The Kleptomaniac (USA 1905) #Filmfest 1194

Filmfest 1194 Cinema

The Kleptomaniac ist ein US-amerikanisches Stummfilmdrama aus dem Jahr 1905 unter der Regie von Edwin S. Porter, das teilweise vor Ort in New York gedreht wurde und die diskriminierende Behandlung der Armen durch das Justizsystem anprangert. Es ist eines der ersten amerikanischen Sozialdramen und Gerichtsdramen[1]/[1]

Nachdem wir aus dem Jahr 1903 (selbstverständlich) „Der große Eisenbahnraub“ von Edwin S. Porter rezensiert haben und 1904 „Der Vorstädter“ von Wallace McCutcheon und diesen Regisseur dabei präsentiert haben, sind wir wieder zurück bei einem der bekanntesten frühen Filmpioniere, ebenjenem Edwin S. Porter, der damals auch der Produktionschef der Edison Manufacturing Company war, 1905 noch die führende Filmgesellschaft in den USA und ansässig in New York. Der Hollywoodfilm war damals noch nicht geboren. Sehr wohl aber lief es langsam, aber sicher auf Dramen und Melodramen hinaus, die für den Hollywoodfilm typisch werden sollten, auf die Entwicklung urfilmischer Genres und Tropen. „The Great Train Robbery“ hatte den bis dahin umfangreichsten Western gebracht, „Der Vorstädter“ ist eine frühe Slapstickkomödie – und nun haben wir das Sozial- und Gerichtsdrama, das später eine der packendsten Spielarten des amerikanischen Kinos werden sollte und legendäre Werke wie „Die zwölf Geschworenen“, „Anatomie eines Falles“  und „Wer die Nachtigall stört“ hervorbringen sollte. Diese Art von Film hatte einen großen Höhepunkt in den späten 1950ern und frühen 1960ern, das Genre war auf einem bis heute nicht übertroffenen Niveau angekommen.

Ist „The Kleptomaniac“ also wieder ein „First“? Vermutlich nicht in allen Teilen, aber mit einiger Sicherheit in dieser Kombination, und die Kritiker sind noch heute der Ansicht, dies war wohl Porters gewagtester, vielleicht bester Film.

Handlung und Einstellungsanalyse (1)

Der Film kontrastiert die Geschichte zweier Frauen: Die erste, eine gut gekleidete Dame, verlässt ihr elegantes Gebäude und wird in ihrer Kutsche zu einem Kaufhaus gebracht. Während sie im Laden ist, stiehlt sie mehrere Gegenstände und wird von Ladendetektiven gefasst. Die zweite, eine arme Frau mit zwei kleinen Kindern, stiehlt aus Verzweiflung einen Laib Brot und wird schnell gefasst und verhaftet. Beide Frauen werden auf die Polizeiwache und dann in den Gerichtssaal gebracht, wo ein Richter sich zügig mit verschiedenen Angeklagten befasst. Die reiche Dame wird mit Hilfe ihres Anwalts schnell freigelassen und umarmt ihren Mann, während die arme Frau trotz des Flehens ihrer kleinen Tochter verurteilt wird. [2]

Der Film besteht aus 11 Einstellungen, die jeweils mit einem Zwischentitel (unten kursiv) eingeleitet werden (*Hinweis: Nicht alle Kopien dieses Films haben Zwischentitel):

  1. Das Haus verlassen. Diagonale Ansicht einer Straße. Eine schwarz gekleidete Dame kommt aus einem Luxusgebäude. [Schwenken Sie nach rechts] und steigt in einen Hackney-Bus, der abfährt.
  2. Ankunft im Geschäft. Diagonale Ansicht einer Straße mit der Tür des Kaufhauses Macy’s. Die Kutsche hält vor der Tür. Die Dame in Schwarz steigt aus, die Kamera schwenkt nach links, um ihr zu folgen, als sie das Kaufhaus betritt.
  3. Interieur des Kaufhauses. Theken mit Kunden und Verkäuferinnen und einem männlichen Aufseher. Der Dame in Schwarz werden mehrere Gegenstände gezeigt und als die Verkäuferin nicht zusieht, steckt sie etwas in ihren Muff. Sie tut es ein zweites Mal, aber sie wird von einem Detektiv gesehen, der sie bittet, ihm zu folgen.
  4. Büro des Superintendenten. Ein Büro, in dem ein Mann mit seiner Sekretärin steht. Die Dame in Schwarz wird vom Detektiv hereingeholt und die gestohlenen Gegenstände werden aus ihrem Muff geholt.
  5. Verlassen des Ladens. Gleiche Straße wie 2. Die Dame in Schwarz kommt aus der Tür, begleitet von dem Detektiv. Die Kamera schwenkt nach rechts, als sie in einen Hackney-Bus steigen.
  6. Heimat des Diebes. Ein Raum mit einer armen Frau, die sich an einen Tisch niederwirft, und einem Kind, das auf dem Boden sitzt. Ein junges Mädchen tritt ein und küsst ihre Mutter, die sich einen Schal auf den Kopf setzt, das Kind küsst und geht.
  7. Brot stehlen. Diagonale Ansicht einer Straßenecke mit einem Geschäft. Ein Azubi wird von seinem Chef gerufen und stellt einen Korb mit Brot vor dem Laden ab. Die arme Frau nimmt ein Stück Brot aus dem Korb und versucht zu gehen, wird aber vom Ladenbesitzer erwischt, der einen Polizisten ruft. Dieser nimmt die Frau mit.
  8. Ankunft auf der Polizeiwache. Eine schneebedeckte Straße mit einem großen Gebäude. Der Hackney-Bus, der in 5 zu sehen ist, kommt an und hält vor der Kamera, die nach rechts schwenkt, um der Dame in Schwarz in Begleitung in die Polizeistation zu folgen.
  9. Ankunft auf der Polizeiwache mit dem Streifenwagen. Gleiche Ansicht wie in Aufnahme 8. Ein Streifenwagen kommt und hält vor dem Gebäude. Die Kamera schwenkt nach rechts, um der armen Frau zu folgen, die von dem Polizisten ins Innere geführt wird.
  10. Szene im Gerichtssaal. Mehrere Angeklagte werden vorgeführt, und der Richter verkündet schnell seine Urteile. Die arme Frau wird hereingeholt und versucht, ihren Fall zu verteidigen, während der Ladenbesitzer sie beschuldigt. Das junge Mädchen kniet nieder und fleht den Richter an. Ihre Mutter nimmt sie in den Arm, doch sie wird ihr entrissen. Die Dame in Schwarz sieht sich der Anschuldigung der Verkäuferin gegenüber und fängt an zu weinen, während ihr Anwalt sie verteidigt. Der Richter weist die Anklage zurück und die Dame umarmt ihren Mann.
  11. Tableaus. Gerechtigkeit als Frau mit halben Augen, die eine Waage hält, auf der ein Sack Gold mehr wiegt als ein Stück Brot.

Alle Einstellungen sind Weitwinkel- oder Volleinstellungen, was es den Zuschauern manchmal schwer macht, dem Geschehen zu folgen, insbesondere in Einstellung 3. Die Außenaufnahmen wurden in New York gedreht und zeigen schneebedeckte Straßen, die diagonal mit großer Tiefenschärfe und Kameraschwenks gefilmt wurden, um den Figuren zu folgen. [1]

Rezension

Die deutsche Wikipedia kennt diesen Film nicht, die amerikanische ist aber sehr ausführlich, weil es sich um einen wichtigen handelt. Leider sind die im Internet zu findenden Dateien von schrecklicher Qualität, das macht es zusätzlich schwer, neben den oben erwähnten Totalen, dem Geschehen zu folgen und lässt es nicht zu, dass man sich emotional engagiert. Das hätte ich bei erstklassiger Bildqualität, die alle Details der Gesichtszüge der Menschen zeigt, vielleicht erstmals hinbekommen, seit wir mit der 3. US-Filmchronologie gestartet sind, die sich nun schon über 15 bis 16 Jahre zieht und die man  „Vom wirklichen Beginn an und Jahr für Jahr“ bezeichnen kann. Vermutlich aber eher nicht Man merkt nämlich auch, dass Edwin S. Porter stilistisch steckengeblieben ist. Es gibt keine Nahaufnahmen, nicht einmal solch ein Sonderstück wie die Schlusseinstellung von „The Great Train Robbery“, in der ein Mann aufs Publikum schießt. Durch die ausschließliche Verwendung der Totale und den sehr gleichmäßigen Rhythmus des Films wäre er aber auch bei erstklassiger Bildqualität wohl kein emotionales Highlight geworden – wenngleich er einen Meilenstein des kritischen Kinos darstellt.

Charles Musser ist der Meinung, dass dies Porters radikalster Film ist, weil er die Klassenvoreingenommenheit von Regierung und Justiz verurteilt. Die Tatsache, dass die reiche Dame in Edisons Katalog als Mrs. Banker erwähnt wird, würde implizieren, dass ihr Ehemann, der Banker, auf die gleiche Weise, wie sie im Kaufhaus stiehlt, seine Kunden stiehlt. Porter impliziert, dass ein sozioökonomisches System, in dem zwei wesentliche Werte, familiäre Verantwortung und Ehrlichkeit, im Konflikt stehen, neu bewertet werden muss. [3]

Nun weiß ich wenigstens, wer Charles Musser ist, der der im Rahmen der Beurteilung früher amerikanischer Filme häufig erwähnt wird. Er überwacht und kuratiert für das Moma die Restaurierungen dieser frühen Filmschätze.

Matthias Kuzina sieht in dem Film einen Vorläufer des zeitgenössischen sozialen Problemfilms, der sich mit „dem Wesen des Klassenkonflikts in Amerika und der Unterwerfung der Interessen der Armen im Allgemeinen und der Ohnmacht des Individuums im Besonderen“ beschäftigt. [4]

Für Kay Sloan bietet der Film „ein vernichtendes Porträt des amerikanischen Rechtssystems und seiner Behandlung der Armen. (…) Die Gerichtsszenen (…) glichen einem faktischen Fließband der Justiz – als Marshals die Angeklagten wie Rinder vor den Richter trieben. Trotzdem wurden die Reichen mit einer mitfühlenden Handbewegung aus dem Gerichtssaal gewischt.“ Sie ist der Meinung, dass der Film suggeriert, dass die Kriminellen der Nation (ein Begriff, den der Soziologe Edward A. Ross 1907 verwendete, um diejenigen zu bezeichnen, die ihre Machtpositionen ausnutzten) „sogar bis zu denen in Richterroben reichten“. Sie merkt jedoch an, dass der Film nicht als provokativ angesehen wurde, weil die Botschaft implizierte, dass die Machtlosen „passive Opfer von Gier und Ungerechtigkeit bleiben würden“. [5]

Der letzte Satz der obigen Anmerkung ist sehr interessant und weist auf etwas hin, was vor allem linke Filmkritiker am Problemfilm der westlichen Länder bemängeln. Es kommt durchaus vor, dass Elend dargestellt wird und Ungerechtigkeit gebührend markiert wird, dass das alles realistisch ist und Mitgefühl hervorruft, aber die Konsequenz, nämlich der Aufruf zum Hinarbeiten auf eine andere Gesellschaftsordnung, fehlt in der Regel. Mithin das Aktivistische oder gar Revolutionäre. Man kann sich über die Ungleichbehandlungen grämen, die ja auch dem heutigen Justizsystem, auch in Deutschland, nicht gerade fremd sind und die Reiche privilegieren; sich sogar darüber aufregen, aber man bleibt als Individuum dem System ausgeliefert. Hätten Geschehnisse wie das mit der armen, möglicherweise alleinerziehenden Mutter zu einer Protestbewegung und in der Folge zur Gründung einer sozialistischen Partei geführt, wäre  auch Jerzey Toeplitz zufrieden gewesen. Im Grunde haben die Kritiker, die in jenen Filmen einen unvollständigen Ansatz sehen, wenn sie mit einer reinen Zusandsbeschreibung schließen, nicht unrecht, aber schlimmer finden wir es, wenn im Sinne hoher Ideale das Gegenteil suggeriert wird und man das Gefühl hat, im Film sind letztlich alle doch besser, kompetenter und integrer als in der Realität. Das immerhin will uns Porters Sozial-Gerichtsdrama nicht erzählen.

Finale

Die Struktur des Films mit dem Übergang zwischen zwei parallelen Geschichten und dem allegorischen Schluss wurde von Miriam Hansen als frühes Beispiel dafür hervorgehoben, wie in der Tradition des Stummfilms allegorische Tendenzen mit primitiven Erzählstilen, oft in Verbindung mit Parallelität, kombiniert werden. Hansen unterstreicht die innovative Verwendung der Allegorie durch Porter in diesem Film, indem er sie mit D. W. Griffiths Intolerance vergleicht. Während das Wiegenbild in Intolerance die allegorische Tradition in ihren konservativsten Intentionen umarmt, verfremdet Porter im Gegenteil die vertraute Darstellung der Gerechtigkeit als Frau mit verbundenen Augen, die ein horizontales Paar Waagen hält, indem er zeigt, wie die Augenbinde ein Auge freigibt und die Waage kippt. [6]

Dass die Wage gekippt ist, so dass, etwas herunterfallen müsste, habe ich nicht gesehen, die automatische Übersetzung ist da etwas unpräzise, aber sie neigt sich. Der Geldsack wiegt schwerer als das Brot. Was man dme Film sicher nicht vorwerfen kann, ist, dass das parallele Erzählen nicht auf die dramatische Spitze getrieben wird, indem man mit Schnitt und Gegenschnitt die beiden Diebstahlsvorgänge direkt hintereinander  zeigt, dazu hätte man die arme Frau auch früher einführen müssen. Erstens wirkt das auch heute noch effektheischend und nicht immer so wirkungsvoll wie bei Eisenstein, und zweitens wäre schnell klar gewesen, worauf es hinausläuft, allerdings ist diese Bemerkung am heutigen Medienbetrachter orientiert.

Ich habe im Wege der Rezension von „The Great Train Robbery“ geschrieben, dass keiner dieser frühen Filme in jeder Hinsicht erstklassig war, aber jeder, den wir bisher im Rahmen der 3. US-Chronologie rezensiert haben, weist ein besonderes Merkmal auf, das die Filmindustrie vorangebracht hat – oder mehrere davon. Die Situation der armen Frau hat schon etwas beinahe Chaplineskes, auch die Gegenüberstellung von arm und reich läuft auf „City Lights“ (1931) hinaus.

Aber es gibt dabei keine komödiantischen Ansätze, es wird noch nichts verpackt, ebenso wie in dem rohen Western „The Great Train Robbery“. Kein Mythos, keine Suggestion, wohl aber das Symbolbild der Waage, die aus dem Gleichgewicht geraten ist. Wenn man bisher Filme ab etwa Mitte der 1910er gesichtet hat, wie das bei mir im Rahmen des „Chaplin-Projekts“ der Fall ist, hinzu kamen einige frühe deutsche Filme, der muss sich erst einmal daran gewöhnen, dass der Film im Jahr 1905 schon gut 15 Jahre auf dem Buckel hatte und das Kino immerhin etwa eine Dekade. Da darf sich schon etwas tun, da darf es eine Entwicklung geben. Ich habe mehrfach darauf hingewiesen, dass man künstlerisch gesehen in Frankreich weiter war als zu der Zeit in den USA und auch die Brighton School bereits Ansätze zeigte, die in den USA noch nicht Standard waren. Aber natürlich kamen die Filme damals schon in anderen Staaten in den Verleih, französische Produktionsfirmen wie Gaumont und Pathé hatten zum Beispiel Büros in den USA. Wir werden bald in das Zeitalter von D. W. Griffith eintreten und sehen, wie der Film dabei einen großen Sprung nach vorne macht. Aber wenn man von den ersten kleinen Schemen und Szenen bis zu „Die Kleptomanin“ – gemeint ist „Mrs. Banker“, nicht die arme Frau, die das Brot stiehlt geht, kann man auch innehalten und sagen: Da hat sich schon ganz schön etwas getan.

Justitia ist also nicht blind im positiven Sinn, nicht unparteiisch, sondern äugt, wer ein Vergehen begangen hat und entscheidet nach Herkunft der Täterin. Die einzige einsehbare Profi-Kritik in der IMDb geht davon aus, dass der Film wohl der erste seiner Art in den USA war, während es woanders schon zuvor zu Sozialdramen gekommen war, natürlich in Frankreich, wo damals auch der Sozialroman zu Hause war und die Filme forgeschrittener. Eine sehr gute Anmerkung finde ich, dass die Idee von Edwin S. Porter und die Handlung der Filmtechnik – oder auch seinem kinematografischen Können – voraus waren.[2]

Trotz der filmtechnischen Mängel sind 5,7/10 als Durchschnittsbewertung seitens der IMDb-Nutzer:innen eindeutig zu wenig.

70/100

© 2024 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

Regie:

Edwin S. Porter

Die Hauptrolle spielend

Aline Boyd
Ann Eggleston
William S. Aufstrebend

Kinematographie

Edwin S. Porter

Produktionsfirma

Edison Produktionsunternehmen

Erscheinungsdatum

  • Februar 1905

Laufzeit

ca. 10 Minuten.

Land

USA

Sprache

Englische Zwischentitel

[1] Der Kleptomane – Wikipedia

[2] The Kleptomaniac (1905) | A Cinema History


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