Leichensache Zernik (DD 1972) #Filmfest 1252

Filmfest 1252 Cinema

Leichensache Zernik ist ein vom DEFA-Studio für Spielfilme produzierter Kriminalfilm aus dem Jahr 1972.

Das Sujet basiert auf realen Verbrechen und den Erinnerungen Berliner Polizisten. Im Frühjahr 1970 begann der Regisseur Gerhard Klein die Arbeiten am Film, jedoch erkrankte er schon am 10. Drehtag schwer und starb wenig später. Zwei Jahre später setzte sein Assistent und Schüler Helmut Nitzschke die Arbeiten fort. Wesentliche Hilfe leistete der alte Freund Kleins, der Szenarist und Regisseur Wolfgang Kohlhaase.

Die DEFA ist im Auge des West-Beobachters nicht unbedingt für ihre Krimis bekannt, wie wirkt also nun dieser Schwarzweiß-Genrefilm aus dem Jahr 1972?

1972 gab es sehr wohl schon die Reihe „Polizeiruf 110“, die allerdings nicht von der DEFA, sondern vom DFF, dem Deutschen Fernsehfunk, produziert wurde. Ja, die DEFA ist für uns mehr ein Hersteller von großen gesellschaftspolitischen, zuweilen auch sehr zeitdokumentarischen Unterhaltungskomödien und Tragikomödien gewesen.

Handlung (1)

Im Jahr 1948 wird Katharina Zernik in einem Wald bei Berlin erwürgt und mit Salzsäure übergossen. Kramm hat bei den Ermittlungen mit organisatorischen und machtpolitischen Wirrungen der Nachkriegszeit zu kämpfen, und in der Zwischenzeit gibt es weitere Opfer. Doch der Mörder hinterlässt Spuren, als er in Zerniks Wohnung eindringt, und kann letztlich von Kramm in einem Hotel gestellt werden.

Hintergrund

Leichensache Zernik wurde von der Künstlerischen Arbeitsgruppe „Berlin“ in Schwarzweiß gedreht und hatte am 30. März 1972 im Berliner Kino Kosmos Premiere. Die Erstausstrahlung im 1. Programm des Fernsehen der DDR erfolgte am 12. August 1973. Drehorte des Films waren zum großen Teil in der Umgebung der Straße der Pariser Kommune in Berlin.

Bei Beginn der in den Prager Filmstudios Barrandov stattgefundenen Dreharbeiten im Jahr 1970 war die Hauptrolle des Mörders Retzmann mit Wolfgang Kieling und des Kriminalanwärters Kramm mit Wolfgang Winkler besetzt. Als die Dreharbeiten 1972 wieder aufgenommen wurden, hatte Kieling die DDR bereits verlassen und die Rolle wurde umbesetzt. Die Rolle des Kramm übernahm schließlich der Schauspieler Alexander Lang.

Leichensache Zernik lehnt sich zum Teil an den Fall des Serienmörders Willi Kimmritz an, der die Bevölkerung Berlins und Brandenburgs in den Jahren 1946–1948 mit seinen Verbrechen in Atem hielt.

Rezension

 „Leichensache Zernik“ orientiert sich interessanterweise, das fällt sofort auf, nicht am Stil der neuen Polizeiruf-Reihe und schon gar nicht an dem ebenfalls deutlich moderneren der westdeutschen Tatorte, und das liegt nicht in erster Linie daran, dass diese von Beginn an in Farbe kamen. Eher sehe ich eine Linie zum westdeutschen Vorgänger-Format „Stahlnetz“, das ab den späten 1950ern bis etwa 1969 ein Straßenfeger in der BRD war. Die deutlich exaltiertere und schärfere Spiel- und Sprechweise in „Leichensache Zernik“ gegenüber den West-Fernsehkrimis der frühen 1970er, die ihrerseits deutlich vom Neuen Deutschen Film und gleichermaßen von US-Formaten beeinflusst sind lässt es so wirken, als sei „Leichensache Zernik“ älter, und ich hatte das Produktionsjahr in der Tat auf 1966-1968 geschätzt. Da es sich nicht um einen Gegenwartsfilm handelt, sondern seine Handlung auf 1948 festgesetzt ist, kann man sich nur an der künstlerischen Gestaltung, nicht am Setting oder an Konsumgegenständen oder der Mode orientieren, die gezeigt wird.

Also wirkt der Film altmodisch? Ja, keine Frage, auch für die Verhältnisse von 1972. Ein weiterer Aspekt, der das unterstützt, ist aber auch die Tendenz. Ich habe mich nicht damit befassen können, ob die Zusammenarbeit mit den Westsektoren aufgrund des Einflusses der Amerikaner wirklich so schlecht war, wie sie im Film gezeigt wird, aber die propagandistische Tendenz ist mir für einen Krimi zu stark ausgeprägt. Und man beachte gewisse Details der Darstellung: Im Nordosten der Stadt ist zwar das Büro-Outfit auch nicht mondän, aber im Westen sitzt der Leitende Kommissar einer Dienststelle, ausgerechnet in Zehlendorf, unter einem Sonnenschirm, den er als Regenabweiser benutzt, weil das Dach undicht ist. Herzlich gelacht, wenn ich mal so sagen darf, andererseits: Wie schafft ein DDR-Film aus 1972 es, so viele für 1948 authentisch wirkende, verfallene oder in schlechtem Zustand befindliche Häuser ins Bild zu bringen, die mit echt aussehenden Schuttbergen garniert wurden? Sicher nicht im Westteil der Stadt, dort wurde kein einziger Filmmeter gedreht, der nicht aus Archivmaterial der frühen Nachkriegszeit stammt (wie etwa Ansichten von der Gedächtniskirche, noch ohne den modernen Turm neben dem alten, der als Mahnmal dient).

Man muss nicht rechts drehen, um diese Konzentration auf die Zustände, welche die Ermittlungsarbeit in den Hintergrund treten lässt, etwas zu plakativ und einseitig zu finden. Dummerweise kommen auch noch der Verbrecher und die Opfer aus dem Westen, und das hat den Hautgout, dass das Verbrechen an sich dort mehr zuhause ist. Der Mörder im Film hat keine Biografie, aber der echte Willi Krimmitz stammt aus dem Osten, wurde in Wriezen nahe Frankfurt an der Oder geboren, und wurde von den Sowjets nach einer bereits gestarteten Verbrecherkarriere freigelassen und in den Westen geschickt, wo er in der Tat seine Mordserie startete und Frauen in die Brandenburger Wälder nördlich von Berlin lockte, um sie zu töten.

Manipulation gehört doch zu jedem anständigen systemtreuen Film? Ich bin durchaus damit befasst, dass es in der DDR ganz andere Ansätze gab, nicht systemfeindlich, nicht einmal im Ganzen systemkritisch, aber auf Augenhöhe mit dem Weltkino der Zeit und nachdenklich gegenüber Fehlern in der Ausführung des Realsozialismus. Das elfte ZK-Plenum der SED Ende 1965, berüchtigt geworden als „Kahlschlag“ auf kulturpolitischem Sektor, hat massiv den Kunstbetrieb in der DDR beeinträchtigt und auch den gesellschaftspolitischen Diskurs beschädigt. So schade, und warum gerade zu einem Zeitpunkt, wo man es sich doch im Schutz des antifaschistischen Schutzwalls gerade so gemütlich gemacht hatte, wo man doch (beinahe) ungestört durch westliche Infiltration also hätte vorankommen können?

Auch wenn der Film wirkt, als sei er in ebenjener Phase entstanden, als der Schwenk weg von NÖSPEL und einer offeneren gesellschaftlichen Auseinandersetzung gerade vollzogen wurde, steht er in Wirklichkeit schon eher für die Verkrustung, die sich in der Honecker-Ära endgültig über das DDR-System gelegt hatte. Er ist auch keineswegs dieser etwas eskapistischen Linie zuzurechnen, die in den 1970ern noch einmal schöne Filme hervorgebracht hat („Paul und Paula“ aus 1973, „Solo Sunny“ (1979)). Er hat ja auch keinen poetischen Einschlag.

Progress-Film schreibt: „Ein künstlerisch überdurchschnittlicher Kriminalfilm mit überzeugender, teilweise dokumentarischer Darstellung des Zeitmilieus.“

Wenn die Wikipedia die Beschreibung des zuständigen Verleihs unter „Kritik“ einordnet, ist das ihre Sache, aber auch der katholische Film-Dienst hat den Film in der Tat positiv bewertet. Dieser war jedoch in den 1970ern schon nicht mehr so konservativ wie kurz nach dem Krieg und nicht mehr so hochmoralisch ausgerichtet.

Aber wenn ich das Veraltete nicht werte, sondern sage, das traditionelle Filme im Gegenteil davon profitieren, dass sie die Figuren dezidierter auftreten lassen, die in ihnen handeln, als das im Zeichen des zurückgenommenen Stils der frühen 1970er üblich war, dann ist es sogar, aus heutiger Sicht wieder ein Vorteil, und vor allem ermöglicht es, mit dem jungen Polizisten Kramm einen wunderbaren Sympathieträger zu installieren, der im Verlauf der Ermittlungen zu einer echten, hartnäckigen, kombinationssicheren Spürnase wird. Es macht in der Tat Spaß, diesen jungen Mann zu verfolgen, und realistisch ist es wohl, dass man nach dem Krieg, wo allerorten Personalmangel herrschte, wo erfahrene Kräfte gefallen oder politisch diskreditiert waren, schnell aufsteigen konnte. Auch im Staatsdienst. Und gewiss ist es nicht aus den Fingern gesogen, dass Menschen aus allen Berufsrichtungen wegen ihrer eigenen Sicherheit zum Staat wechselten, hier schön angedeutet durch die höheren Lebensmittel-Rationen für Staatsdiener. Interessanterweise kommen wir heute immer mehr wieder zu diesen ungerechten Zuständen.

Auch wenn das einen besonderen Geschmack hat, das Zeitkolorit ist sehr gut, die Atmosphäre der Nachkriegszeit erfahrbar gemacht, nur vereinzelt hat man vergessen, etwa Kleidungsstücke wie von 1948 aussehen zu lassen oder geraten, etwa auf dem Schrottplatz, Objekte ins Bild, die hier schon aussortiert sind, 1948 aber noch gar nicht produziert waren.

Wie ist das Spiel? Die Schauspielleistungen sind gut, aber nicht überragend, die allerersten Kräfte der DDR, die 1972 zur Verfügung standen, haben hier eher nicht mitgespielt, dadurch wirkt manches etwas hölzern, aber der Ton der Zeit ist eben doch gut getroffen, wenn man ihn insofern als authentisch ansieht, als er dem Film-Ton der Zeit, in welcher der Film spielt, entsprechen sollte.

Viele der Mitwirkenden sind uns mittlerweile durch die Arbeit mit den Polizeirufen besser bekannt, wo sie häufig Episodenrollen spielten, in einem Fall (Kurt Böwe) sogar nach der Wende einen Polizeiruf-Ermittler.

Finale

Für mich war der Film eine Überraschung, auch, weil man einen Krimi so propagandistisch angelegt hat, wiewohl ich weiß, dass auch die „Polizeiruf“-Reihe in jenen Jahren eher system-affin war, während sich der West-Tatort um kritischere Töne bemüht hat.

Wir haben oben aus „sehr systemaffin“ nun „eher systemaffin“ gemacht, nachdem wir 2019 in die Polizeiruf-Reihe eingestiegen sind und alle erhältlichen Filme der Reihe aus der DDR-Zeit rezensiert haben. Kritik gab es sehr wohl, aber natürlich eher  unterschwellig, unter anderem durch die häufige Auswahl von Materialklau als tragendes Delikt eines Polizeirufs.

Interessant finde ich alle DEFA-Filme aus historisch-analytischer Sicht, bei ihnen einzuschlafen, gelingt mir auch dann nicht, wenn sie schwierig und zäh sind. Beides ist „Leichensache Zernik“ keineswegs, aber er hat mich auch herausgefordert. Dass er für seine Zeit recht drastische Bilder von Mordangriffen und Leichen enthält, wirkt hingegen heute nicht mehr so schockierend, weil wir schon ziemlich abgehärtet sind. Das Dokumentarische, das man wohl auch in diesen Bildern verortet hat, wirkt heute vertraut, auch wenn es, beispielsweise durch die Perspektive der Kamera, die zeitweilig auf Bodenhöhe direkt auf Insekten verhält, die begonnen haben, sich der Überreste von Frau Zernik anzunehmen, durchaus noch einen Schauer verursachen kann.

Zusätzliche Anmerkungen anlässlich der Veröffentlichung des Beitrags im Jahr 2025 sind in der hier zu sehenden Weise markiert.

65/100

Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2017)

(1), kursiv, tabellarisch: Wikipedia

Regie Helmut Nitzschke
Drehbuch Gerhard Klein
Musik Hans-Dieter Hosalla
Kamera Claus Neumann
Schnitt Evelyn Carow
Besetzung

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


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