Zeitzünder – Tatort 233 #Crimetime 1254 #Tatort #Hamburg #Stoever #Brockmöller #NDR #Zeitzünder

Crimetime 1254 Titelfoto NDR

Zeitzünder ist ein Fernsehfilm aus der Kriminalreihe Tatort der ARD und des ORF. Der Film wurde vom Norddeutschen Rundfunk produziert und am 4. August 1990 erstmals ausgestrahlt. Es handelt sich um die Tatort-Folge 233. Für den Kriminalhauptkommissar Paul Stoever (Manfred Krug) ist es der 13. und für seinen Kollegen Peter Brockmöller (Charles Brauer) der 10. Fall, in dem er ermittelt.

„Zeitzünder“ ist der letzte Tatort mit Stoever und Brockmöller, der vor dem Tag der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 ausgestrahlt wurde. Der Film spiegelt die Wendezeit noch nicht, anders, als das in den Polizeirufen der Fall war, die damals sehr schnell auf die veränderte Situation reagieren mussten und ab 1991 für beinahe zwei Jahre pausierten, bevor über die Fortsetzung der Reihe entschieden wurde. Die Tatorte, insbesondere die von Stoever und Brockmöller, spiegelten hingegen Kontinuität und häufiger Verbrechen, die ziemlich extravagant ausgedacht waren, auch wenn die Machart der Film konservativ wirkte, manche Themen wirkten zeitgebunden, sind aber weiterhin relevant. Auf „Zeitzünder“ treffen alle drei Attribute zu.

Der Film hatte bei seiner Premiere 8,77 Millionen  Zuschauer. Das ist eine ähnliche Zahl, wie sie heutige Erstausstrahlungen aufweisen, allerdings in einer anderen Fernsehlandschaft, in der das Privatfernsehen zu der Zeit eine echte Gefahr für die Öffentlichrechtlichen zu werden schien. Heute ist der Tatort das Format, das bei Premieren die höchsten Marktanteile im fiktionalen Bereich einfährt. 

Handlung

Ein Lastwagen fährt in den Hamburger Freihafen ein. Zwei Männer stoppen das Fahrzeug, dirigieren es zu einer abgelegenen Hafenstraße und eröffnen das Feuer. Der Fahrer des Lasters ist sofort tot. Der Beifahrer, Karl Wollek, kann im Schutz der Dunkelheit flüchten, verletzt und ohne Hilfe chancenlos, den Killern auf Dauer zu entkommen.

Sich freiwillig der Polizei zu stellen, kommt für den unter Bewährung stehenden Dauerganoven nicht in Frage: Seit der letzten Verurteilung droht die Sicherheitsverwahrung. Verzweifelt wendet sich Wollek an den einzigen Menschen, zu dem er Kontakt und Vertrauen hat ? seinen Bewährungshelfer Heinz Maurer. So geraten der gutmütige Bewährungshelfer und sein »Knacki« in den Strudel eines Verbrechens, dessen Dimensionen sie nicht überblicken können.

Das bewährte Kommissargespann Paul Stoever und Peter Brockmöller ist einem Riesenfall auf der Spur: Das Blutbad im Hamburger Hafen war nur das kaltblütige Ablenkungsmanöver einer unter Druck geratenen Verbrecherbande, um elektronische Präzisionszünder außer Landes zu schmuggeln. Wird es den beiden Haupt-kommissaren gelingen, Wollek und seinen im Sinne des Gesetzes strauchelnden Bewährungshelfer Maurer vor dem Schlimmsten zu bewahren und wichtiger noch: Können die Ermittlungsarbeiten der Mordkommission verhindern, daß ein politisch unberechenbares Land in die Lage versetzt wird, eine eigene Atombombe zu zünden? 

Rezension

Wieder eine besonders hübsche Perle für die Stoever-Brockmöller-Kette, die dann irgendwann aus 41 Stücken bestehen soll?

  • Das Thema „Die islamische Atombombe“ hinterlässt durchaus Gänsehaut, inklusive möglicher Folgen wie Gänsehautentzündung. Ich kann mich noch daran erinnern, dass nur acht Jahre nach der Erstausstrahlung dieses Tatorts Pakistan das erste islamische Land war, das zur Atommacht wurde und um die Symbolik, die da hineingelegt wurde – und die in der Tat erschreckend war. Noch heute gilt Pakistan als das letzte Land, das zur Atommacht wurde, wodurch die Zahl der Atomwaffenbesitzer-Staaten bei 8 verharrt. Zweifel an dieser Darstellung sind angebracht. (1) Und die Möglichkeit, kleine „schmutzige“ Atombomben zu bauen und das Streben u. a. des Iran nach Kernwaffentechnik sind bekannt. Besondere Brisanz bekommt der Atomkomplex dadurch, dass es in den USA, der ältesten Atommacht, derzeit einen Präsidentschaftskandidaten gibt, der offenbar nicht verstanden hat, wie gefährlich dieses Potenzial ist und dessen unglaubliche Unberechenbarkeit so gefährlich ist wie genau dieses Potenzial selbst (2). Die Zahl der Atomwaffen insgesamt ist heute um einiges geringer als gegen Ende des Kalten Krieges und damit zu dem Zeitpunkt, zu dem „Zeitzünder“ entstanden ist, doch selbstredend reicht sie immer noch aus, um die Erde – theoretisch – mehrfach zu vernichten (3).
  • Die Geschichte von den Krytons, den Zeitzündern für Atomsprengköpfe, ist eindeutig aus Roman Polanskis „Frantic“ geklaut, der ein Jahr vor „Zeitzünder“ entstand und insofern realistischer ist als die Vorlage, weil es immerhin um Hunderte dieser elektronischen Zünder geht, die einen gewissen Wert repräsentieren und nicht ein einziges dieser Bauteile einen ganzen Thriller tragen muss. Aber auch dort gibt es einen „Manhunt“-Plot, in dem Leute hintereinander her sind und sich die Krytons abjagen wollen.
  • Der Tatort als solcher hat mich allerdings überlegen lassen, ob es nicht einen Zeitzünder gibt, mit dem man ihn sprengen und für immer aus dem Stoever-Brockmöller-Bestand eliminieren könnte. Nein, ganz so schlimm ist es nicht, und immerhin ist er ja wieder ein Zeitdokument, das ein immer noch relevantes Thema aufgreift, sogar der Sprech des Präsidenten des unbenannten islamischen Landes mit seinen verquasten ideologisch-religiösen Einlassungen kommt mir bekannt vor. Aber ich habe drei Anläufe gebraucht, um diesen Film zu Ende zu schauen, und das kommt aktuell sehr selten vor. Der erste Versuch ist durch Einschlafen nach der Hälfte gescheitert, der zweite nach einer Stunde, aber ich hatte dann am Tag darauf an diese Stelle zurückgespult und den Rest geschaut, weil ich nicht immer wieder neu starten wollte, bis es in einem Rutsch klappt. Bei diesem Tatort war die Gefahr groß, dass ich mit ihm nie fertig werden würde.
  • Was macht ihn aber so mühsam? Die Handlung ist höchst unglaubwürdig, das betrifft vor allem den Part mit Bewährungshelfer Mahlke. Erst wird er angegangen, weil er weiß, wo sich der mehr oder weniger in die Sache hineingestolperte Karl Wollek aufhält, den die Atomwaffenteile-Schmuggler unbedingt umbringen wollen, um ihn als Zeugen aus dem Weg zu haben, dann könnte es seine Tochter treffen, es trifft aber deren Hund, dann wieder Mahlke in Action. Furchtbarer Plot ohne jede Logik. Und je mehr Stoever-Brockmöller-Filme ich sehe, desto mehr weiß ich, früher war nicht alles besser. Nicht einmal bei den beiden, die ich wirklich gerne mag. Wenn nämlich zum Plot auch noch die Regie schwach ist, passiert mit ihnen dies: Brocki wirkt als Gelegenheits-Casanova etwa so stimmig wie ein Fisch auf dem Fahrrad, das empfand sein Darsteller Charles Brauer wohl auch selbst so, wie seine Miene zeitweilig verrät, die mehr Amüsement als Charme oder Leidenschaft ausdrückt. Hätte er noch kurz in die Kamera geguckt (was er an einer anderen Stelle wirklich tut, an der man den Eindruck hat, nicht alle anwesenden Darsteller waren wirklich bei der Sache), wäre die Vierte Wand klar durchbrochen worden. Die Idee, ihm mal eine Liebschaft zu gönnen, was es ja sonst bei diesen beiden Fischköppen überhaupt nicht gibt, ist nett, und mich hat es auch nicht gestört, dass die Person, die sich ihn anlacht, viel jünger ist als er, aber es wirkt viel schräger, als es gedacht ist. Bei Paul Stoever hingegen dringt, wenn Manfred Krug nicht enger geführt wird, die rabolzige, ruppige Art doch zu sehr durch, die seine Auftritte irgendwann zu dominant und auch zu berechenbar macht. Und dann die Witze: Sagt ein Pariser zum anderen „kannste dicht halten?“ Schöne grüße aus dem Zeitalter, als AIDS und Safer Sex eines der wichtigen gesellschaftlichen Sujets waren, aber so plump muss die Aufklärung vielleicht doch nicht rübergebracht werden. Vor allem, wenn die Sicherheit von Kondomen durch den Witz auch noch infrage gestellt wird. Aber so ist der Stil dieses Tatorts: robust, nicht feinsinnig. Eher hingeworfen als kunstvoll arrangiert.
  • Das gilt auch fürs Visuelle. Nun war die Wendezeit nicht gerade der Moment für große Tatort-Innovationen, die kamen erst im Verlauf der 1990er, oft in Verbindung mit neuen Teams und besonders mit den Kölnern Ballauf und Schenk. Deren Tatorte waren zu Beginn der 2000er stilistisch führend, die Münchener hatten sukzessive nachgezogen, in Hamburg gab es einen Ruck ins Düstere und visuell Anspruchsvollere erst durch den Wechsel von Stoever und Brockmöller zu Carstorff (2002). In diesem 1990er Tatort trägt Brocki bereits seinen Schnauzer, den er anfangs nicht hatte (4), aber Stoevers Anzüge und Krawatten sind noch einigermaßen dezent, außerdem musizieren die beiden noch nicht. Damit fehlt der leicht surreale Touch später Brockmöller-Stoever-Filme, der einiges zum Kult beigetragen hat und das Unglaubwürdige lockerer wirken lässt, vor allem, wenn im Auto auf dem Keyboard gespielt wird.
  • Herausheben muss ich Diether Krebs (in der ARD-Inhaltsangabe falsch geschrieben), der immer weiß, wie er zu spielen hat, besonders solche verlorenen, verschwurbelten Figuren wie Karl Wollek. Obwohl dieser Typ spannend war, konnte er den Tatort aber (siehe oben) nicht über die Zeit retten, und das hat auch damit zu tun, dass man ihn ein wenig missbraucht, um dieses Pingpong zwischen Mahlke und den Atomwaffenbösewichteln zu organisieren. Den kann man überall hinschicken, um die Handlung wieder in Schwung zu bringen, diesen Wollek, der wehrt sich ja mangels hartem Persönlichkeitskern nicht.
  • Der BKA-Atomwaffenteil ist zu knapp und zu skizzenhaft geraten, nur das Motiv der iranisch-deutschen Anwältin fand ich einleuchten, einschließlich der Tatsache, dass sie das Persönliche über den möglichen globalen Schaden ihres Tuns stellt, denn so handeln viele Menschen. Um den politisch inhaftierten und möglicherweise der Folter ausgesetzten Vater freizubekommen, macht sie beim Waffenschmuggel mit. So lautet der Deal, der dem eigentlichen Fall zugrunde liegt. Wir wissen also, welcher gewisse Mullah-Staat gemeint ist, auch wenn er nicht genannt wird. Über all das hätte ich gerne mehr erfahren, aber dazu hätte der Drehbuchautor mehr recherchieren, mehr ins Thema einsteigen müssen, dieses Hin und Her mit Wollek ließ sich hingegen mit geringerem Aufwand erdichten. Leider sind ganz viele politisch sein sollende oder wollende Tatorte jener Jahre so gestrickt, dass sie einen großen Bogen um wirklich handfeste Plots machen. Das führt dazu, dass die politischen Umstände und Begebnisse nur in Handlungsschablonen als variable, auf niedrigem Niveau zeitkritische Elemente eingesetzt und nur als Aufhänger verwendet werden.

Fazit

Ein enttäuschender Tatort, der dem Stoever-Brockmöller-Fan etwas bieten mag, aber auch, wenn man den beiden wohlgesonnen ist, muss man feststellen, dass es bessere Filme mit ihnen gibt. Meine persönliche Durchhalteschwäche bei diesem Film will ich nicht allzu sehr als Bewertungskriterium gelten lassen, aber ein Hinweis darauf, ob dieser Film eher reinzieht oder ins Kissen drückt, ist es schon. Positiv Diether Krebs und das Thema an sich, das aber eine bessere Ausarbeitung verdient gehabt hätte. Ergänzung anlässlich der Veröffentlichung des Textes: Die IMDb-Nutzer:innen liegen etwas besser als wir und geben 6,1/10.

5,5/10 

© 2024 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2016)

Regie Pete Ariel
Drehbuch Detlef Müller
Produktion Matthias Esche bei Studio Hamburg Filmproduktion
Musik
Kamera
Schnitt
Premiere 4. Aug. 1990 auf ARD
Besetzung

(1) Wir haben den Originaltext der Rezension, die im Jahr 2016 geschrieben wurde, bis auf die ergänzte Einleitung weitgehend übernommen. Im Moment sieht die Lage so aus: Neben den fünf „offiziellen“ Atomwaffen besitzenden Staaten USA, Russland, China, Frankreich und dem Vereinigten Königreich gibt es vier „de facto“ Nuklearwaffen führende Staaten: Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea.
(2) Natürlich war damit im Jahr 2016 Donald Trump gemeint, der gerade wieder die Präsidentschaftswahlen gewonnen hat. Da wir acht Jahre später immer noch hier sitzen und Rezensionen schreiben können, ist bewiesen, dass selbst Trump nicht unbedingt einen Atomkrieg auslösen muss, wenn er für weitere vier Jahre  Präsident der Vereinigten Staaten sein wird.
(3) Leider gibt es hier in jüngster Zeit eine Gegenbeweegung, nicht nur durch die „nicht-offiziellen“ Atomstaaten, sondern z. B. auch durch die enorme Aufrüstung in China, das freilich immer noch viel weniger Atomwaffen unterhält als Russland und die USA.
(4) Das war nur im allerersten oder in den zwei ersten Tatorten mit ihm nicht der Fall.


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