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Filmfest 1210 Cinema – Werkschau Charles Chaplin (1) – Die große Rezension

Wunderbares Leben ist ein US-amerikanischer Stummfilm, der am 2. Februar 1914 Premiere feierte. Der Originaltitel lautet Making a Living, aber er erschien auch unter Doing His Best, A Busted Johnny oder Take My Picture in den Kinos. Es handelt sich um Charles Chaplins Filmdebüt, in dem er mit großem Schnurrbart, Spazierstock und Zylinderhut zu sehen ist. Die Rolle des Tramps wird erst im Folgefilm Kid Auto Races at Venice geschaffen.[1]

Halten Sie bitte den Atem an, liebe Leser und Leserinnen. Sie werden nun eine Rezension des allerersten Films von von Charles Chaplin lesen. Er ist jetzt 110 Jahre alt und mit ihm begann alles, was Filmkomik in den folgenden Jahren und Jahrzehnten mit definiert hat. Tatsächlich? Wir erklären mehr zu diesem 13-Minuten-One-Reeler im Anschluss an die Handlungsbeschreibung. Wie wir die Werkschau Charles Chaplin in unsere laufende dritte US-Chronologie („Von Beginn an, Jahr für Jahr ein Film“) integrieren, ohne nur alle ca. 100 Film eine Chaplin-Rezension vorstellen zu können, haben wir vor wenigen Tagen hier erklärt – anlässlich des Starts der Chaplin-Werkschau

Handlung[2]

In der Eröffnungsszene des Films versucht Chaplins Figur, der „Schwindler“, einen Passanten (Henry Lehrman) davon zu überzeugen, ihm Geld zu geben. Als nächstes wird Chaplin gezeigt, wie er mit einer jungen Frau flirtet und ihr einen Heiratsantrag macht, den sie annimmt. Lehrman, der eine Nachrichtenreporterin verkörpert, nähert sich nun der Frau und überreicht ihr einen Blumenstrauß und einen Ring, den sie nicht annehmen will, da sie nun verlobt ist. Lerhman sieht Chaplin und es kommt sofort zu einem Slapstick-Kampf zwischen den beiden. Später, auf der Suche nach einer Nachrichtenmeldung, wird Lehrmans Figur Zeuge eines Autounfalls und fotografiert ihn, wobei er ein dramatisches Bild eines Autos festhält, das einen hohen, steilen Hügel hinunterstürzt.

Als er und eine Schar Schaulustiger versuchen, dem unglücklichen Autofahrer zu helfen, der unter seinem Autowrack eingeklemmt ist, kommt Chaplin vorbei und stiehlt die Kamera mit dem sensationellen Foto. Dann rennt er mit dem Bild in die örtliche Zeitungsredaktion, um den Autounfall zu melden und behauptet, es sei sein eigenes. Es folgt eine kurze Verfolgungsjagd mit den Keystone-Cops, dann holt ein wütender Lehrman Chaplin ein, und sie setzen ihren Faustkampf auf einer Straße in der Innenstadt fort. Eine entgegenkommende Straßenbahn nimmt sie auf ihrem vorderen Kuhfänger auf und fährt die Straße hinunter und aus dem Bild. [5]

Rezension

Chaplin trägt im Film einen großen Schnurrbart und einen Zylinder; Er trägt auch einen Gehstock bei sich. Seine berühmte Leinwandfigur „Little Tramp“ erschien erst in seinem nächsten Film, Kid Auto Races at Venice, der von Keystone nur fünf Tage nach Beginn des Vertriebs von Making a Living veröffentlicht wurde. [6][7] Chaplin erinnerte sich an seine Arbeit mit Lehrman in Making a Living und behauptete, der Regisseur habe „absichtlich“ die besten Teile seiner Performance aus der Endfassung des Kurzfilms entfernt. [8] Lehrman, so Chaplin, sei „ein eitler Mann“ gewesen, der Jahre später tatsächlich „gestanden“ habe, das Filmmaterial falsch geschnitten zu haben, weil er den jungen Engländer für arrogant hielt und „[weil dieser, Anm. TH] zu viel wusste“. [2][9] (Q 2)

So banal und nachtragend geht es zu, wenn große Karrieren geboren werden. Nicht immer, aber manchmal. Wir können selbstverständlich nicht nachprüfen, ob es stimmt, was Chaplin gesagt hat, aber wir können dem, was wir sehen, ein wenig nachspüren. Es gibt ein paar Sicherheiten. Ja, den Tramp sehen wir noch nicht, aber die Figur, die Chaplin spielt, ist keineswegs First Rate, sondern ein mittelmäßiger – genau, Schwindler. Seine Kleidung hebt sich durchaus in Details schon negativ von jener der ordentlichen und wohlsituierten Leute ab. Sie ist eben ein wenig unordentlich und ranzig. Vielleicht dachte Chaplin im Anschluss an den Dreh dieses Films, das ist doch nichts Halbes und nichts Ganzes und ging in die unterschichtige Richtung, schnitt sich den monströsen Schnurrbart kurz, der ihn sehr unsympathisch wirken lässt und außerdem sein verlegenes Lächeln nicht richtig zur Geltung kommen lässt. Man sieht die Grundformen seiner Bewegungen, auch das Lächeln, sehr wohl schon diesem Film, aber noch ganz rudimentär.

Wir müssen ja von dem Mutual-Projekt und dem Essanay-Projekt, die beide von Arte gezeigt wurden, noch einmal zurückgehen. Essanay war bereits Chaplins zweite Filmfirma, Mutual die dritte und seine Produktionsweise wurde immer langsamer und akribischer, mithin die Zahl seiner Filme geringer. Eine Entwicklung, die das Kino im Allgemeinen vollzog, wie wir mittlerweile wissen, nachdem wir die Chronologie „von Beginn an“ gestartet haben. Diesen Effekt gab es schon in den ersten Jahren seines Schaffens und der ist typisch für die Filmschaffenden, die das Medium by Doing gelernt haben. Chaplin hatte bei Keystone begonnen, die zu dem Zeitpunkt schon die berühmten Keystone Cops erfunden hatten, eine der in der Tat witzigsten Truppen und ein genialer Einfall, der typisch vor allem für die englische Haltung gegenüber der Polizei ist, nämlich sie aus der Cockney-Sicht oder auch aus der Distanz als ein wenig beschränkt darzustellen. Damit konnte auch der arme Junge Charles Chaplin etwas anfangen, der mit dieser britischen Ausgabe der Cops groß geworden war. Ähnlich wie Alfred Hitchcock, in diesem Sinne. Chaplin hat im Laufe seiner Karriere nicht immer, aber immer wieder negative Zuschreibungen zur Staatsgewalt auf die Leinwand gebracht.

Freilich ist davon in einem Film von einer Firma, die von lustigen Polizisten geradezu lebte, nicht viel zu sehen. Dazu ist er zu kurz, dazu ist auch Chaplins Figur nicht geeignet, denn sie ist überhaupt noch nicht mit sozialer Anklage und mit der Aufforderung, gerührt von ihr zu sein, verbunden. In seinen besten Filmen, wie etwa „Moderne Zeiten“, trifft beides auf eine geniale Weise zusammen. Was für ein weiter Weg bis dorthin. Auch das Mutual- und das Essanay-Projekt habe ich mir in dieser Reihenfolge angeschaut, weil Arte es auch so gezeigt hat, also chronologisch rückwärts. Das heißt, die Filme wurden immer einfacher, sodass ich zwischenzeitlich dachte: Geht es noch schlichter? Ja, es geht, die Filme der 1900er und frühen 1910er waren schlicht, in Regel jedenfalls. Mit den Bildern laufen und mitgehen musste auch das Publikum lernen, das damals (wie heute) nicht überwiegend aus Theaterbesuchern bestand, die eine hochwertige Handlung zu schätzen wussten, sondern aus Menschen, die ansonsten überhaupt keine Kulturabende genießen konnten. Sofern man die damaligen Filme schon als Kultur bezeichnen kann. Ich meine, auf einige trifft das durchaus zu, nicht aber auf „Making a Living“.

Mittlerweile haben wir ja auch über den Kampf um die Entwicklung des Langspielfilms geschrieben, der 1914, als Chaplin mit Kurzfilmen startete, im Grunde schong gewonnen war, obwohl die meisten Arbeiten weiterhin One-Reeler waren.

Der Film ist ziemlich roh in der Anmutung. Ich habe mir die Anfangsszene zwei Mal angeschaut und trotzdem nicht verstanden, womit Chaplins Figur Lehrmans Figur nun Geld aus der Tasche locken wollte, wohl aber, dass er den Ring des anderen an sich bringt. Wie, warum, wodurch? Der Film wird im Verlauf etwas besser, aber nichts davon löst aus heutiger Sicht einen Wow-Effekt aus, wie etwas, von dem man glauben kann, es habe die Filmkunst innoviert. Das weist auf etwas hin, was ganz allgemein für Charles Chaplin gilt: Er war kein Innovator. Filmtechnisch sowieso nicht, sonst hätte er nicht so lange mit dem Übergang zum Tonfilm gezögert, selbst „Der große Diktator“ ist für einen Film von 1940 nicht gerade herausragend geschnitten. Einer seiner wenigen Mängel natürlich, die der herausragenden Stellung dieses Films in der Kinogeschichte keinen Abbruch tun. Charles Chaplin hat so viele wirklich originelle Gags zum Film beigesteuert und dabei unzählige Ideen umgesetzt, aber das waren keine Geniestreiche, sondern es handelte sich um einen langen handwerklichen Lernprozess, der mit dem hier rezensierten Film seinen Ausgang nahm.

Selbstverständlich hat Chaplin auch damit nicht bei Null angefangen. Er hatte jahrelang, man kann sagen, von Kindesbeinen an, im Varieté gearbeitet und sich dort einen Ruf als hervorragender Pantomime erarbeitet, der bestimmte Figuren ohne Worte oder mit wenig Worten zum Leben erwecken konnte – ohne den ernsten Hintergrund der „Pierrot“-Pantomime, aber auch in den romantischen Teilen seiner Komödien glänzte er mit einer Gestik und Mimik, die auch im Tonfilmzeitalter ausgeprägter war als die andere Darsteller. Chaplin war also keineswegs ein Anfänger, als er mit 25 Jahren seinen ersten Film machte und auch keineswegs ein richtiger Shootingstar in dem Sinne, wie spätere Darsteller, vor allem Darstellerinnen, schon als Teenager im Film begannen. Das war eben in diesen frühen Jahren auch nicht möglich, weil der Film gerade erst begann, Spielfilmhandlungen aufzubauen.

Sechs Monate nach Beginn der zweiten Amerika-Tournee wurde Chaplin eingeladen, der New York Motion Picture Company beizutreten. Ein Vertreter, der seine Auftritte gesehen hatte, meinte, er könne Fred Mace ersetzen, einen Star der Keystone Studios, der gehen wollte. [60] Chaplin hielt die Keystone-Komödien für „eine grobe Mischung aus Rauheit und Rumpel“, mochte aber die Idee, in Filmen zu arbeiten, und rationalisierte: „Außerdem würde es ein neues Leben bedeuten.“ [61] Er traf sich mit dem Unternehmen und unterzeichnete im September 1913 einen Vertrag über 150 Dollar pro Woche. [63] Chaplin traf Anfang Dezember in Los Angeles ein,[64] und begann am 5. Januar 1914 für das Keystone Studio zu arbeiten. [65]

Chaplins Markenzeichender „Tramp„, debütiert in Kid Auto Races at Venice (1914), Chaplins zweitem veröffentlichten Film

Chaplins Chef war Mack Sennett, der zunächst Bedenken äußerte, dass der 24-Jährige zu jung aussehe. [66] Er wurde erst Ende Januar in einem Film verwendet, als Chaplin versuchte, die Prozesse des Filmemachens zu erlernen. [67] Der Ein-Rollen-Film Making a Living markierte sein Debüt als Filmschauspieler und kam am 2. Februar 1914 in die Kinos. Chaplin mochte den Film nicht, aber eine Kritik bezeichnete ihn als „Komiker ersten Ranges“. [68] 

150 Dollar pro Woche waren für den armen Kerl und allgemein damals schon eine große Summe, die darauf hindeutete, welche Rolle Stars im Filmbusiness einmal spielen sollten: Sie standen, mit Ausnahme von Konzernlenkern, an der Spitze der Einkommenspyramide und 150 Dollar pro Woche waren schon mehr als das Achtfache eines damaligen Durchschnittseinkommens in den USA, das nach einer etwas ungenauen Schätzung bei 600 bis 700 Dollar lag. Nicht pro Woche, nicht pro Monat, sondern pro Jahr. Er musste also keine Schwindel mehr begehen, wie in diesem Film so unpräzise dargestellt, um über die Runden zu kommen. Wenige Jahre später war er der reichste Filmschaffende überhaupt, unter den . Und man bekommt den Eindruck, je besser es ihm selbst ging, desto rührender setzte er seine Armer-Mann-Trampfigur in Szene. Natürlich war das auch Kalkühl, weil diese Figur so gut ankam, aber sicher ebenso in dem Sinne authentisch, als er damit seine Herkunft aus Verhältnissen dokumentierte und nie vergessen wollte, die mit bescheiden eher euphemistisch beschrieben sind.

Dass er in seinem allerersten Film eine eher unsympathische, nicht hochklassige, aber noch nicht so dezidiert arme Figure spielen wollte, kann ich gut verstehen. Es ist leichter, sich so darzustellen, wenn man bereits aller materiellen Sorgen enthoben ist.

In seiner umfangreichen Biografie des Komikers Chaplin: His Life and Art aus dem Jahr 1985 gibt der englische Filmkritiker und Historiker David Robinson weitere Einblicke in die Produktion des Kurzfilms, einschließlich der Drehorte, der Entwicklung der Kostümauswahl des Chaplin für sein Leinwanddebüt und seines Schauspielstils in einigen Szenen:

Chaplins erster Film, Making a Living, war eine von Keystones aufwendigeren Produktionen. Er hatte eine vergleichsweise gut entwickelte Handlung und wurde teils auf der Bühne, teils in den Gärten eines nahe gelegenen Hauses und teils auf der Straße in der Glendale Avenue gedreht. Chaplins Kostüm, sein Make-up und seine Figur ähnelten Archibald Binks in „The Wow-Wows“ und „A Night in a London Club“, wobei noch nichts von der Charlie-Figur kommen sollte. [10] Er trug einen grauen Zylinder, eine karierte Weste, einen steifen Kragen, eine gefleckte Krawatte und ein Monokel. Am überraschendsten war der lange, herabhängende Schnurrbart eines eher niedergeschlagenen Bühnenbösewichts. Zu Beginn des Films bewies er den Betrug seiner eleganten Anmaßungen, indem er einen vorbeigehenden Freund (gespielt von Lehrman) berührte, um einen Kredit zu erhalten. Der erste charakteristische Chaplin-Gag besteht darin, dass er die angebotene Münze verächtlich als zu gemein ablehnt, sie dann aber hastig ergreift, bevor der Freund seine Meinung ändern kann. [11] (Q 2)

Irgendetwas machen die Figuren dabei mit den Füßen, die aber sind nicht im Bild, daher wirkt es auf mich, als ob der Gag nicht richtig ausgeführt sei.

Obwohl Lehrman und Reed Heustis oft als Co-Autoren des Drehbuchs des Films bezeichnet werden, gibt Chaplin in seiner Autobiografie seine Sicht auf den Status des Drehbuchs zu Beginn der Produktion wieder. „Wir hatten keine Geschichte“, schreibt er und fügt hinzu: „Es sollte ein Dokumentarfilm über die Druckerpresse werden, mit ein paar komödiantischen Einsprengseln.“ [2] Er stellt dann fest, dass Lehrman „nach Ideen zu tasten“ schien, so dass er als „Neuling bei Keystone“ anfing, Vorschläge zu machen. „Das“, fährt Chaplin fort, „war der Punkt, an dem ich einen Antagonismus mit Lehrman geschaffen habe.“ [2]

Die Aufnahmen von Straßenszenen zeigen verschiedene Bereiche der Innenstadt von Los Angeles im Jahr 1914. In der Szene, in der sich der Betrüger und der Zeitungsreporter auf der Straße prügeln, ist im Hintergrund kurz das Schild des Fremont Hotels zu sehen. Das Hotel wurde in den 1940er Jahren geschlossen, und das gesamte Gebäude wurde 1955 abgerissen. [12] (Q 2)

Eine weitere Eigenschaft von Chaplins Komik, die er auch als Tramp noch gerne zeigte, bevor dieser endgültig zu einer sentimentalen Ikone wurde, war ein nicht zu unterschätzendes Maß an Gemeinheit und manchmal sogar krimineller Energie, die er letztmalig in „The Kid“ zur Schau stellte, als er mit dem Straßenkind, das er annimmt, eine Zwei-Mann-Gaunerbande bildet. Der Junge schmeißt die Glasscheiben ein, zufällig kommt der Glaser Charlie vorbei und repariert sie. In noch früheren Filmen tritt Chaplins Figur manchmal im wörtlichen Sinne nach, was darauf hinweist, dass die frühe Filmkomödie physisch robust, intellektuell rudimentär und auf Situationskomik, die man fast gleich immer wiederholen konnte, ohne dass dem Publikum dabei langweilig wurde, abgestellt, nicht auf Persönlichkeiten. So wird auch der Stil von Mack Sennets Keystone-Filmstudio beschrieben. Dabei war natürlich die Idee, Ensembles wie die Keystone-Cops auftreten zu lassen, die den Spaß von Verfolgungjagden und Tortenschlachten gegenüber einer oder zwei Personen vervielfachten, ein entscheidendes Alleinstellungsmerkmal und ein Erfolgsgarant.

In „Making a Living“ begeht Chaplins Figur gleich mehrere Fiesivitäten: Das Abluchsen des Geldes von dem Freund zu Beginn ist dabei noch die Geringste. Er schnappt diesen alsdann die Braut weg, dann schnappt er dem Freund die Kamera weg, die der schon ziemlich sensationsheischend eingesetzt hatte, ohne sich um die Unfallopfer zu kümmern und geht dann auch noch zu der Zeitung und gibt das Foto als sein eigenes aus. Das ist schon eine andere Hausnummer als Tortenschlachten und Verfolgungsjagden, Chaplins Filmfigur ist eine negative, die nur ganz kurz charmant wirkt, als Chaplin sein angesprochenes spezielles Lächeln zeigt und ein paar linkische Bewegungen. In dem Kontext dieses Films wirkt beides aber, als sei es möglicherweise zu berechnend, um Sympathie bei einem schlichten Mädchen zu erwirken.

Aber schon damals war das Studio von Sennett nicht nur die Heimat der Keystone-Cops, sondern auch ein Tummelplatz für Stars, die sich ausprobieren wollten:

Der Filmhistoriker Richard Koszarski relativiert den Einfluss der „Spaßfabrik“ auf das komödiantische Filmschauspiel:

„Mack Sennett hat zwar einen sicheren und geschätzten Platz in der Geschichte der Leinwandkomödie, aber sicherlich nicht als Entwickler individueller Talente… Chaplin, Langdon und Lloyd waren alle an der einen oder anderen Stelle dabei, entwickelten ihren Stil aber nur trotz Sennett und erreichten ihre künstlerischen Höhepunkte nur ohne seinen Einfluss. Die Leinwandkomödie folgte Chaplins Beispiel und begann, sich mehr auf die Persönlichkeit als auf die Situation zu konzentrieren.“ [19] / [3]

„Trotz Sennet“ ist, zumindest wenn man nur diesen Ausschnitt liest, etwas unfreundlich. Immerhin bot er all diesen Komikern eine Bühne, einen Arbeitsplatz, denn damals war noch nicht daran zu denken, dass Künstler, die vom Vaudeville kamen, genug Geld hatten, um sich selbst zu produzieren, wie Chaplin es einige Jahre später, auf dem Höhepunkt seines Schaffens, mit United Artists tun sollte, zusammen mit May Pickford und Douglas Fairbanks, den Superstars in anderen Genres als der Slapstickkomödie. Vermutlich verfolgte Mack Sennett weniger eine Ideologie der Tortenschlachten als die ebenso simple, aber gegenüber der Entwicklung von Talenten tolerantere Absicht, Geld mit seinen One-Reelern zu verdienen. Das dürfte ihm mit Chaplins Filmen gut gelungen sein.

Wie hat man aber Chaplins allerersten Auftritt in laufenden Bildern aufgenommen?

In ihrer Ausgabe vom 7. Februar 1914 gibt die viel gelesene New Yorker Fachzeitschrift The Moving Picture World dem Comedy-Kurzfilm eine kurze, aber sehr positive Rezension:

Der kluge Spieler, der in diesem Bild die Rolle des nervösen und sehr raffinierten Schwindlers übernimmt, ist ein Komödiant ersten Ranges, der sich wie eines der Naturtalente der Natur verhält. Es ist so voller Action, dass es unbeschreiblich ist, aber so viel davon ist frischer und unerwarteter Spaß, dass man fast die ganze Zeit lachen wird. Es ist dumm-lustiges Zeug, das selbst den nüchternen Verstand zum Lachen bringt, aber die Leute, die einen Abend lang eine gute Zeit verbringen wollen, werden jaulen. [13]

In den Monaten nach der Veröffentlichung des Films, als er in den Vereinigten Staaten zirkulierte, beurteilten viele Stadt- und Kleinstadtzeitungen, wie The Sentinel-Record in Hot Springs, Arkansas, den Kurzfilm als einen weiteren von Keystones „immer guten und ungestümen Komödien“; Und sie ermutigten ihre Leser, ihn zu sehen. [14] Die Lokalzeitung in Chickasha, Oklahoma, beschrieb Making a Living als „wirklich einen Schrei von Anfang bis Ende“, während das Majestic Theatre in Bemidji, Minnesota, es als „Pfirsich“ bewarb und hinzufügte: „Wenn Sie noch nie gelacht haben, werden Sie es sicherlich tun, wenn Sie diese Komödie sehen.“ [15][16] In diesen und anderen Bemerkungen über den Film im Jahr 1914 und in Zeitungsanzeigen, die für die Komödie warben, werden Charlie Chaplin und seine Mitstreiter nur selten namentlich erwähnt, was zu dieser Zeit außerhalb der Veröffentlichungen der Filmindustrie nicht unüblich war, insbesondere im Hinblick auf neue Darsteller in One-Reelern. Im Juni 1914 erwähnte das Dittmann Theatre in Brownsville, Texas, jedoch in der Zeitung der Stadt, dass die Vorführung von Making a Living einen „neuen Komiker in der Keystone-Komödie“ beinhaltete, einen Entertainer, den das Theater als „Charles Chappel“ identifizierte. [17] Die Theaterleitung oder die Kinobesucher im Allgemeinen ahnten nicht, dass Chappel am Ende des folgenden Jahres eine etablierte nationale und internationale Filmberühmtheit und ein wachsendes kulturelles Phänomen sein würde. [18]

Vor allem eine Szene in Making a Living begeisterte das Publikum und veranlasste 1914 sogar Beobachter der Filmindustrie, Lehrmans und Keystones Bereitschaft zu kommentieren, beträchtliche Summen für ihre Filmprojekte auszugeben, selbst für einfache Kurzfilme mit nur einer Rolle. Der Schauplatz ist der Autounfall. Die Motion Picture News, eine weitere populäre New Yorker Fachzeitschrift, berichtete über die finanziellen Kosten für die Inszenierung dieses Unfalls während der Produktion:

Henry Lehrman, ein Keystone-Regisseur, hat in seinem letzten Film „Making a Living“ ein Auto im Wert von 1.500 Dollar (heute 43.800 Dollar) über eine Klippe gekippt. Für diesen Effekt wurde ein fast neuer Studebaker verwendet, der, als er am Boden geborgen wurde, einem Haufen Anzündholz glich. Diese teure Episode kostete die Keystone Company eine beträchtliche Summe, aber es sollte ein Nervenkitzel aus der Geschichte herausgeholt werden, und Keystone wählte diese Methode, um ihn zu bekommen. [19] (Q 2)

Auf mich hat der Wagen eher den Eindruck eines Modells von 1909-1910 gemacht, aber wir wollen da nicht kleinlich sein: Ein Auto zu schrotten, war wohl damals schon ein unerhörter Produktionsaufwand. Selbst längere Spielfilme kosteten seinerzeit selten mehr als 5.000 Dollar.

Ansonsten habe ich in dem Film nichts gesehen, was nach viel materiellem Einsatz ausgesehen hat, wenn man davon absieht, dass einige Aufnahmen draußen gedreht wurden, nicht in den Keystone-Studios. Zwar war das Keystone-Studio angeblich das erste geschlossene Gebäude für Filmaufnahmen überhaupt (wir schreiben mal vorsichtshalber: In den USA bzw. in Hollywood), aber es war damals nicht unüblich, Freiluftaufnahmen zu machen. Mehr als zu dem Zeitpunkt, als das Studiosystem voll entwickelt war. Angeblich war ja auch die klare, gute Luft und das schöne Wetter ein Grund, warum die ursprünglich an der Ostküste beheimateten Filmemacher Hollywood in Kalifornien gründeten.

Wir haben die Rezension, die zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung erst 11 Monate alt ist (Entwurf) punktuell ergänzt und mussten feststellen, dass wir einige Einordnungen präziser vorgenommen hätten, wenn wir damals zunächst die Chronologie „von Beginn an“ gestartet und 1914 eine Abzweigung zur Chaplin-Werkschau hin genommen hätten, alternierend mit anderen US-Filmn rezensiert, wie wir es jetzt tun. Der Grund ist ziemlich einfach: Wir haben mittlerweile eine bessere Vorstellung vom frühen Filmschaffen in den USA seit dem Star in den Edison-Studios im Jahr 1889-90. Dadurch wissen wir auch, dass nicht das Keystone Studio, sondern das kleine „Black Maria“ von Edison aus dem Jahr 1893-94 der erste eigens als Filmstudio erstellte geschlossene Bau war. 

Finale

Nun haben wir bereits die Wörterzahl für das Feature „Die große Rezension“ leichthändig überschritten, auch mit fremdem Text. Das ist aber in zweifacher Hinsicht gerechtfertigt. Zum einen, weil die gemeinfreie Dokumentation in der amerikanischen Wikipedia sich anbietet, um Filme zu unterlegen, die vor allem aus historischen Gründen wichtig sind, dahinter tritt die Rezension mit der Meinung zum Film notabene zurück. Außerdem ist ein Text zum Auftaktfilm einer solchen Karriere wie der von der logische Platz für einige allgemeinere Anmerkungen, die nicht nur mit diesem Film zu tun haben und ihn außerdem in seinen zeitlichen und künstlerischen Zusammenhang stellen.

Wir wissen heute natürlich, wo man suchen muss, um schon in „Making a Living“ Spurenelemente von Chaplins typischer Komik zu erkennen, also findet man sie. Die Rezeption des Films abzubilden, ist deshalb wichtig, um zu verstehen, wie enthusiastisch Filmchen wie dieses aufgenommen wurden, als das Kino noch Kintopp war und man gerade dazu überging, anstatt „Nickelodeons“ aufzustellen, Lichtspielhäuser zu erbauen. Die meisten Filme waren nur eine Rolle, also maximal 15 Minuten lang, so auch dieser. Wenn ich es richtig im Kopf habe, hat Chaplin bei Keystone noch überhaupt keinen Filme gemacht, der mindestens zwei Rollen umfasst, einen Film von mehr als 45 Minuten sogar erstmals mit dem erwähnten „The Kid“ im Jahr 1921, der damit auch Chaplins Eintritt in die Welt der Langspielfilme war. Wie geschrieben, Chaplin war konservativ im filmtechnischen Sinne. Bei dem, was er schon mit den kurzen Komödien verdient hatte,  hätte er das Risiko eines längeren Films, der etwas mehr kostet, ohne Weiteres schon früher eingehen können.

Die IMDb-Nutzer:innen haben zwar ihre Vorlieben, zum Beispiel für amerikanische und neuere Filme, aber die Durchschnittsbewertungen liegen doch oftmals verblüffend nah an meinem eigenen Eindruck, in diesem Fall bei für einen Chaplin-Film ziemlich mäßigen 5,5/10. Dem kann ich mich in etwa anschließen, wenn ich die historische Bedeutung von „Making a Living“ auch nicht außer Acht lasse. Der ruckartige, nicht besonders elaborierte Stil war 1914 schon nicht mehr State of the Art, also gewiss kein Sprung nach vorne, auch nicht im Komödienfach. Dass man 110 Jahre später Chaplin-Typisches herausdestillieren kann, prägt zumindest nach meiner Ansicht den Film nicht und somit auch nicht meinen persönlichen Eindruck von der Komik, die wir vorgeführt bekommen.

53/100

© 2024 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

Regie Henry Lehrman
Drehbuch Henry Lehrman, Reed Heustis
Produktion Mack Sennett
Kamera Enrique Juan VallejoFrank D. Williams
Besetzung

[1] Wunderbares Leben – Wikipedia

[2] Seinen Lebensunterhalt verdienen – Wikipedia

[3] Mack Sennett – Wikipedia


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