Nackt unter Wölfen (DD 1960) #Filmfest 1212

Filmfest 1213 Cinema

Nackt unter Wölfen ist ein antifaschistischer DDRSpielfilm von Frank Beyer aus dem Jahr 1963. Die Inszenierung des „VEB DEFA-Studio für Spielfilme Babelsberg[1], künstlerische Arbeitsgruppe (KAG) „Roter Kreis“, basiert auf dem gleichnamigen Roman von Bruno Apitz, der 1958 beim Mitteldeutschen Verlag erschienen ist. Die literarische Vorlage erfuhr bereits 1960 durch Georg Leopold eine Filmadaption für das DDR-Fernsehen. Die Schauspieler Fred Delmare, Peter Sturm, Wolfram Handel und Angela Brunner waren in beiden Verfilmungen in den gleichen Rollen (teilweise sogar mit den gleichen Dialogen) zu sehen.

Der Anspruch, dass im Land der Täter und einer großen Zahl von Opfern die authentischsten Filme über die Nazizeit oder generell über die eigene Geschichte gemacht werden, greift selbstverständlich auch für einen der ersten echten KZ-Filme, dessen Realitätsnähe vermutlich noch größer wirkt, als sie wirklich ist, weil wir heute nur noch diese Bilder sehen, die selbstverständlich von einer klaren politischen Ansicht begleitet werden und die so gewählt sind, dass sie diese Botschaft unterstützen.

Handlung (1)

Der Roman spielt im Zeitraum Februar bis April 1945 im Konzentrationslager Buchenwald. Ein polnischer Häftling schmuggelt ein etwa dreijähriges Kind ins Lager. Das illegale Internationale Lagerkomitee (ILK), eine aus Kommunisten verschiedener Nationalitäten bestehende Widerstandsgruppe, beschließt, das Kind mit einem Transport in ein anderes Lager gehen zu lassen. Die Häftlinge Höfel und Kropinski, die in der Effektenkammer arbeiten, führen diesen Beschluss jedoch nicht aus und verstecken das Kind.

Seine Entdeckung durch die SS hätte unweigerlich die Ermordung des Kindes zur Folge. Erst wird es in der Kleiderkammer, dann in einer Krankenbaracke versteckt. Später wird es in einem Schweinekoben untergebracht. Durch das Kind gerät die gesamte Widerstandsbewegung in Gefahr. Dennoch nehmen mehrere Häftlinge große persönliche Risiken auf sich, um das Kind zu retten. Höfel und Kropinski werden wochenlang schwer gefoltert, ohne das Kind und ihre Kameraden zu verraten.

Auch der Häftling Pippig schweigt. Er stirbt an schwerer Folter durch die Gestapo. Der Häftling Rose wird aus Angst zum Verräter, der Häftling Wurach lässt sich von der SS zu Spitzeldiensten missbrauchen. Daneben werden die Charaktere der SS-Wächter dargestellt: Der Lagerführer Schwahl will alle Häftlinge auf einen Todesmarsch nach Dachau schicken und die Spuren der Verbrechen im Lager verwischen, Kluttig will alle Häftlinge töten lassen, Reineboth will untertauchen und sich den neuen politischen Gegebenheiten anpassen, Mandrach, genannt Mandrill, ein brutaler Folterer, will vor dem Ende noch seine im Block eingesperrten Gefangenen töten, und Zweiling schwankt zwischen der Furcht vor der Rache der Häftlinge und vor seinen eigenen Kameraden.

Als der Informant Wurach eine Todesliste mit 46 Namen zusammenstellt, die angeblich die geheime Widerstandsorganisation leiten, beschließt das ILK, die Gesuchten zu verstecken. Der Lagerälteste Krämer ist einer der Köpfe des ILK. Durch seine Persönlichkeit wird er von vielen Häftlingen respektiert. Im Unklaren über die Nähe der Front muss das ILK immer wieder abwägen zwischen einander widersprechenden Pflichten, dem Schutz des Einzelnen und der Verantwortung für die Gesamtheit der 50.000 Häftlinge. Die ersten Todesmärsche können nicht verhindert werden. Als die Front nahe ist, befreien die Häftlinge das Lager selbst, mit Waffen, die sie gebaut oder ins Lager geschmuggelt haben. Sie holen Höfel und Kropinski aus dem Bunker. Auch das Kind wird aus seinem Versteck geholt. Die Romanfiguren, die im Buch von Apitz erscheinen, tragen teilweise die Namen von ehemaligen Mitgefangenen von Bruno Apitz, die der Autor auf diese Weise ehren möchte. Mit der Wahl der Namen verdeutlicht Apitz auch den Charakter der jeweiligen Person (beispielsweise Hauptscharführer Zweiling). Für die – literarisch freie, in wesentlichen Punkten von den tatsächlichen Ereignissen abweichende – Darstellung des im Roman beschriebenen Jungen orientierte er sich an der Geschichte des mit drei Jahren nach Buchenwald gebrachten Stefan Jerzy Zweig

Spotlight 

Alle wesentlichen Ereignisse, die der Film zeigt, auch das Verstecken des dreijährigen Jungen, sind belegt. Auch das „ILK“, die Lagerleitung der Häftlinge, gab es, ebenso die Taktiken der Befehlsverweigerung zwecks Verhinderung von weiteren Todesmärschen durch Evakuierung kurz vor dem Eintreffen der Amerikaner. Dass ohne deren Anrücken an einen bewaffneten Widerstand nicht zu denken gewesen wäre, verschweigt der Film nicht, überdies spielt die sich nähernde Front im Denken beider Seiten, der Häftlinge wie der Lageraufseher, eine wichtige Rolle.

Wenn heute gesagt oder geschrieben wird, der Film nach dem Roman von Bruno Apitz, der selbst acht Jahre im Lager zugebracht hat, sei „ein Dokument seiner Zeit“, also vor allem seiner Entstehungszeit im Jahr 1962, so trifft das sicher auf eine gewisse Heraushebung der kommunistischen Aktivisten unter den Häftlingen zu und vielleicht werden die Häftlinge ingesamt sehr heldenhaft dargestellt, wie sie trotz unterschiedlicher Charaktere dafür sorgen, dass der kleine Junge von der SS nicht gefunden wird. Aber grundsätzlich muss es wohl so gewesen sein, sonst wäre dieses zwei Monate andauernde Versteckspiel nicht möglich gewesen.

An diesen Vorgängen erschließt sich allerdings auch, dass Buchenwald trotz ca. 50.000 Häftlingen, die dort den Tod fanden, kein Vernichtungslager war, sondern vor allem in den letzten Jahren Teil eines Wirtschaftssystems, und die Häftlinge waren in Scharen als Zwangsarbeiter in Rüstungsbetrieben tätig. Die ausgefeilte Organisation des Gesamtkomplexes Buchenwald mit seinen verschiedenen Lagerteilen und Außenlagern ist im Film nicht mehr erkennbar, die Rüstungsbetriebe, insbesondere den berüchtigten Dora-Stollen, in dem die Kampfrakete V2 gefertigt wurde, gab es zu der Zeit möglicherweise auch nicht mehr.  

Allerschlimmste Anblicke, wie die die US-Soldaten nach ihrer Ankunft im April 1945 filmten, Berge ausgemergelter Leichen, bleiben uns erspart, denn im Vordergrund stehen die human handelnden Gefangenen und wie sie größtenteils überleben und später Funktionen im neuen, sozialistischen Deutschland oder in ihren osteuropäischen Heimatländern übernehmen können. Ob wirklich Ex-Häftlinge aus Buchenwald oder anderen Konzentrationslagern eine entscheidende Rolle bei der Mitgestaltung des neuen Staates gespielt haben? Zumindest unter den ganz bekannten Namen finden sich solche Biografien eher nicht, sondern eher in Moskau geschulte Exilkommunisten wie Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht.

Was in „Nackt unter Wölfen“ ein wenig dialektisch abgehandelt wird, nämlich das Leben des Jungen gegen die Interessen des Illegalen Lagerleitungs-Komitees (ILK), ist im Grunde ein Modellfall für jede Extremsituation, in der Leben gegen Leben steht. Darf man ein einzelnes Leben opfern, um viele Leben zu retten? Hier ist es eben eine kommunistische Struktur, die nicht in Gefahr gebracht werden soll durch den Aufruhr, den das Schicksal eines einzelnen Kindes verursacht. Viele kleine menschliche Momente stehen gegen ein größeres Ganzes, das sich nicht zwangsläufig zunächst ideologisch offenbart.

Denn es gibt keine spezielle kommunistische Haltung, welche die Führung des ILK beeinflussen würde, der Diskurs über Pro und Contra Weiterversendung des Jungen ist rein pragmatischer Natur. Das macht ihn allerdings universell, was eine Stärke des Films darstellt, auch wenn die Häftlinge, wo sie doch so geschwächt sind durch den langen Lageraufenthalt, eine große Erfindungsgabe und physische Präsenz sowie ein beachtliches Durchhaltevermögen gegenüber den Foltermethoden der Lager-SS und der Gestapo entwickeln. Einer wird zum Verräter und gibt nicht nur den Aufenthaltsort des Jungen in diesem riesigen Lagerkomplex preis, sondern auch die führenden Komitee-Mitglieder.  

Finale

Wir haben den Film auch deshalb genau jetzt rezensiert, weil wir gerade über „Nikolaikirche“ geschrieben haben, einen Nachwendefilm von 1995, der unter der Regie von Uwe Beyer gedreht wurde – und dieser hat auch „Nackt unter Wölfen“ inszeniert (ebenso den berühmten „Spur der  Steine“ im Jahr 1966). Beyer war einer der profiliertesten Filmemacher der DDR und der Stil von „Nackt unter Wölfen“ entspricht dem Stand der Zeit, wobei es einige bemerkenswerte Einstellungen und Momente gibt, wie etwa jenen, in dem welchem der Häftling Höfel (Armin Mueller-Stahl) sich auf den Foltertisch zubewegt und der Vorgang aus seiner Sicht gefilmt ist. Solche subjektiv-experimentellen Kameraeinstellungen sind aber die Ausnahme und der Film hat einen dem schwierigen Thema angemessenen, sachlichen Stil.  Konrad Wolffs visuelle Ausdruckskraft, die sich etwa in „Der geteilte Himmel“ (1964) offenbart, bleibt auch im Spektrum der DDR-Filmschaffenden eine Ausnahme.
Anmerkung anlässlich der Veröffentlichung des Textes im Jahr 2015: Wir waren etwas erstaunt, wie kurz er Entwurf der Rezension zu diesem wichtigen Film vor neun Jahren ist, inklusive der langen Inhaltsbeschreibung  aus der Wikipedia, deswegen bemühen wir ebenje hier noch einmal für ein paar Stimmen, wie wir sie heute oft mehr integriert in unseren Kritiken zeigen:

„Der Autor Bruno Apitz war selbst acht Jahre in Buchenwald. Das war eine gute Voraussetzung für realistische Wirklichkeitsnähe, die der Film fast durchgehend erreicht. Nur gelegentlich stört ein gewisses Pathos, das die Guten allzu gut erscheinen läßt. Den Eindruck des Dokumentarischen verstärkt auch die Mitwirkung von Schauspielern verschiedener Nationalität, die im Film alle ihre Muttersprache sprechen.“ – Reclams Filmführer[2]

„Beyer ging hier mit Schlichtheit und Zurückhaltung ans Werk: es kam ihm weniger auf die konkrete Beschreibung der Zustände im KZ-Lager Buchenwald an, sondern auf den grundsätzlichen Konflikt zwischen menschlichem Mitgefühl und politischem Verstand …“ – Gregor, Ulrich: Geschichte des Films[3]

„Guter Defa-Film, der neben formaler Stilsicherheit möglicherweise auch eine indirekte Kritik an den unfreiheitlichen Zuständen in der Ostzone enthält. Ab 14 zu empfehlen.“ – Evangelischer Filmbeobachter[4]

Der polnische Film „Die letzte Etappe“ aus dem Jahr 1948 gilt allgemein als der erste, der das Leben im KZ sehr exakt und ausführlich darstellt. Wir wir aus unserer kürzlichen Beschäftigung mit dem frühen deutschen Nachkriegsfilm wissen, gab es in der Phase, die wir mit „der ehrliche Versuch, 1946-1950“ bezeichnen möchten, einige Filme, die sich mit der damals allerjüngsten Vergangenheit auseinandersetzten, aber keinen, der so auf das Lagerleben konzentriert war. Viele Größen des DDR-Films haben in dem Werk mitgewirkt und mit ihrer darstellerischen Präsenz zu seinem Gelingen beigetragen.

80/100

© 2024 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2015)

(1), kursiv, tabellarisch: Wikipedia

Regie Frank Beyer
Drehbuch
Musik Joachim Werzlau
Kamera Günter Marczinkowsky
Schnitt Hildegard Conrad
Besetzung

 


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