Filmfest 1205 Cinema
Heinz Erhardt für Entschleunigung und Inlandsferien
Der letzte Fußgänger ist eine Filmkomödie mit Heinz Erhardt in der Hauptrolle, die am 15. September 1960 im Grand-Palast in Frankfurt am Main ihre Uraufführung erlebte.[1]
Die Handlung in einem Satz: Gottlieb Sänger macht Urlaub und trifft im Schnellzug von Hamburg Richtung Schweiz auf die Internatsschülerin Kiki, die sich ihm auf seiner Wandertour anschließt, anstatt zurück zur Schule zu fahren, die beiden werden im Casino Baden-Baden ihr Geld los, Kiki lernt einen jungen Mann kennen, Gottlieb wird ungewollt zum Protagonisten einer Ferienausgabe der Illustrierten Zeit-Bild, für die er arbeitet und erhält am Ende für die beste Ferien-Fotoserie 3000 Mark, die er aber an Kikis Lieblingsstudent weiterreicht, damit dieser nicht mehr so viel kellnern muss. Zur Wikipedia-Seite mit detaillierten Angaben zum Film.
Kann man sich vorstellen, dass diese Komödie von 1960 in Farbe und mit Schwarzwaldpanorama von dem Regisseur stammt, der die originale Tankstelle mit den drei Freunden als Betreiber (Willy Fritsch, Heinz Rühmann, Oskar Sima) dreißig Jahre zuvor verfilmt hat? Als eines der ersten echten Musicals des Welttonfilms und mit Lilian Harvey, mit „Ein Freund, ein guter Freund“ und „Liebling, mein Herz lässt dich grüßen?“.
Im Vorspann von „Der letzte Fußgänger“ heißt er „William Thiele“, aber der Name kam uns gleich bekannt vor. Eine dieser typischen Künstlerbiografien, in welche die NS-Zeit eine tiefe Kerbe gehauen hat – Thiele war jüdischer Herkunft, emigrierte 1933 und hatte in Frankreich, England und den USA leider nicht mehr die Erfolge wie in den frühen, vielversprechenden Tonfilmtagen bei der Ufa.
Aber für zwei Filme kehrte er 1960 nach Deutschland zurück, darunter „Der letzte Fußgänger“. Nicht einmal unter den Heinz Erhardt-Filmen, die nicht die Speerspitze des künstlerischen Anspruchs bilden, sofern er im deutschen Film der 1950er vorhanden war, liegt dieser Film unter denen, die am höchsten eingeschätzt werden. Das ist traurig, wenn man zurückdenkt an jene Tage Thieles bei der Ufa.
Dass dem so ist, mag an der doch allzu simplen Handlung des Films aus dem Jahr 1960 liegen und daran, dass die Musik, anders als im bahnbrechenden „Die drei von der Tankstelle“, nicht mehr handlungstreibend, sondern reflexiv oder ohne größeren Sinn eingebaut ist, und damit einen von Grund auf betulichen Film noch mehr verlangsamt.
Trotzdem ist dieser Werbefilm für den traditionellen Wanderurlaub nett und amüsant. Amüsant ausschließlich wegen Heinz Erhardt, der hier wenig mit Wortspielen, aber umso mehr mit der Mimik arbeitet und mit nicht schlecht getimten Riposten und Reaktionen auf das, was andere an ihn herantragen. Ein Erzkomiker, der Erhardt, der den Akzent seiner Komik durchaus variieren konnte.
Das Langsame hat uns sogar gefallen. Denn Heinz Erhardt propagiert hier einen hochmodernen Typ. 1960 ein Rufer in der Wüste, heute ein Protagonist allfälliger Notwendigkeiten. Entschleunigung am Arbeitsplatz und im Urlaub, Zeit für sich selbst und für andere sind die Stichwörter in diesem Film, der aus einer so belanglos wirkenden Komödie zwar kein Meisterwerk, aber einen Film mit Botschaft für unsere am Rande der Möglichkeiten angekommene Epoche macht. Dass man dies 1960, mitten im Wirtschaftswunder, schon thematisiert hat, ist erstaunlich – lässt aber darauf schließen, dass die Zeiten schon damals als hektisch im Vergleich mit den noch älteren Zeiten empfunden wurden.
Nicht nur auffallend, dass das Tempo von 1960 damals als schnell empfunden wurde, dass Omnibusreisen mit dem Abklappern von 20 Städten in 10 Tagen und Urlaub an überfüllten Mittelmeerstränden mehr als Stress denn als Erholung gesehen wurden. Da ist etwas dran. Allmählich dämmert uns, dass es das nicht die wahre Erfüllung sein kann, wenn man schon mal Zeit zum Abschalten hat. Doch in einer seltenen, kurzen Phase der Geschichte, in der es für fast alle immer mehr vom materiellen Wohlstand für alle gab, ist der Film im Grunde schon antiquiert gewesen, als er herauskam. Aber er beobachtet gut den Lauf der Dinge.
Hinzu treten viele Details, die zum Beispiel Gottliebs Bürowelt verblüffend echt wirken lassen. Keine überzogenen, gewollt komischen Szenen, aber viel Alltägliches, in vergnüglicher Form dargebracht. Manchmal wirkt es banal, aber langweilig ist es für uns nicht gewesen, weil jeder, der in einem Büro gearbeitet hat, das eine oder andere wiedererkennt – beispielsweise den Behelfs-Besprechungsraum im Archiv, weil das Konferenzzimmer wieder renoviert und dem neuesten Geschmack der Firmenleitung angepasst wird.
Die Dialoge wirken ungekünstelt und in ihrer Beiläufigkeit recht gekonnt. Da merkt man wohl doch, dass Thiele Auslandserfahrung hatte und die deutsche Sprache viel flockiger anwenden konnte als viele Regie-Zeitgenossen, die sich auf unangenehme Weise in einem nur halbherzig moderierten Vorkriegs-Modus festgefahren hatten und deren Figuren steif und gekünstelt daherkamen. Heinz Erhardt wirkt in „Der letzte Fußgänger“ bei weitem nicht so albern wie in manch anderem Film, vor allem seinen späteren, sondern ohne Einschränkung sympathisch.
Ähnliches kann man für Christine Kaufmann sagen, welche die Kiki spielt und einen beachtlichen, mädchenhaften Charme entwickelt, als sie den Gottlieb um den Finger wickelt und mit ihm manch schöne Stunde (im väterlich-onkelhaft-platonischen Sinn, versteht sich) entwickelt. Die grundsätzliche Konstellation, dass ein älterer Herr mit einer 16-jährigen Göre durch die Gegend zieht, mit welcher er nicht verwandt ist, mag durchaus für Stirnrunzeln sorgen oder gesorgt haben, aber zum einen war man 1960 zwar insgesamt formal-moralischer als heute, aber nicht so fokussiert auf das, was Männer mit jungen Frauen tun oder sich vorstellen. Nicht die Menschen, aber die Zeiten schienen ein wenig unschuldiger zu sein. Hinzu kommt, dass nach dem Krieg viele Menschen ohne Angehörige oder ohne komplette Familie zurückgeblieben und geflüchtet waren und sich in neuen Konstellationen zusammenfinden mussten, in Filmen der frühen 1950er wird dies nicht selten auf eine ernsthaftere Weise thematisiert.
Finale
Selbstverständlich ist „Der letzte Fußgänger“ keine große Satire gegen die Hektik des modernen Lebens, dafür ist er zu unverbindlich. Er zeigt nur eine Tendenz, die uns heute wieder etwas sagt, deshalb ist für uns auch die seit den 1980ern anhaltende Erhardt-Renaissance, speziell diesen Film betreffend, alles andere als erstaunlich.
Die Idylle, die hier zelebriert und immer wieder von jungen Leuten gestört wird, die kann man heute noch finden, und zwar ohne Störung, wenn man sich die Welt erwandert. Wenn man zum Beispiel ökologisch fortschrittlich sein will und immer in den Bioladen geht, sollte man die Erhardtsche Art von Urlaub in Erwägung ziehen, anstatt Kerosin für kulturfremde Süd-Fernreisen in den schadstoffgeplagten Himmel zu jagen – zumal es ja auch bei uns immer wärmer wird, im Sommer und überhaupt.
Anmerkung anlässlich der Republizierung des Beitrags im Herbst 2024
Die Sätze, die Andeutungen bezüglich des Klimawandels sind, haben wir nicht beigefügt, sie sind vermutlich schon im Entwurf aus dem Jahr 2013, jedenfalls in der Erstveröffentlichung aus dem Jahr 2014 enthalten, also geschrieben worden, lange bevor es „FFF“ oder radikale Klimaschützer gab.
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© 2024, 2014 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2013)
| Regie | Wilhelm Thiele |
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| Drehbuch | Wilhelm Thiele, Eckart Hachfeld |
| Produktion | Fritz Hoppe, Otto Meissner |
| Musik | Franz Grothe |
| Kamera | Kurt Grigoleit |
| Schnitt | Martha Dübber |
| Besetzung | |
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