einiger der populären Filme des französischen Pionierregisseurs George Méliès – Trickfilme wie Eine Reise zum Mond – kam ich zu dem Schluss, dass ein Bild, das eine Geschichte erzählt, die Kunden zurück in die Kinos locken könnte. und machte sich in dieser Richtung an die Arbeit.“ [7] (…) Das Edison-Studio, das mit wachsender Konkurrenz durch andere amerikanische Unternehmen konfrontiert war, begrüßte Porters ehrgeizige Pläne. [6] Zu seinen ersten großen Versuchen mit aufwendigen Erzählfilmen gehörten 1902 eine Adaption von Jack und die Bohnenranke in Imitation von Méliès und 1903 das Leben eines amerikanischen Feuerwehrmanns im Stil eines bemerkenswerten Brighton School-Films, Fire![8] Seine Filme liefen gut und waren einflussreich, was durch seinen Status als führender Filmemacher des wichtigsten amerikanischen Studios untermauert wurde. [6] Im Oktober 1903 tat sich Porter mit einem neuen Edison-Mitarbeiter zusammen, Max Aronson, einem jungen Bühnenschauspieler, der als G. M. Anderson angekündigt wurde
[5] Butch Cassidy – Wikipedia. Das kann man daraus schließen, dass ein Mord im Jahr 1905 eigens erwähnt wird, der aber nicht von Cassidy oder Kid ausgeführt wurde. Anders als „Bonnie und Clyde“ werden die beiden Outlaws auch im Film von 1969 sehr positiv dargestellt, was wohl nicht der Fall gewesen wäre, wenn sie bei ihren Tätigkeiten eine Blutspur hinter sich hergezogen hätten.
[6] Der große Zugüberfall (Film aus dem Jahr 1903) – Wikipedia: Porters visueller Stil für The Great Train Robbery war für 1903 nicht auf der Höhe der Zeit; Er ist vergleichbar mit zahlreichen anderen Filmen, die etwa zur gleichen Zeit veröffentlicht wurden, wie z.B. The Escaped Lunatic, eine beliebte Komödie der Biograph Studios über Wärter, die einen Ausbrecher aus einer psychiatrischen Anstalt jagen, und Runaway Match, ein britischer Gaumont-Film mit einer ausgedehnten Verfolgungsjagd mit einem Auto. [11] Mary Jane’s Mishap, eine bahnbrechende schwarze Komödie, die von den Brighton-Pionieren G. A. Smith und Laura Bayley gedreht und Monate vor The Great Train Robbery veröffentlicht wurde, ist in ihrem Schnitt und ihrer Gestaltung weitaus ausgefeilter. [22] Porters Stil räumte der Action Vorrang vor den Charakteren ein, wobei die meisten Figuren in Weitwinkelaufnahmen nicht zu unterscheiden waren; Die Inszenierung mischt inkonsistent stilisierte theatralische Blockierungen mit naturalistischerer Action. Der Film lässt auch viele erzählerische Punkte mehrdeutig und erfordert Erklärungen, die von einem Live-Erzähler oder von der Vorstellungskraft des Publikums ausgefüllt werden müssen. [23]
[7] Western von gestern – Wikipedia
[8] Der große Zugüberfall (Film aus dem Jahr 1903) – Wikipedia
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