Update: Die Ära Merkel, neue Kritik +++ Sehnsucht nach Angie (Angela Merkel, der Politikstil, Trump, die Memoiren, die Bilanz)

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In den letzten Tagen sind Angela Merkels Memoiren in den Medien themenweise und breit diskutiert worden. Wir haben ein wenig gesammelt, aber heute stellen wir die Ära Merkel in einer Schaugrafik von Statista vor und kommentieren im Anschluss ein wenig.

Die Ära Merkel

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz CC BY-ND 4.0 Deed | Namensnennung-Keine Bearbeitung 4.0 International | Creative Commons erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Die Amtszeit von Angela Merkel dauerte genau 5.860 Tage. Das ist eine sehr lange Zeit. Viele jüngere Menschen kennen nur noch sie als Kanzlerin – und natürlich Olaf Scholz. Vielleicht ist es deshalb nicht so verwunderlich, dass ein Nostalgiegefühl Angela Merkel gegenüber entsteht, das wir nicht teilen können, von dem aber auch beispielsweise einige nicht neutrale, sondern klar pro Merkel formulierte Anmerkungen im obigen Statista-Text zeugen. Wir ergänzen eine Übersicht über die „ewigen Kanzler:innen“ der BRD:

Rang 1: Helmut Kohl: 5870 Tage (16 Jahre und 26 Tage)
Rang 2: Angela Merkel: 5860 Tage (16 Jahre und 16 Tage)
Rang 3: Konrad Adenauer: 5144 Tage (14 Jahre und 31 Tage)

Ein Schmunzeln am Rande, weil Angela Merkel es geschafft hat, ihren Ziehvater Helmut Kohl gerade noch nicht zu überholen. Beide kamen wegen außergewöhnlicher politischer Vorgänge ins Amt: weil SPD-Kanzler die Vertrauensfrage stellten und verloren. 1982 war es Helmut Schmidt, 2005 Gerhard Schröder, in ersterem Fall zwangsläufig, nach dem vorzeitigen Ende der sozialliberalen Koalition, im zweiten Fall mutwillig provoziert. Daraufhin wurden jeweils vorgezogene Neuwahlen (1983 und 2005) abgehalten. Der nächste Fall dieser Art steht in den nächsten Tagen ins Haus, falls Olaf Scholz nicht überraschend die Vertrauensabstimmung, die er initiieren will, gewinnt. In diesem Fall kann man wieder von einer zwangsläufigen Neuwahl wegen des Endes der Ampelkoalition sprechen.

Nun zur Grafik. Ein Regierungschef ist auffällig abwesend: Wladimir Putin. Wladimir Putin war insgesamt:

a) Als Ministerpräsident Russlands: 4 Jahre und 4 MonatePutin war zweimal Ministerpräsident:Vom 9. August 1999 bis 7. Mai 2000 (9 Monate)
Vom 8. Mai 2008 bis 7. Mai 2012 (4 Jahre)

b) Als Präsident Russlands: 24 Jahre und 4 Monate (Stand November 2024)Putin war bisher fünfmal Präsident:
Vom 31. Dezember 1999 bis 7. Mai 2008 (8 Jahre und 4 Monate)
Vom 7. Mai 2012 bis 7. Mai 2024 (12 Jahre)
Seit 7. Mai 2024 läuft seine fünfte Amtszeit (bisher 4 Monate)

Insgesamt war Putin damit bis November 2024 28 Jahre und 8 Monate in den höchsten Regierungsämtern Russlands tätig. Seine aktuelle Amtszeit als Präsident läuft noch bis 2030

Wenn man einen Diktator wie Xi Jinping auflistet, kann man auch Wladimir Putin beifügen, dann erscheint Merkels Amtszeit nicht mehr ganz so beeindruckend. Allerdings ist China wiederum die einzige vollständige Diktatur, die auf der Grafik auftaucht, müsste also ebenso außer Konkurrenz laufen wie die letzten Amtszeiten Wladimir Putins, die nicht mehr auf demokratischem Weg im Sinne einer freien Wahl zustande kamen.

Außerdem muss man anmerken, dass in wichtigen demokratischen Ländern für das höchste Regierungsamt sinnvollerweise Zeitbegrenzungen existieren. In Frankreich ist die Präsidentschaft auf maximal zehn Jahre (zweimal fünf Jahre) begrenzt (früher zweimal sieben Jahre), in den USA auf maximal acht Jahre, wovon nur in Kriegszeiten einmal abgewichen wurde (Franklin D. Roosevelt) und wo es spannend sein wird zu sehen, ob Donald Trump es nicht schafft, diese Begrenzung zu kippen.

In anderen Ländern halten die Regierungen grundsätzlich nicht so lange, wie man sieht. Ist das ein Nachteil? Wir meinen, es ist kein Nachteil. Kanada und Korea, Japan und Italien entwickeln sich nicht schlechter als Deutschland, die Menschen haben dort offenbar auch keine Angst vor dem Wechsel und halten ihn für normal. Das ist eine sehr gesunde Einstellung, auch wenn die ca. 60 italienischen Nachrkiegsregierungen vielleicht des Guten etwas  zu viel sind. Angelas Mutti-Status hingegen ergibt sich schon aus dem Wort: Man kann eine Mutti nicht abwählen, sie ist einfach da und es wäre geradezu eine Familienschande, ihre Macht infrage zu stellen.

Das haben in Deutschland natürlich viele Menschen getan, aber ihre Ära des Verharrens und des strategielosen Reagierens hat riesige Schäden hinterlassen – und dort, wo sie aktiv wurde, aktiv-passiv, so dass die Bevölkerung es wuppen musste, sind die Ergebnisse ebenfalls diskutabel. Die Medien gehen deshalb zu recht kritisch mit ihren Memoiren um, die in einer Hinsicht eine Enttäuschung zu sein scheinen: Merkel gibt wohl an keiner Stelle zu sich, geirrt zu haben. Alles war alternativlos in seiner Zeit und somit ist es bis heute unantastbar. Implizit meint sie damit auch: Hinterher schlau daherreden kann jeder.

Zum Glück haben wir die Konzeptlosigkeit ihrer Politik schon seit 2011 bemängelt, als der „erste“ Wahlberliner gegründet wurde, verstärkt dann ab 2018 in der Neuauflage, die mehr politisch ausgerichtet war. Deshalb erlauben wir uns auch weiterhin deutliche Kritik und können mit dieser Glorizierung, die ja schon während ihrer Amtszeit zu beobachten war, nichts anfangen.

Im Prinzip sind wir es, die recht behalten haben, nicht Angela Merkel, wenn man sich die heutigen Zustände in Deutschland anschaut. Es sei denn, sie hat das alles so gewollt, was ihr einige ja auch unterstellen. Dass wir es haben kommen sehen, hat uns natürlich nichts genützt, und man könnte immer noch sagen, es besser machen ist die höchste Form der Kritik. Aber wer hat dazu die Möglichkeit? Wir können es nur zivilgesellschaftlich besser machen wollen. Angela Merkel war für viele soziale Anliegen der Zivilgesellschaft ein Bremsklotz, weil sie den Lobbyismus in der CDU hat freidrehen lassen bzw. ihn wohl gar nicht so schlecht fand. Wir werden diese Dominanz von Minderheiteninteressen mit Friedrich Merz bald wieder erleben, vermutlich offener als je zuvor.

Wir finden auch immer neue Kritikpunkte bzw. geben sie aus  unserer Sammlung in Form von Artikeln weiter. Angela Merkel gilt als diejenige, die den Bimbes-Filz der Kohl-CDU beendet hat. Stimmt das? Schauen Sie sich die Verbindungen von CDU-Politikern zu Vertretern von Partikularinteressen mal etwas genauer an. Es muss keine Spendenaffäre sein, es gibt viel schlauere Möglichkeiten, eine Partei und ein Land zu verfilzen. Einer von Merkels Deals, auch wenn sie sich selbst wohl nie als Deal-Politikerin sondern als Pragmatikerin beschreiben würde, war: Ich lasse euch machen und ihr lasst mit die Macht. Und natürlich ist das ein Deal. Sogar eine Win-Win-Situation für sie und ihre Partei und die vielen Gschäftlmacher darin. Der Verlierer ist die Mehrheit und ist das Land. Das gleiche gilt für ihre internationalen Deals. Win-Win-Deals sind so gemeint, dass die Dealpartner gut dabei wegkommen, sie gehen aber meistens zulasten Dritter, die bei der Betrachtung gerne außen vor gelassen werden.

Deswegen hat Politik einen anderen, an Prinzipien, an der Demokratie, an der Besserstellung der Vielen, die keine starke Interessenvertretung vorschicken können orientierten Ansatz zu verfolgen, und das war bei Angela Merkel in der Regel nicht der Fall. Sie hat viel dazu beigetragen, dass die Demokratie in Deutschland so angeschlagen ist. Vielleicht ein  kleiner positiver Aufschlag, dass Minderheiten während ihrer zeit ein Stück weit in ihren Rechten vorankamen. Leider war der gesellschaftliche Boden dafür nicht bereitet, wie man jetzt sieht, außerdem ist formale Besserstellung keine Sicherheit in der täglichen Realität. Und damit sind wir wieder bei Angela Merkel, die nicht viel dafür getan hat, diesen Boden zu bereiten, dieses Prinzip nicht offen gelebt und kommuniziert hat. 

22.11.2024

Es scheint schon so lange her zu sein, dass Angela Merkel Bundeskanzlerin war. In den nächsten Tagen werden ihre Memoiren mit dem Titel „Freiheit“ erscheinen. Nun hat sie sich in einem Spiegel-Interview zum Wahlsieg von Donald Trump geäußert.

Wir fassen kurz zusammen und lassen auch eine kritische Analyse erstellen:

Angela Merkel äußert in einem Interview mit dem „Spiegel“ ihre Besorgnis über den erneuten Wahlsieg von Donald Trump und dessen Einfluss auf die US-Politik, insbesondere in Bezug auf den Milliardär Elon Musk. Sie kritisiert Trumps Politikstil, der ihrer Meinung nach auf Gewinner und Verlierer abzielt, was den Multilateralismus gefährdet. Merkel bedauert, dass nicht Kamala Harris, die demokratische Vizepräsidentin, die Wahl gewonnen hat, und wünscht sich eine andere politische Entwicklung.

Merkel warnt auch vor der Macht von Elon Musk, der 60 Prozent der Satelliten im Weltraum kontrolliert. Sie sieht in dieser Konzentration von Einfluss und Kapital eine ernsthafte Herausforderung für die Demokratie und den Ausgleich zwischen mächtigen Unternehmen und der Zivilgesellschaft. Während ihrer Kanzlerschaft habe die Politik als letzte Instanz fungiert, um diesen Ausgleich zu gewährleisten. Merkel betont, dass eine zu starke Beeinflussung durch Unternehmen die politische Entscheidungsfindung gefährden könnte.

In ihren Erinnerungen reflektiert sie über ihre Begegnungen mit Trump, beschreibt ihn als neugierig, jedoch strategisch darauf bedacht, Informationen zu seinem Vorteil zu nutzen. Sie warnt andere Regierungschefs davor, sich seinem wettbewerbsorientierten Stil anzupassen, da dies die politische Zusammenarbeit erschweren würde.

### Kritische Analyse

Merkels Aussagen spiegeln ihre Bedenken hinsichtlich der politischen Kultur wider, die durch persönliche Rivalität und Machtspiele geprägt ist. Ihre Kritik an Trumps Stil ist nachvollziehbar, da ein solcher Ansatz die Zusammenarbeit zwischen Staaten erschwert und das Vertrauen in multilaterale Institutionen untergräbt.

Jedoch könnte man auch hinterfragen, ob Merkel selbst während ihrer Amtszeit immer konsequent für einen inklusiven und kooperativen Ansatz eingetreten ist. Ihre Politik war oft pragmatisch und orientierte sich an den Gegebenheiten des politischen Spiels, was gelegentlich als opportunistisch wahrgenommen wurde. Zudem könnte man argumentieren, dass ihre eigene Partei und deren Entscheidungen in der Vergangenheit ebenfalls dazu beigetragen haben, ein Klima zu schaffen, in dem Machtspiele an Bedeutung gewinnen.

Insgesamt zeigt Merkels Reflexion eine klare Warnung vor den Gefahren eines von Konkurrenz geprägten politischen Klimas, während sie gleichzeitig die Notwendigkeit betont, dass Politik als Ausgleichsinstanz zwischen verschiedenen Interessen agieren muss.

Kommentar

Hier ist das Interview etwas ausführlicher zusammengefasst: US-Politik im Blog: Merkel äußert sich besorgt über Trump und Musk | WEB.DE.

In diese Zusammenfassung eingebettet ist eine Umfrage, nach der 54 Prozent der Abstimmenden Angela Merkel vermissen und nur 34 Prozent das nicht tun. Das war doch nach der Bundestagswahl 2021 ganz anders?

Bei dieser überbordenden Nostalgie wird ihr Lebensbericht sicherlich ein Bestseller. Die Medien werden darüber berichten, ob darin auch Selbstkritik enthalten ist. Wenn jemand das hinkriegen sollte, sich selbst distanziert zu betrachten, dann Angela Merkel. Wenn sie es nicht schafft, werden wir von anderen keine Memoiren mehr lesen müssen, es sei denn, als Beispiel für narzisstische Übersteiger. Von Trumps Stil unterschied sich ihrer wirklich sehr, das wurde während der gleichzeitigen Regierungszeit der beiden auch sehr hervorgehoben.

Gegenüber den USA hat sie in Sachen Energiepolitik einen eigenständigeren Ansatz verfolgt, als das heute möglich ist.

Putin hat Merkel eiskalt hängen lassen, nachträglich, wenn man so will. Merkel und alle anderen, die die Energieversorgung aus Russland organisiert oder promotet oder unterstützt haben. Wo sie doch so auf Ausgleich und eine etwas unscheinbare Art von Eigenständigkeitswahrung bedacht war. Putin hat es ihr auch nicht gedankt, dass sie die Aufnahme der Ukraine in die Nato 2008 mit verhindert hat.

Ein Misserfolg von vielen. Nicht alle haben sich erst nachträglich als Misserfolge herausgestellt. Ihr gesamter Stil, den sie durch die Blume für so gut hält, ist gescheitert.

Also ist Trumps Stil besser?

Der Stil muss sich an den Gegebenheiten der Zeit orientieren. Wenn man nur noch von populistischen Scharfmachern umgeben ist, muss man sich anders aufstellen, als Angela Merkel das getan hat. Diejenigen, die sie heute vermissen, sollen sich mal überlegen, wie sie auf all diese Rechtsextremen die richtigen Antworten finden sollte und sie auch richtig rüberbringt. Das Dezente oder auch Defensive von Angela Merkel nutzen diese Leute gnadenlos aus, und das war auch während der ersten Trump-Zeit so. Vielleicht ist im Hintergrund diplomatische Schadensbegrenzung gelaufen, aber nach außen wirkte es, als ob noch keine deutsche Regierung so sehr eine Appeasement-Politik betrieben hat wie die von Angela Merkel. Und zwar allen gegenüber, ob es Putin, Trump oder die EU-Mitgliedsstaaten waren, die versucht hatten, Deutschland quasi für die Finanzkrise verantwortlich zu machen, obwohl das nun wirklich Blödsinn ist.

Mehr für das Krisenmanagement.

Sie hat die deutsche Wirtschaft für die Erhaltung des Euro geopfert, langfristig betrachtet. Die Nullzinspolitik hat zwar  zu einer Art Scheinblüte in Deutschland geführt, aber die Innovationskraft sank gegen Null und so viele heutige Probleme sind von Merkel und ihrem Wirtschaftsminister des Grauens, Peter Altmaier, mitverursacht worden.

Wie hat sie dadurch den Euro erhalten?

Hätte die deutsche Regierung dieser für das Land falschen Geldpolitik der EZB nicht zugestimmt, wäre das einzige große Land, der EU das eine AAA-Bonität hat, aus der braven Schlange ausgeschert und hätte die Hoschschuldenstaaten für ihre üppige Fiskalpolitik selbst zahlen lassen wollen, was sie nicht hätten können, dann wäre der Euro geplatzt. Angela Merkels dezente Art hat dazu geführt, dass die anderen trotzdem immer noch mit den Finger auf Deutschland zeigen konnten. Das ist so billig und das haben andere Kanzler in diesem Maße nie zugelassen.

Und im Land selbst hat diese Politik kaschiert, dass die innere Stärke der Ökonomie immer mehr verlorengeht. Klar, die niedrigen Zinsen hielten den Euro in Schach, dadurch waren die Exporte relativ günstig. Sie sorgten auch für massig Kapital, das dann in konservative Branchen gesteckt wurde, in denen die Preise explodiert sind und die Ungleichheit wuchs immer weiter.  Aber in einer Welt, in der Trump schon ständig mit Zöllen droht, muss man doch endlich anfangen, eine strategische Wirtschaftspolitik zu betreiben. In seiner ersten, chaotischen Amtszeit hat er vieles gar nicht umgesetzt, was er angedroht hat. Wenn das jetzt anders wird, trifft er eine deutsche Wirtschaft, die dafür nicht gerüstet ist, die ohnehin massive Probleme hat, mit voller Breitseite.

Angela Merkel wird in ihren Memoiren ihre Politik sicher gut erklären können.

Sie hätte sich mal während ihrer aktiven Zeit besser erklären sollen. Die, die heute Sehnsucht nach ihr verspüren, haben wohl schon vergessen, dass Merkel die eigentliche Erfinderin des Scholzens war. Ich erinnere mich noch gut daran, wie sie im Grund glattweg die Aussage darüber verweigert hat, warum sie 2015-2016 eine komplett ungebremste Einwanderung zugelassen hat, die das erste Mal die AfD so richtig nach oben gespült hat. Ich hätte dazu gerne eine Erklärung gehört. Vielleicht steht sie im Buch, interessiert mich mittlerweile nicht mehr so, wie das damals der Fall gewesen wäre.

Kann man denn diesen Teil ihrer Politik auf die Sollseite ihrer Bilanz buchen?

Das Thema ist schwierig. Ich fand, was damals gelaufen ist, überzogen und es sah nach Kontrollverlust aus. Es muss alles zu managen sein, und das war es nicht und ist es bis heute nicht. Mir geht es aber darum, dass sie ein „wir“ verwendet, wo ein „ihr“ gemeint ist …

Wir schaffen das?

Ich wüsste nicht, dass Angela Merkel dazu persönlich etwas beigetragen hätte. Und das ist ein wichtiger Punkt. Angela Merkel hat über ihre gesamte Regierungszeit hinweg so vielen Menschen so viel Verantwortung aufgebürdet mit Entscheidungen, die Opfer verlangt haben. Sie hat sich im Grunde sogar außerhalb der Fehler gestellt, die dadurch passiert sind, weil vor Ort viele Strukturen gar nicht vorbereitet waren.

Das hat sie aber nie betont.

Genau. Sie hat so kommuniziert, dass die meisten dabei eingeschlafen sind und gar nicht gemerkt haben, welcher Sprengstoff für die Zukunft in ihren Handlungen steckt. Ich die Gefahren, die aus ihren Scheinlösungen hervorgehen, oft in Artikeln betont, aber dafür kann ich mir jetzt auch nichts kaufen. Da ging es vor allem um wirtschaftliche Entscheidungen und Nicht-Entscheidungen.

Jetzt braucht das Land also eine Nach-Merkel-nach-Ampel-Kur, die auf Abhärtung zielt?

Das Land braucht endlich wieder eine Berücksichtigung des Artikel 1 des Grundgesetzes, der die Politik dazu verpflichtet, die Menschenwürde der Bürger:innen zu wahren.

Deswegen muss ich mir auch an den Kopf fassen, wenn heute Neoliberale schreiben, die Leute sind noch nicht arm genug in Deutschland, da muss dringend mehr von unten nach oben umverteilt werden. Das hat Merkel per Saldo in den 16 Jahren ihrer Amtszeit schon getan. Deswegen war der Wechsel weg von der CDU als Regierungspartei auch grundsätzlich richtig und jetzt Merz zum Kanzler zu machen, ist trotz des Ampel-Aus keine gute Idee für die Mehrheit im Land. Obwohl Merkel und Merz einander nicht abkonnten, grundsätzlich arbeiten sie in dieselbe Richtung. Es hat schon einen Grund, das beide in derselben Partei sind.

Angela Merkels Rhetorik war aber eher verbindend als die fast aller anderen Poltiker:innen, auch damals schon.

„Wir schaffen das“ ist kein gesellschaftliches Narrativ, das  wirklich in die  Zukunft weist, sondern, wie immer bei Merkel, Krisenbewältigungsrhetorik. Ständig kriselt etwas, worauf pragmatisch, aber komplett unstrategisch reagiert werden soll. Und ihre einzige wirklich strategische Entscheidung, in Sachen Energiepolitik, hat sich als ein Nachteil erwiesen. In dem Fall kommt das Ergebnis auf die Sollseite, weil Merkel diese Gefahr hätte sehen müssen. Es sei denn, sie redet jetzt schlau über Trump, konnte ihn, Putin und andere Machtmenschen aber damals nicht richtig analysieren oder dies vielleicht doch, war aber nicht in der Lage, Konsequenzen aus dem zu ziehen, was sie über Trump wusste, als sie noch die Möglichkeit hatte, daraus ein Lastenheft für die Zukunft zu entwickeln. Und die Menschen sogar mitzunehmen, wenn es um notwendige Veränderungen geht.

Sie hat den Menschen eben die Freiheit gegeben, selbst zu denken und zu handeln, deswegen heißen ihre Memoiren „Freiheit“.

Das habe ich verstanden. Ich mag auch Ironie, aber es gibt nun einmal Rahmenbedingungen, unter denen wir alle leben, und die hat Merkel verschlechtert. Sie hat nie ein richtiges Konzept für Deutschland gehabt. Und jetzt wollen viele das zurückhaben, was sie damals kritisiert haben.

Weil es noch schlechter geworden ist.

Sich deswegen Angela Merkel zurückzuwünschen, ist die falsche Haltung. Die Bevölkerung hat es nicht geschafft, sich Politiker zu formen, denen man vertrauen kann, die wirklich Ideen für morgen und übermorgen haben. Das sagt viel über das Vertrauen aus, das sie Angela Merkel entgegengebracht hat. Es sagt vor allem aus, dass wir eine ganz schwache Antenne dafür haben, bei wem Vertrauen gerechtfertigt ist. Angela Merkel hatte es noch relativ leicht, von Trump abgesehen, sie hat auch Joe Bidens Wahl 2020 nicht so verstanden, dass man der deutschen Politik noch einmal Zeit auf die Uhr getan hat hat, die unbedingt genutzt werden muss. Vermutlich hat sie gedacht, Trump und dieser ganze Schlag sei jetzt erledigt. Eine krass Fehleinschätzung, wenn das stimmt.

Im Interview hat sie gesagt, sie sei enttäuscht, dass Kamala  Harris es nicht geschafft hat.

Ich bin auf jeden Fall entsetzt darüber, wie leicht Trump es geschafft hat, sie abzuhängen. Angela Merkel war doch oft genug in den USA, sie hätte eher als wir spüren dürfen, dass da etwas brodelt.

Die Politikerbubble ist nicht die Bevölkerung, Angela Merkel wird dort relativ wenig Gelegenheit gehabt haben, mit einfachen Menschen, die Trump wählen, zu sprechen oder gar mit ihnen zu leben.

Angela Merkel hat nicht einmal miit uns wirklich gelebt. Auch wenn ich ihr keine Böswilligkeit unterstelle, wie einige das tun, ihre vielgerühmte Analysefähigkeit, die angeblich aus ihrem Studium der Naturwissenschaften hervorgehen sollte, war selten so zu verspüren, dass man daraus ableiten konnte, sie führt das Land mit Hilfe dieser Fähigkeiten, wenn sie schon kein Narrativ dafür erarbeiten hilft.

Das ist in Medien aber oft betont worden.

Die Hofberichterstattung war in der Tat sehr ausgeprägt. Das Erbe der Politik von Angela Merkel lastet schwer auf diesem Land, weil sie es immer so aussehen lassen wollte, als könne man alles leicht schaffen, aber nicht Entscheidendes für die Zukunft auf den Weg gebracht wurde. Angela Merkel wäre übrigens unter den Umständen der letzten Jahre genauso unter die Räder gekommen wie die Ampel. Sie hat gerade noch rechtzeitig aufgehört, um solche Nostalgiegefühle auslösen zu können. Dazu passen die Memoiren wunderbar.

TH


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