Briefing PPP Politik Personen Parteien, Berlin
Nach der Wahl ist – nach der Wahl. In den letzten Jahren gab es viele Wahlen. In Berlin besonders viele, weil eine Wahl schiefging und das noch einmal wählen uns unfassbarerweise eine Rückschrittskoalition aus CDU und SPD eingebracht hat. Die Bundestagswahl hat in Berlin mehrere, auch schöne Stories – und eine besonders negative: diejenige vom Niedergang der SPD, parallel zum Aufstieg der AfD.
Die SPD ist in Berlin gerade mal auf Platz fünf eingelaufen. Die Partei, für die Willy Brandt hiereinst absolute Mehrheiten holte.
Hier zu unserer Wahlberichterstattung von gestern.
61,9 Prozent. Das ist der Stimmenanteil, den Billy Brandt 1963 in Berlin für die SPD erzielt hatte. Seitdem hat sich die SPD in einem langsamen Niedergang beinahe geviertelt. Natürlich sind die Verhältnisse heute anders. Aber hätten wir noch Politiker wie Willy Brandt, dann wären sie nicht, wie sie sind, das ist unsere feste Überzeugung. Eine AfD, die auch in Berlin vor der SPD angekommen ist und eine CDU, die hier mit lächerlichen 27 Prozent Zustimmung bei den letzten Abgeordnetenhauswahlen, die als großes Ergebnis gefeiert würden, den Regierenden Bürgermeister stellen, das hätte es mit Willy Brandt nicht gegeben. Vorletzte Woche waren wir im Willy-Brandt Haus, haben ein Foto von seiner Statue gemacht, daran gedacht, was er zu dieser Wahl wohl sagen würde, deren Ergebnis auf Bundesebene schon abzusehen war.
Vielleicht hätte er zum Berliner Ergebnis aber auch gesagt: Das rote Berlin ist zurück! Denn tatsächlich hat die Linke nicht nur im Bund, sondern auch in Berlin ein spektakuläres Comeback gefeiert und die meisten Wahlkreise von allen Parteien erobert. Und damit steigen wir in die Ergebnisse ein:
Bei der Bundestagswahl hat die Linke in Berlin einen Überraschungserfolg errungen. Die Partei bekommt fast 20 Prozent der Zweit- und 22 Prozent der Erststimmen und gewinnt vier der zwölf Wahlkreise.
Bei der Bundestagswahl 2025 hat in Berlin überraschend die Linkspartei gewonnen. Nach Auszählung aller Wahllokale liegt die Linke mit 19,9 Prozent der Zweitstimmen vorn. Sie ist damit fast doppelt so stark wie bei der Wahl 2021 inklusive der Teilwiederholung 2024. Es ist ein Rekordergebnis in Berlin für die Partei.
Auch bei den Erststimmen führt die Linke mit 21,8 Prozent. Nach der Auszählung aller Wahllokale hat Spitzenkandidat Gregor Gysi im Wahlkreis 83 Treptow-Köpenick, die Bundesvorsitzende Ines Schwerdtner im Wahlkreis 85 Lichtenberg, Ferat Koçak im Wahlkreis 81 Neukölln und Pascal Meiser im Wahlkreis 82 Friedrichshain-Kreuzberg – Prenzlauer Berg Ost gewonnen.
Gysi geht nach den ersten vorläufigen Ergebnissen zur Bundestagswahl davon aus, dass er künftig der dienstälteste Bundestagsabgeordnete sein wird. Er werde nun „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tatsächlich der Alterspräsident des neuen Bundestags“ sein, sagte Gysi vor jubelnden Anhängern auf der Wahlparty der Linken in Berlin. (RBB, mit verschidenen Artikeln und allen Ergebnissen im Detail)
- Die CDU hat 3 Wahlkreise gewonnen: Zehlendorf, Wilmersdorf-Charlottenburg, Reinickendorf.
- Die Grünen haben 3 Wahlkreise gewonnen: Tempelhof-Schöneberg (unser Wohnbezirk), Mitte, Pankow. In zweien dieser Wahlkreise
- Die SPD hat bloß noch einen Bezirk halten können: Spandau
- Ausgerechnet in Marzzahn-Hellersdorf, wo soziale Politik vonnöten ist, keine rechte Politik, hat die AfD gewonnen.
Trotzdem kann man sagen, dass Berlin stabil geblieben ist. Sehr stabil. Auch im Osten, obwohl die AfD dort mehr Stimmenanteile geholt hat als in den Westberliner Bezirken. Die Wahlberzirke sind nicht ganz identisch mit den Verwaltungsbezirken: Ein Stück von Charlottenburg-Nord gehört wahltechnisch zu Spandau, Prenzlauer Berg-Ost zu Friedrichshain-Kreuzberg, verwaltungstechnisch jedoch zu Pankow.
Es gibt unter diesen Ergebnissen welche, die erwartbar waren und jene anderen. Die wohl größte Sensation ist, dass Pascal Meiser von der Linken das grüne Friedrichshain-Kreuzberg für die Linke erobert hat. Er wurde in Presseartikeln teilweise auf einem Wahlplakat mit der Mietendeckel-Forderung abgelichtet. Daher kennen wir ihn auch, aus unserer Zeit des Schreibens für die Mietenbewegung. Unter den Linken hat er auf jeden Fall zu den an unseren Belangen interessierteren Politikern gehört, es gibt noch mehr „Realos“, die uns damals unterstützt haben, jedoch kaum jemanden aus dem späteren Wagenknecht-BSW-Flügel, der sich dabei hervorgetan hat. Führend, das muss man allerdings festhalten, waren neben der damaligen Stadtbausenatorin Katrin Lompscher (Die Linke) einige Grünen-Politiker:innen aus Neukölln und Friedrichshain-Kreuzberg.
Dieses Politikfeld ist in Berlin nach wie vor eminent wichtig und im Grunde wichtiger denn je, denn die SPD hat zusammen mit der CDU nun endgültig jeden Versuch, einen Fortschritt zu erreichen, beerdigt. Und damit zur SPD. Wenn man jemanden in Berlin als Regierende Bürgermeisterin quasi installiert, der auf Bundesebene schon wegen eines „Akademischen Betrugs“ gescheitert ist, diese Person dann nach zwei Wahlniederlagen zu den Rechten wechselt und mit der CDU eine Koalition eingeht, obwohl eine andere Lösung möglich gewesen wäre. Aber sie gehört zum rechten Flügel der Partei in Berlin und hat sich mit progressiven Menschen in ihrer Regierungszeit (2021-2023) immer unwohl gefühlt. Danach stieg sie unter Führung des Regierenden Bürgermeisters Kai Wegner (CDU) auf die nächste Stufe, die der Senatorin hinab und machte damit deutlich, dass sie nur daran denkt, den eigenen Zipfel zu retten. So etwas Würdeloses haben wir in der Politik selten gesehen, aber es passt dazu, wie die SPD Berlin betrachtet. Als Resterampe. Wir wissen nicht, wie oft Billy Brandt sich in den letzten Jahren im Grab umgedreht hat, angesichts der Berliner Zustände und besonders desjenigen seiner Partei, der er alles gegeben hat, was jemand geben kann.
Gegenwind aus dem Bund mit dem unbeliebten Kanzler Scholz vorneweg gab es auch noch, und so kommt es, dass die SPD in Berlin, ganz frei geschrieben, im Arsch ist. Und da gehört sie auch hin. Sie hat uns nichts gegeben, diese Partei. Sondern immer nur Schwierigkeiten gemacht, bis hin zur Sabotage der Zivilgesellschaft. Bei den Rechten erwarten wir nichts anderes, von Sozialdemokraten schon.
Wir hatten in unserem ersten Tagesbericht von gestern geschrieben, dass wir einen Fehler gemacht haben, nämlich unsere Stimmen nicht gesplittet. Und dann hat es der junge, noch recht unbekannte Kandidat Moritz Heuberger von den Grünen doch geschafft, Immobilisten-Freund Luczak abzuhängen, der für die Menschen aus der Mietenbewegung eine echte Reizfigur geworden ist. Wir hatten erwartet, dass er unseren Wahlkreis nach dem plötzlichen Rückzug von Ex-SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert zurückholt, an den er ihn 2021 verloren hatte. Er hat es nicht geschafft, auch wenn es ganz knapp war. Luczak steht auf Platz eins der CDU-Landesliste, denn die CDU braucht neben dem künftigen Kanzler weitere Kapitalvertreter. Politiker, die dem sozialen Gefüge der Stadt Schaden zufügen, wo sie nur können, um die Gentrifizierung anzutreiben. Wir werden ihn also wieder im nächsten Bundestag sehen. Aber in der mindestens vierten Legislaturperiode einen Anfänger zu verlieren, obwohl die CDU ja insgesamt besser abgeschnitten hat als 2021, das ist ein Zeichen. Es ist ein Zeichen von: wir haben nicht vergessen! Wir haben nicht vergessen, wer im Kampf gegen den Mietenwahnsinn welche Rolle gespielt hat. Wir hätten dem CDU-Kandidaten, der wirklich überall präsent war, ein paar Tipps geben können. Dass Präsenz allein noch nicht sympathisch macht, aber über Typen und ihr Gepräge sprechen wir hier nicht, sondern heben uns das auf für die Analyse der Wahlsendungen vom gestrigen Abend. Was uns beim weiteren Naschauen auch aufgefallen ist: Im Bezirk liegt die CDU mit einem Prozent vor den Grünen, aber der Vertreter der Union ist mittlerweile so unbeliebt, dass er das nicht in einen persönlichen Vorsprung ummünzen konnte.
Zwei Wahlkreise wurden „kontra“ gewonnen. In Spandau-Charlottenburg-Nord setzte sich der einzige SPD-Wahlkreissieger durch, obwohl die CDU bei den Zweitstimmen vorne lag, was bei der SPD in keinem einzigen Berliner Bezirk mehr der Fall ist. In Mitte hat eine Kandidatin der Grünen gewonnen, obwohl dort die Linke den deutlich höheren Zeitstimmenanteil erzielt hatte.
Im Moment hätten wir beinahe Lust, wieder in eine Partei einzutreten und zu helfen, dass es bei der nächsten Abgeordnetenhauswahl zu einer links-grünen oder grün-linken Stadtregierung kommt. Einige Überreste der einstigen Politik von Rot-Rot-Grün und Rot-Grün-Rot gibt es noch, aber die werden wohl auch den nächsten absolut unbedingt notwendigen Kaputtsparrunden des rechten Senats zum Opfer fallen. Ja, in Berlin steht die SPD rechts von der berühmten oder eher berüchtigten Mitte, die von klugen Kommentatoren als die eigentliche Ansammlung von Extremisten bezeichnet wird, weil die Politiker, die sich selbst in ihr verorten, die Menschen komplett ans Kapital verhökern und das ewige Verfassungsprinzip des Sozialstaats vernichten wollen, mithin verfassungsfeindlich reden und, wenn sie die Macht dazu haben, auch handeln.
Wir haben gestern wieder gesehen, wer alles die Mitte reklamiert und auch, welche Journalisten so tun, als sei die heutige Linke eine extreme Randpartei. So lächerlich. Nicht gepeilt, wie weit rechts die Union mittlerweile steht und wohin die SPD tendiert. Und genau das ist in Berlin schon seit Jahren sichtbar, nicht erst, seit Merz die CDU nach rechts rückt. Die SPD muss man in dieser Stadt mittlerweile den rechten Parteien zuordnen, dank jener, die schon lange vor dem Drift der CDU vorgemacht haben, wie man aus der Mitte weggeht.
Wir sind auch ein wenig stolz darauf, wie Berlin gestern gewählt hat, von dem AfD-Drall abgesehen, den es auch bei uns gibt, aber eben nicht mit 30, 40 Prozent. Leider gab es im Osten durchaus Ergebnisse in dieser Größenordnung, besonders das im erwähnten Marzahn-Hellersdorf. Und in Treptow-Köpenick lagen Linke und AfD mit jeweils knapp 22 quasi gleichauf. Ein Zehntel mehr für die AfD und weniger für die Linke und der Bezirk wäre auf der Karte blau gefärbt. In diesem Bezirk trat der wohl immer noch bekannteste Linke-Politiker Gregor Gysi an und holte doppelt so viele Stimmen wie seine Partei bei den Zweitstimmen. Auch das ist eben wichtig: Starke Persönlichkeiten, die über die Beliebtheit ihrer Partei hinauswachsen können. Wir haben das von Gysi aber erwartet.
Nicht so im erwähnten Fall Friedrichshain-Kreuzberg, wo Meiser drei Prozent über dem Zweitstimmenergebnis seiner Partei liegt und diese die Grünen bei den Zeitstimmen um beinahe utopisch klingende sechs Prozent abgehängt hat. Dieser Bezirk war einst eine sichere Bank für Grünen-Legende Christian Ströbele.
In Lichtenberg hat es die neue Linke-Co-Vorsitzende Ines Schwerdtner geschafft, das Mandat der sehr beliebten Gesine Lötzsch zu verteidigen, die aus der Politik ausgeschieden ist. Schwerdtner ist noch gar nicht lange in der Linken und war zuvor Publizistin. Das ist ein Katapultstart in die Politik, würden wir meinen. In Neuköllen hat Ferat Koczak gewonnen, den wir, wie Gysi, schon auf Veranstaltungen erlebt haben. Eine Kante mit Ansichten, nur so jemand wirkt in Neukölln wirklich authentisch. Auch dies ein tolles Ergebnis. Und eine weitere Besonderheit: Zum ersten Mal in ihrer Geschichte holt die Linke durch ihn ein Direktmandat im Westen. Anders als die übrigen Bezirke, in denen die Linke gewonnen hat, liegt Neukölln ausschließlich im früheren Westberlin.
Noch etwas fällt auf. Die Kandidat:innen der Grünen und der CDU, die ihre Wahlkreise gewonnen haben, sind alle nur knapp vorne gewesen, in der Regel mit Werten zwischen 24 und 26 Prozent, das hätte, siehe Tempelhof-Schöneberg, leicht anders ausgehen können. Die Linken, die ihren Wahlkreis gewonnen haben, liegen alle über 30, Gysi sogar über 40 Prozent. Darauf kann man die Linke wieder stabil aufbauen, denn von Gysi abgesehen, sind diese Politiker:innen jung genug, um die Zukunft der Partei mitzugestalten, in einem Fall ist das ja an führender Stelle ohnehin bereits so.
Der Linken hat natürlich auch in Berlin der neue Social-Media-Hype geholfen, das Projekt Silberlocken, an dem Gysi beteiligt ist und wo wir immer etwas schmunzeln müssen, wenn wir an ihn denken, aber Berlin hat wieder eine Chance, auch für die nächsten Abgeordnetenhauswahlen.
In Berlin gab es keinen so starken Rechtstruck im gesamten Land, aber beunruhigende Beobachtungen gibt es genug, die besprochen werden müssen. Nur in zwei Berliner Wahlkreisen wurde die AfD nicht zweistellig, in Friedrichshain-Kreuzberg und in Zehlendorf. Unterschiedliche Prägungen der Gebiete, aber in beiden für die AfD wenig zu holen. Bei uns hingegen lagt sie über 11 Prozent, dank des rechten Südens des Bezirks, ähnlich in Neuköllen, in weiteren Bezirken um 15 Prozent – und dann der Osten, mit regelmäßig über 20 Prozent. Auch Berlin ist gespalten, nach wie vor, das darf man nicht vergessen, aber natürlich nicht in dem Maße wie Ost- und West-Bundesländer. Wir sind froh, Deutschland auch deshalb besser verstehen zu können, weil wir hier alles haben. Ossis, Wessis, Überläufer, Eingeborene und Zuzis wie uns – und Menschen aus 194 Nationen.
In diesem Sinn wollen wir dafür einstehen, dass Berlin eine weltoffene Stadt bleibe. Die sozialen Probleme sind freilich so gravierend, dass dringend die guten Ansätze der Politik wieder aufleben und sich verfestigen und erweitern müssten, die Rot-Rot-Grün in der ersten gemeinsamen Regierungszeit von 2017 bis 2021 begonnen hat und denen leider wegen Fehlern bei der Wahl 2021 nur eine kurze Fortsetzun beschieden war (2021-2023). Ohne die Blockade der SPD in vielen Bereichen wie der Wohnungspolitik wäre noch mehr drin gewesen.
Wir sind mit dem Ausgang des Berliner Teils der Bundestagswahl relativ zufrieden, die gesamte Bundestagswahl betreffend … darüber haben wir heute bereits geschrieben.
Berlin ist aber auch 2025 die rote Insel im blauen Meer, und wir müssen dafür alles tun, dass diese Insel nicht untergeht.
TH
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