Crimetime 1256 – Titelfoto © NDR
Habgier ist ein Fernsehfilm aus der Kriminalreihe Tatort der ARD und des ORF. Der Film wurde vom NDR produziert und am 10. Januar 1999 erstmals ausgestrahlt. Es handelt sich um die Tatort-Folge 403. Für die Kriminalhauptkommissare Paul Stoever (Manfred Krug) und Peter Brockmöller (Charles Brauer) ist es der 35. bzw. 32. Fall, in dem sie ermitteln.
Immer mehr vervollständigt sich der Stoever-Brockmöller-Kanon von „Crimetime“ im Wahlerliner. Gibt es noch Überraschungen?
„Habgier“ ist ein subjektives Mordmerkmal des § 211 StGB. So viel zum Titel. Stimmt alles, wenn man es von der Auflösung her betrachtet. Daraus sollte man aber nicht schließen, dies sei ein konsequent und logisch konzipierter Film. Die späten Stoever-Brockmöller-Tatorte sind wirklich sehr speziell, je mehr sich das Bild dieser letzten lustigen Hamburg-Phase interpretieren lässt, desto schräger wird es. Fast wie die Kinderzeichnungen, die in „Habgier“ eine Rolle spielen. Mehr dazu wie die Überraschungen sich ausnehmen, in der Rezension.
Handlung
Die Kinderpsychologin Gabriele Eilbrook wird ermordet im Isekanal gefunden. Brockmöller ist erschüttert – nur wenige Tage zuvor hat er die sympathische und attraktive Frau bei einem Seminar kennengelernt.
Stoever und Brockmöller finden heraus, daß sie einem Verbrecher auf der Spur war. Die Ermittlungen führen die Kommissare zu einem Kinderheim, in dem Gabriele mehrere Kinder betreut hatte, darunter die beiden Jungen Axel und Rene. Bei dem mysteriösen Selbstmord von Renes Schwester scheint der zwielichtige Politiker Heinisch eine Schlüsselfigur zu spielen. Stoever und Brockmöller vermuten, daß die Psychologin sterben mußte, weil sie zuviel von Heinisch wußte.
Als dubios erweist sich immer mehr die Rolle von Axel, Gabrieles Patienten. Je tiefer die Kommissare in den Fall eindringen, desto klarer wird, daß der Tod von Gabriele mit einem Trauma Axels in Verbindung steht.
Rezension
Welche Besonderheiten sehen wir? Einen Gastauftritt von Hans Hubert (Berti) Vogts als Nachbar in einem Hamburger Mittelstandsviertel, der eine Sonderkarotte für einen lebensrettenden Hasen fordert und später erklärt, dass man als Fußballtrainer endet, wenn man nie Gelegenheit hatte, einen anständigen Beruf zu lernen. Er referiert darüber, dass es leichter ist, Fußball-Europameister als Weltmeister zu werden. Wie wir wissen, wurde die deutsche Nationalmannschaft unter seiner Leitung 1996 Europameister, hat es aber nicht zu einem WM-Titel geschafft. Leider habe ich den Drehzeitpunkt des Films nicht ermitteln können, der im Januar 1999 erstmalig ausgestrahlt wurde. Mich hätte interessiert, ob Vogts (der in Wirklichkeit übrigens eine Lehre zum Werkzeugmacher absolviert hat) noch Trainer der deutschen Fußball-Nationalmannschaft war, als der Film gekurbelt wurde, er trat Anfang September 1998 zurück. Wenn der Zeitraum zwischen Dreh und Ausstrahlung der bei Tatorten übliche war, dann müsste Vogts während des Drehs noch deutscher Nationaltrainer gewesen sein – umso bemerkenswerter seine ironischen Einlassungen. Allerdings wissen wir ja, dass er immer ironisch auf das Fußball-Umfeld und damit auf die Anerkennung seiner Leistungen als Trainer geblickt hat.
Vogts war bzw. ist wirklich ein Anti-Medienmensch, gerade darum wirkt sein Auftritt hier kultig und belegt auch, warum er es in der Öffentlichkeit und sicher auch bei den Spielern einer anderen Generation, die er trainieren musste, nicht so leicht hatte.
Der andere Gimmick ist die Gesangseinlage von Peter & Paul, die irgendwann in den 1990ern als Running Gag etabliert wurde. Es gibt einen Film mit den beiden, da sitzen sie nachts im Auto und observieren und da zieht Paul tatsächlich ein Keyboard hervor und sie fangen an zu spielen und zu singen. Hier hat er das Keyboard unter einer Zeitung auf dem Schreibtisch und es wird ganz ähnlich verfahren. Ich mag „Stormy Weather“ von Harold Arlen und Ted Koehler und künstlerisch gibt mir die Filmversion von 1943 mit Lena Horne als Interpretin um einiges mehr als die Peter & Paul-Variante, aber die Ironie in diesen Vorträgen ist eben klasse, und die falsche bzw. überzogen schräge Betonung der US-Aussprache in dem Text durch Paul belegt einmal mehr, dass dessen Darsteller Manfred Krug eine Sonderstellung hatte, wie man sie beim NDR den Schauspielern immer wieder mal zugesteht. Womit nicht die heutige Einflussnahme gleich mehrerer Darsteller auf ihre Drehbücher oder gar den gesamten Produktionsprozess gemeint ist. So freidrehen wie in der Hannover-Schiene oder gar der aktuellen Hamburg-Tschiller-Reihe durften die Darsteller vor fast 20 Jahren noch nicht.
Weil aber die Ermittler so dominieren, fallen auch deren weniger gelungene Momente deutlich auf – wie etwa der Derrick-Gedenk-Sketch „Peter, hol schon mal den Wagen“, der vor allem schwach getimt ist und daher nur begrenzt lustig wirkt. Der in dieser Szene sichtbare Mangel an kunstfertiger Inszenierung ist aber ein Grundproblem dieses 403. Tatorts.
Die Inszenierung ist schwach. Ganz viele Momente sind schlecht ausgespielt. Man kann sich natürlich fragen, ob das an den Schauspielern liegt oder an der Regie, aber ich mache im Zweifel denjenigen verantwortlich, der die Inszenierung leitet, wie ich schwache, nicht glaubwürdig gesprochene Dialoge auch eher dem Drehbuchautor anlaste als denen, die sie aufsagen müssen. Versierte Schauspieler haben in der Regel ein Gefühl dafür, ob sie mit ihren Texten gut bedient sind, und wenn sowohl dieses als auch die Führung durch die Szenen so schwach sind wie in „Habgier“, wirken manche Stellen ungewollt witzig, bei anderen fasst man sich an den Kopf. Leider betrifft das beinahe den gesamten Einsatz der Kinder in diesem Film.
Eines ist sicher, wer diesen Tatort erdacht und ausgeführt hat, ist nicht wirklich mit dem Thema Kinderpsychologie vertraut. Die Art, wie Kinder hier handeln, rechnet ihnen eine Willensstärke zu, die sie glücklicherweise nicht haben. Das betrifft schon die Idee des kleinen Axel, seine Mutter und deren neuen Partner auf sehr elaborierte Weise umzubringen, seine spätere Ausreißer-Episode und auch die Art, wie er und sein Freund im Kinderheim auf die ziemlich rumpeligen Ermittler reagieren, in Relation dazu, wie sie psychisch insgesamt aufgestellt sind und mit ihren Bezugspersonen interagieren. Das klingt jetzt ein wenig abstrakt, aber da wird ganz schön in der psychologischen Schonung geholzt, in der traumatisierte Kinderseelen normalerweise aufgehoben sein sollten.
Nachdem man in den ersten beiden Tatort-Jahrzehnten gar nicht so nah an Kinderfiguren heranging und vor allem nicht versuchte, alle Zusammenhänge so dezidiert und deswegen in all ihrer Fehlerhaftigkeit nachvollziehbar darzustellen, wenn auch mit einer Tendenz in den 1980ern mehr zu wagen, waren die 1990er eine richtige Laborzeit. Da wurde mit einer gewissen Amateurhaftigkeit an neuen Themen und vor allem mit inneren Tatbeständen experimentiert, die man sich heute nicht mehr erlauben würde. Die realistischere Darstellung von psychologischen Momenten ab den 2000ern zählt sicher zu den großen Fortschritten moderner Tatorte.
Aber auch Szenen wie der nächtliche Kurzauftritt von Peters neuer Bekanntschaft Gabriele, die alsbald das Zeitliche segnen wird, ist so kurios herbeigeschrieben, dass man, als er sie einfach ziehen lässt, sofort merkt, da musste ein Handlungselement her, um die nächste Wendung zu erzeugen, um dessen Glaubwürdigkeit im Ablauf man sich herzlich wenig Gedanken gemacht hat – gerade der empathische Brocki hätte sich da anders verhalten müssen. Später wird nochmal extra darauf hingewiesen, als ob die wenig authentisch wirkende Szene nicht per se auffällig genug gewesen wäre.
Auch die Figuren der Verdächtigen sind sehr rudimentär gezeichnet und wirken gleichermaßen seltsam wie schablonenhaft. Besonders Axels Mutter, die ja offenbar in der Manipulation mit dem Scheintod ihres Mannes drinsteckt, kommt dabei ganz schlecht weg, und der Politiker, der seine Pflegetochter missbraucht hat, ist wieder eine typische NDR-die-Elite-Anpinkelei, die einfach nur roh wirkt. Sicher, es handelt sich um eine falsche Fährte bezüglich des Mordes an Gabriele, aber dass zum Beispiel Stoever schon die Boulevardpresse auf den Politiker loslässt, obwohl der Missbrauch zu dem Zeitpunkt gar nicht erwiesen scheint, befriedigt zwar das kleine Arschloch im politikverdrossenen Zuschauer, weist aber auch auf den rauen, unrunden Stil des gesamten Tatorts hin.
Die Mischung aus lässiger Routine mit Gesang und kantigen, ungeschliffenen Handlungselementen und Dialogen ist in einigen Stoever-Brockmöller-Filmen ihrer letzten Ermittlerjahre zu beobachten, und je mehr ich von den beiden sehe, desto klarer wird mir auch, warum ihre Filme selten die ganz großen Würfe waren. Die Figuren sind eindeutig besser als die Handlungen und man verlässt sich auch sehr auf deren Wirkung, die schon dafür sorgen wird, dass das Publikum auch die krudesten Konstrukte irgendwie durchwinkt – weil ja die beiden, Brockmöller mit seinem beinahe maximalen Sympathiewert und Stoever mit seiner beinahe maximalen Präsenz schon dafür sorgen, dass der Zuschauer sich gut unterhalten fühlt. Besonders, wenn die beiden miteinander in der Form interagieren dürfen, dass Paul wurschtige Bemerkungen macht wie „Ich lerne ja nie jemanden kennen, immer nur dich mit deinem blöden Telefon und deiner blöden englischen Mütze“ wirkt es, als seien die Dialoge sogar improvisiert, und dann kommen sie auch authentisch. Dass sie nach heutigen Maßstäben auch übergriffig und hierarchisch sind, ist gehört dann wieder zu den beiden, die eben doch nicht gleichberechtigt in dem Sinn wie viele heutige Ermittlungsteams sind.
Fazit
Ich finde den Tatort 403 ziemlich uneben und vieles darin sehr an den Haaren herbeigezogen – und unseriös, um es vorsichtig auszudrücken. Und bei Kinderthemen wünsche ich mir eine gewisse Seriosität. Den Fehler begingen zum Beispiel die Münsteraner, deren Humor ja oft auf Verletzung der PC basiert, nicht, dass sie auf eine so verschrobene Art zwischen Kalauern und alptraumhaften Kinderbiografien pendeln, wie man das hier sieht. Das unangenehme Gefühl, dass es die Deutschen echt schwer damit haben, im Umgang mit Kindern und deren Belangen den richtigen Ton zu treffen, wird durch den Tatort „Habgier“ leider belegt. Gerade die oftmals robuste Inszenierungsweise der HH-Tatorte aus der Stoever-Brockmöller-Zeit eignet sich eindeutig besser für die Darstellung klassischer Räuberpistolen, Neonazi-Cluster und der Organisierten Kriminalität. An diesem Tatort aus den Jahren 1998/99 merkt man auch, wie groß der Sprung zu den damals neuen Kölner Kommissare Ballauf und Schenk war, bei denen man Sozialthemen und psychologische Momente dann glaubwürdig zu Krimis verarbeitet hat. Später haben sich auch die Hessen-Ermittler Charlotte Sänger und Fritz Dellwo, deren Drehbuschschreiber und Regisseure als kompetent für die Sensibilität erfordernde „Kinder in Tatorten“-Inszenierung erwiesen.
Ein Hindernis für subtile Tatorte, und das gilt für alle NDR-Schienen außer dem Tatort Kiel, der bis auf wenige Ausnahmen („Borowski und die Kinder von Gaaden“) wohl aus konzeptionellen Gründen von diesem Themenkomplex Abstand hält, ist bis heute die stark wertende Tendenz dieser Filme, die dazu führt, dass Aussagen festgezurrt werden, wo Interpretationsspielraum angezeigt wäre und die zugunsten politischer und sonstiger Festlegungen darauf verzichtet, dem Zuschauer mehr Raum zum selbstständigen Denken und zu diesem Zweck den Figuren einen Hauch von realistischer Vagheit zu lassen.
5,5/10
Anmerkung anlässlich der Veröffentlichung des Textes im Dezember 2024: Bis auf einige Korrekturen und stilistische Glättungen haben wir den Text so übernommen, wie er als Entwurf im Jahr 2016 niedergeschrieben wurde. Damals war noch der „erste“ Wahlberliner aktiv, die Rubrik für diese Rezensionen war „TatortAnhologie“, der Kenntnisstand über die die Tatorte als ganze Reihe entspach noch nicht dem heutigen, Polizeirufe hatten wir noch gar nicht als Vergleich, außerdem sind wir acht Jahre weiter, und da wir wieder begonnen haben, neue Tatorte zu rezensieren, wenn auch nicht so schnell und regelmäßig wie 2016, ergibt sich ein Bild der jüngsten Entwicklungen. Wenn man die heutige politisch-geistige Landschaft in Deutschland betrachtet, hat man das Gefühl, die Tatorte entfernen sich von der „Mehrheitmentalität“, die älteren Filme, wie die von Stoever, spiegeln aber ganz gut, dass wir wieder zurückkehren zu altem Denken und es immer mehr wirkt, als hätten alle Zivilisierungsversuche, an denen sich auch die Tatort-Reihe bezüglich des Herangehens an sensible Themen seit den 2000ern beteiligt hat, nicht gefruchtet.
© 2024 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2016)
| Regie | Jürgen Bretzinger |
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| Drehbuch | Raimund Weber |
| Produktion | Kerstin Ramcke |
| Musik | Klaus Doldinger |
| Kamera | Kay Gauditz |
| Schnitt | Inge Bohmann |
| Premiere | 10. Jan. 1999 auf Das Erste |
| Besetzung | |
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