Filmfest 1328 Cinema
Nikolaikirche ist die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Erich Loest, der auch am Drehbuch mitwirkte. Der Film wurde 1995 unter der Regie von Frank Beyer gedreht. Er beleuchtet die letzten Monate der DDR und zeigt, warum sich so viele Menschen in der Leipziger Nikolaikirche versammelten. Nikolaikirche war eine zweiteilige Produktion für das Fernsehen. Es gibt auch eine kürzere Kinofassung, die vom Regisseur selbst geschnitten wurde.
„Nikolaikirche“ zeigt ein wichtiges Stück Geschichte der Wendezeit in den Jahren 1988-1989 – und ist selbst ein Stück Geschichte. Regisseur Gerd Beyer war in der DDR ein hochdekorierter Filmschaffender, trotz des Skandals um „Die Spur der Steine“ (1966), der seine kritische Haltung dem System gegenüber dokumentierte und Manfred Krug zum Star machte. Aus seinem Werk haben wir „Nackt unter Wölfen“ (1963) mittlerweile ebenfalls rezensiert.
Handlung (1)
Gezeigt wird eine Familie im Spannungsfeld zwischen Stasi und Friedensbewegung. Während die Hauptfigur, Architektin Astrid Protter, die Verlogenheit des Systems erkennt und Auswege sucht, profiliert sich ihr Bruder Alexander Bacher weiter als Hauptmann der Staatssicherheit, versucht aber, seine Familie vor Nachstellungen der eigenen Behörde zu schützen. Die Auseinandersetzungen gipfeln in den Montagsdemonstrationen von 1989. Während die Staatsmacht brutal gegen die Demonstranten vorgeht, antworten diese mit Schweigen und ziehen am verbarrikadierten Stasigebäude vorbei.
Rezension
Der ausstrahlende MDR zeigte im Anschluss an den Film ein Porträt des Schriftstellers Erich Loest, der den Roman „Nikolaikirche“ verfasst hat, ebenso wie (mit anderen zusammen) das Drehbuch zum Film, das uns klarmacht, warum „Nikolaikirche“ so authentisch wirkt. Jemand, der selbst in der DDR nicht nur gelebt, sondern sie begleitet, kritisiert, an ihr gelitten hat und von ihren Organen inhaftiert wurde, weiß, worüber er schreibt.
Ein weiterer Umstand, warum „Nikolaikirche“ so authentisch wirkt, ist die Zeitnähe zu den Ereignissen. Man konnte 1995 noch verfallene Häuser filmen, Wartburg-Automobile auftreiben, und man musste die Menschen bezüglich ihrer Optik nicht mehr oder weniger kunstvoll an eine vergangene Epoche anpassen. Heute wäre eine Verfilmung der Vorkommnisse um die Leipziger Nikolaikirche, die Montagsgebete und schließlich die Montagsdemonstrationen, bereits ein aufwendiges Periode-Bild. Sicher gibt es bereits kleine Ungereimtheiten und mitgefilmte Nachwende-Objekte, z. B. bei Einstellungen, die Leipziger Straßen zeigen, aber der DDR-Moduswirkt insgesamt intakt.
Verstärkt wird die Authentizität durch den Filmstil. Bereits das Filmmaterial hat einen deutlichen 1980er-Charme, und die Schlichtheit der Inszenierung ist ein gutes Stück von dem entfernt, was man heute vermutlich fordern würde: Mehr Dramatik, mehr subjektive Einstellungen, dichteres Herantreten an die Figuren, um den Zuschauer zu emotionalisieren. Uns hat die Nüchternheit der Darstellung aber gut gefallen, weil sie dem Stil jener Zeit entspricht, wie er auch im Westen in den 1970ern und teilweise in den 1980ern gängig war. Viele Szenen haben dokumentarischen Charakter, einige sind tatsächlich aus Dokumentarfilmen übernommen. Irgendwie war die DDR so wie dieser Film. Kein übertriebener Glanz über allem, viel Theorie, wenig Wirklichkeit, welche jener Theorie entsprochen hätte.
Deswegen nimmt das staatstragende Dozieren oder das staatskritische Predigen oder was sonst die Figuren zu äußern haben, auch sehr breiten Raum in diesem eher aktionsarmen Film ein. Umso mehr haben uns die Demonstrations-Szenen dann erfasst. Weil eben der Tat, diesem ebenso mühsamen wie plötzlichen Aufstehen gegen die Staatsmacht, eine so lange Phase vorangegangen war, in der Widerstand höchstens ein Denksport war – die Einzelaktionen in Form des Rübermachens werden im Film nur gezeigt, als sie sich bereits zur Kollektivflucht über den Umweg via Ungarn gewandelt hatten. Wir spüren über weite Strecken hautnah die Agonie der späten DDR, und das ist quälend, unbequem und wenig erwärmend.
Wir brauchten auch eine Zeit, bis wir die Figur Astrid Proller begriffen, die sich gegen ihr bequemes Leben im Bauausschuss der Stadt Leipzig stellt. Ihr Weg vom leisen Protest über die offene Abwehr, die Depressionen angesichts der Zerrissenheit eines Lebens, in dem der Wunsch nach Wahrheit sich immer wieder gegen den Gang der Dinge aufbäumt, bis hin zu einer Montagsdemonstrantin wird überzeugend dargestellt. Sie ist die Identifikationsfigur, was sich an der Besetzung mit der attraktiven Barbara Auer verdeutlicht, aber sie ist nicht das alleinige Zentrum des Films.
Vielmehr wird die andere Seite auch recht ausführlich dargestellt. Ihr Stasi-Bruder ist auch der Antagonist, um ihn herum gibt es all jene Figuren, die man aus dem Horrorkabinett der DDR-Nomenklatura kennt. Interessant und zum Nachdenken anregend ist dabei Peter Sodann in einer Rolle als General und Chef von Alexander Bacher, Astrids Bruder. Sodann war in der DDR als kritischer Kopf aufgefallen, später für DIE LINKE aktiv und ein ausgesprochener DDR-Nostalgiker. Für uns ist er, neben Ulrich Tukur, der einen jungen, alerten und etwas windigen Rechtsanwalt spielt, Fixpunkt bezüglich der beachtlichen Schauspielerriege, weil wir beide wegen unserer Arbeit an der TatortAnthologie des Wahlberliners häufiger rezensieren. Sodann wirkt für das, was wir uns unter einem Stasi-Oberen vorstellen, zu jovial und gütig, aber da müssen wir wieder einmal vorsichtig sein, weil wir uns natürlich in Klischees bewegen, was die Geheimdienstler der DDR angeht.
Wie das System selbst funktioniert, erklärt der Film durchaus – die absolute Verwanzung ist auch eines seiner stärksten und schockierendsten Elemente. Selbst die eigenen Leute und vor allem deren Umgang werden strikt überwacht. So muss Bacher sich eine Beziehung zu einer jungen Frau sogar vom MfS genehmigen lassen. Im Grunde ist es logisch, dass jemand, der sich so dezidiert einem neurotischen System und einer konspirativen Lebensweise verschrieben hat, nicht selbst zum Opfer wird. Aber die Stasi und ähnliche Organisationen sind eben nicht perfekt, wie man daran feststellen kann, dass Placher erst im Verlauf der freigegebenen Beziehung bemerkt, dass seine Partnerin zur Opposition tendiert.
Außerdem besetzen linientreue Genossen (500, nicht 300 Spartaner) die Nikolaikirche, damit die Oppositionellen keine Plätze mehr bekommen. Diese finden sich dann aber auf den Emporen ein und am Ende ist es nicht so, dass die in der Wolle gewirkten SED-ler den Wunsch nach Freiheit abwürgen können. Vielmehr marschieren sie in der Demo mit und singen mit, und sicher hat auch mancher eine Kerze vor das Stasi-Hauptquartier der Stadt gestellt. Mit diesem beeindruckenden Bild der brennenden Lichter verabschiedet sich der Film und hat uns spätestens in diesem Moment berührt.
Finale
Die Handlungsführung ist klassisch-bewährt: Geschichte wird anhand von Einzelschicksalen dargestellt, um sie erfassbar und erfahrbar zu machen. Wir halten „Nikolaikirche“ für ein wichtiges Zeitdokument aus der Nachwende-Ära und der mit ihr einhergehenden filmischen Aufbereitung der DDR-Geschichte. Wer den Begriff „Montagsdemonstration“ einmal gehört hat, ohne die Hintergründe zu kennen und wer darüber mehr wissen möchte, für den ist dieser Film eine gute Empfehlung – und vielleicht der Einstieg in eine vertiefte Beschäftigung.
Anmerkung anlässlich der Veröffentlichung des Textes im Jahr 2025. Heute würden wir die Rezension sicher ausführlicher gestalten, zumal wir ab 2019 nach und nach alle DDR-Polizeirufe und viele DEFA-Filme gesichtet haben, daher sind uns mittlerweile weitere Namen aus der Besetzungsliste vertraut. Auch und gerade welche aus den späten Jahren der DDR. Der beschriebene nüchterne Stil von „Nikolaikirche“ entstammt vermutlich mehr der Art, wie sich der DEFA-Film zum Ende hin entwickelt hat als dem Stil des Neuen Deutschen Films in Westdeutschland.
Da die Inszenierung von einem Regisseur kommt, der während der künstlerischen Hochphase der DEFA begann und dann die Entwicklung in der DDR nachvollzogen hat, außerdem ein Opfer des Kulturkahlschlags von 1965 wurde, hat er sich auf das verlassen, was die DEFA-Filme kurz vor der Wende auszeichnete. Psychologische Präzision, wenig Pathos, schlichte Visualität, gedämpfter Ton. 1995 im Grunde schon wieder richtig, denn die Wiedervereinigung war schon deutlich als mit vielen Problemen behaftet erkennbar.
Das Thema Stasi sollte mehr als zehn Jahre nach „Nikolaikirche“ zu einem der letzten oscarprämierten deutschen Filme führen: „Das Leben der anderen“, mit Ulrich Mühe in der Hauptrolle als Stasi-Mann, der auch in „Nikolaikirche“ mitspielt.
Im Rahmen der zweiten deutschen Filmchonologie, die wir gerade verfolgen, haben wir uns bemüht, besonders aus den 1980ern DDR-Filme mindestens in gleicher Anzahl zu rezensieren wie solche aus dem Westen.
Der Film wurde in die Rubrik „Filmfest Cinema“ eingeordnet, weil es auch eine Kinoversion gibt, vermutlich ist sie auch diejenige, die wir gesichtet haben, sonst hätten wir im Rezensionstext erwähnt, dass es sich um einen Fernseh-Zweiteiler handelt.
75/100
2025 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2015)
(1), kursiv (außer mit Randbalken versehener Nachtrag), tabellarisch: Wikipedia
| Regie | Frank Beyer |
|---|---|
| Drehbuch |
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| Musik | Johann Sebastian Bach |
| Kamera | |
| Schnitt | Rita Hiller |
| Besetzung | |
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