Filmfest 1256 Cinema
Unterwelt ist ein US-amerikanisches Filmdrama aus dem Jahr 1927. Das Drehbuch des Stummfilms basiert auf einer Erzählung von Ben Hecht.
Ich habe mal wieder einen erwischt. Einen dieser filmischen Meilensteine, die Genres geprägt haben, wie man das für „Underworld“ annimmt, den Gangsterfilm der 1930er betreffend. „Underworld“ hat für damalige Verhältnisse ein beachtliches Tempo, wirkt aber nur in der rauchhaltigen Schlussequenz auch hektisch – vielmehr gibt es sogar intensive Momente, in denen man schon ahnen kann, dass Sternberg der ideale Regisseur sein wird, um Marlene Dietrich in Nahaufnahmen herauszustellen, wobei die Kamera eine Weile bei ihr verweilen muss, damit eine betörende Wirkung eintritt. Die spezielle, ihr Aussehen überhöhende Lichtsetzung, die von Sternberg bei ihr angewendet hat, die gibt es aber in „Underworld“ noch nicht und der Film wäre noch schneller gewesen, wäre er zwei, drei Jahre später entstanden. Dann hätte man sich nämlich auch die Zwischentitel sparen können. Erstaunlich, dass man nie auf die Idee gekommen ist, im Stummfilm schon Untertitel zu verwenden – oder auch nicht, denn sie lenken nun einmal vom Bild ab.
Handlung (1)
Bull Weed ist ein stadtbekannter Krimineller und König der Unterwelt. Auf der Flucht nach einem Banküberfall begegnet er dem Alkoholiker und Ex-Anwalt Rolls Royce, dem er einen Job verschafft und ihn von der Straße holt. Als es zu einer Auseinandersetzung mit dem aufbrausenden Gangster Buck Mulligan kommt, stellt sich Bull Weed schützend vor seinen Zögling. Nach und nach wird Rolls Royce in die kriminellen Machenschaften eingeweiht und entwickelt sich zu Bull Weeds rechter Hand. Mit List und Tücke versuchen die beiden, Buck Mulligan einen Überfall auf einen Juwelier in die Schuhe zu schieben. Rolls Royce verwahrt die Schlüssel und bewacht das mit einem Geheimgang ausgestattete Versteck des Gangsters, wo er manchmal auch Bull Weeds Freundin Feathers Gesellschaft leisten muss. Die beiden verlieben sich.
Bei einem großen Ball der Unterweltgrößen tanzt Rolls Royce ungefragt mit Feathers und erzürnt seinen Mentor. Später versucht Buck Mulligan Feathers zu vergewaltigen. Bull Weed rettet seine Verlobte und verfolgt und tötet Mulligan. Er wird verhaftet und für den Mord zum Tode verurteilt. Obwohl nach Bull Weeds Tod der Weg für eine gemeinsame Zukunft für Feathers und Rolls Royce frei wäre, beschließen die beiden, loyal zu bleiben und planen eine Befreiungsaktion. Dieser Plan schlägt allerdings fehl und Bull Weed glaubt, von seinen beiden engsten Vertrauten verraten worden zu sein. Er kann sich selbst befreien, eilt zum Versteck und möchte sich an den beiden rächen. Die ahnungslose Feathers führt die Polizisten zum Versteck, wo es zu einer heftigen Schießerei kommt. Die verschanzten Bull Weed und Feathers können jedoch nicht fliehen, da nur Rolls Royce im Besitz der Schlüssel zum Geheimgang ist. Als Rolls Royce erscheint, wird er vom tobenden Bull Weed angeschossen, schafft es aber, unbemerkt von der Polizei in das Versteck zu gelangen. Bull Weed erkennt, dass ihn die beiden nicht verraten wollten und beschließt, sich zu ergeben. Zuvor ermöglicht er Rolls Royce und Feathers die Flucht durch den Geheimgang.
Rezension
Anlässlich der Veröffentlichung der Rezension darf ich beifügen, dass das Filmfest mittlerweile von Meilensteinen wimmelt, weil wir die Filmgeschichte etwas systematischer aufarbeiten, unter anderem mit der dritten US-Chronologie (Ein Jahr, ein Film, von Beginn an), aber uns auch schon durch viele Stummfilmklassiker des Weimarer Kinos durchgearbeitet haben. Man stolpert also allenthalben über Meilensteine, wenn man nicht aufpasst. Gleichwolhl ist „Underworld“ ein wichtiger Film.
Wenn man „Underworld“ heute anschaut, ist er ein herrliches prototypisches Stück darüber, wie zwei Männer Freunde werden und eine Frau alles durcheinanderbringt. Für mich ist das zentraler als das Milieu, in dem der Film spielt. Man kann derlei überall und in jedem Genre inszenieren und der Film noir hat es dann in den 1940ern auf die Spitze getrieben, blieb auf der dunklen Seite der Welt, trieb aber die Idee voran, dass es Menschen gibt, deren Schicksal sich nie positiv wenden kann – davon ist in „Underworld“ ebenfalls noch nichts zu sehen. Der Beginn fußt auf der Logik, dass Bull seinen späteren Nebenbuhler Rolls Royce aufliest, weil dieser ihn beim Bruch in der Bank bzw. beim Herauslaufen beobachtet und dann kommen die beiden sich näher und der joviale Straßenköter Bull bringt den versoffenen Anwalt Rolls zurück in einen Anzug und einen rasierten Zustand und schon verliebt sich Bulls Freundin in diese Wiederauferstehung eines Mittelständlers.
Die Action ist kurz, etwas simpel gestrickt, die Unterwelt wird bei weitem nicht so elegant dargestellt wie in Filmen, die wenige Jahre später herauskamen. Das Finale ist vermutlich eines der bis dahin bleihaltigsten und hat die Kinogänger deswegen wohl stark beeindruckt, aber nach heutigen Maßstäben ist es nicht sehr präzise inszeniert. Und George Bancroft überspielt als Bull so hemmungslos, dass sein baldiger Gegner-Freund sagt, er sei zweitausend Jahre zu spät geboren. Aus dem, was er tut, Banken überfallen, die Herrschaft über die Stadt herzuleiten, ist ein wenig gewagt, denn es gibt keine große Bande zu sehen, schon gar keine verzweigte Organisation und auch keinen Arm in die Politik. Wohl aber merkt man, wie Polizei und Verbrechen kollaborieren und das war damals noch eine seltene Darstellung. Als der Hays Code 1934 in Kraft trat, wurde sie für Jahrzehnte quasi unmöglich, denn Verbrechen durfte nicht mehr erfolgreich dargestellt werden und die Gegner des Verbrechens konnten daher nicht mit diesem liiert sein, sonst wären die Filme moralisch gesehen in einem Zirkel der Korruption gefangen gewesen, der dem Zensurbüro gar nicht gefallen hätte.
Damit Krimis nicht zu simpel und gleichförmig wurden, hat man einige Jahre später die vielschichtigen Antihelden des Film noir entwickelt, um den Mangel an Realismus auszugleichen. Ich finde die Einleitung des Film noir mit dem statischen Datum 1940 und „Der Malteser Falke“ ohnehin fragwürdig, zumal dieser inhaltlich kein echter Noir ist, in dem die Hauptfigur untergeht. Wohl ist in „Underworld“ aber Bull Weed eine Noir-Figur, sein Schicksal betreffend, weniger bezüglich der sozialen Stellung, dazu ist er zu sehr mittendrin und ein Anführer in einem archaischen System ohne Gesetz. Aber es gibt ja noch Rolls Royce und der und Bulls Mädchen „Feathers“, die ein Happy End erleben dürfen. Jetzt wissen wir übrigens, dass Ginger Rogers‘ Spitzname, bedingt durch ein federreiches und für ihren Partner Fred Astaire schwer zu handelndes Kostüm aus „Top Hat“ (1935) auch eine filmgeschichtliche Genese hat und bereits eine Referenz darstellt. Wir erfahren übrigens nie den wirklichen Namen von „Feathers“ aus „Underworld“, so, wie Rolls Royce immer nur mit diesem Nick geführt wird.
„Underworld“ ist mit diesem sehr interessanten Ende moderner als manch späterer Genrefilm, aber eben nur, weil man in die Stoffe und die Darstellung von Geschehnissen und Charakteren stärker eingriff. Ohne diese Eingriffe hätte sich der harte, zynische Polizei-Actionfilm heutiger Prägung sicher viel früher entwickelt und in „Underworld“ hat er schon einen Prototyp. Mehr als der Film noir, der wichtige zusätzliche Elemente braucht, um als Kernstück des Genres zu gelten. Zumindest nach unserer Definition, mittlerweile ist die Zuordnung zu diesem Subgenre sehr expansiv geworden.
Außerdem wird das hin und her gerissen sein zwischen Liebe und Loyalität recht differenziert ausgespielt, was bei einem Film von nur wenig mehr als 80 Minuten Länge zwangsläufig zulasten der Gangster-Szenen geht.
Finale
Bei aller Wirkung auf spätere Werke, die man ihm zurechnet und die sich schon ein Jahr später in „Docks of New York“, dem direkten Nachfolger, zeigten, ist er kein Kunstfilm, sondern schwankt ein wenig zwischen Buffo und Melodram und seinem Hauptgenre. Er ist nämlich auch nicht ohne Witz und es gibt einige Szenen in ihm, die später gerne zitiert wurden. Die Spucknapfszene in „Rio Bravo“ (1959), die Art, wie Bulls Konkurrent Buck Mulligan, in seiner bürgerlichen Zweitexistenz Blumenladenbesitzer, was eine schöne Ironie darstellt, ein ebenso schönes Funeral-Arrangement für Bull fertigt und dann an der Stelle vom anderen selbst erschossen wird, ist ein Standard geworden, vielfach abgewandelt und angereichert.
Dass aber der Gangster Bull als lebensfroher und durchaus sehr symathischer und etwas einfach gestrickter Typ daherkommt, der viel Identifikationspotenzial bietet, das hat es ab Mitte der 1930er für viele Jahre nicht mehr gegeben – aus den oben erwähnten Gründen. Wer Gangster sympathisch machen wollte, musste ihnen zum Beispiel eine Biografie zuweisen, die klar macht, dass sie durch widrige Umstände in die Unterwelt geraten sind wie Eddie, gespielt von Charles Cagney, in „The Roaring Twenties“ (1939). Eine solche Hinterlegung findet man in „Underworld“ noch nicht, die nur skizzenhaft ausgeführte Vergangenheit von Rolls Royce ist bereits eine Ausnahme – er war ein Anwalt, der nach unten rutschte, weil er zu viel trank, fertig. Dass dahinter unzählige Ideen und darin viele Implikationen stecken, die sein Handeln bestimmen, kann man als heutiger Rezipient bis ins Unendliche weiterdenken, doch ansonsten agieren die Figuren im Hier und Jetzt und haben kein Gestern vorzuweisen. Damit sind sie allerdings auch hervorragende Projektionsflächen. Nichts wird entschuldigt, nichts beschönigt oder dramatisiert. Dieser schlichte Stil ist vielleicht einer der größten Boni des Films.
71/100
2025 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2018)
| Regie | Josef von Sternberg |
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| Drehbuch | Charles Furthman Howard Hawks Robert N. Lee Josef von Sternberg |
| Produktion | Hector Turnbull |
| Musik | Robert Israel |
| Kamera | Bert Glennon |
| Schnitt | E. Lloyd Sheldon |
| Besetzung | |
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