Eine anhängliche Frau / Eine klebrige Frau (Une femme collante, FR 1906) #Filmfest 1330

Filmfest 1330 Cinema

 A Sticky Woman ist ein französischer Film von Alice Guy aus dem Jahr 1906 . (1)

Vorwort

Die „erste französische Filmchonologie“ ist abgeschlossen, sie reichte mit den „Papieren“, den alten Filmverzeichnissen bis 1989 und ihren kurzen Kritiken, bis ins Jahr 1982, Frankreich betreffend. Die zweite Chronologie nennen wir „freies Frankreich“. Anders als die zweite deutsche und die dritte US-Chronologie ist sie frei davon, dass wir einen Film pro Jahr präsentieren müssen, um die Bedingungen zu erfüllen. Der Grund ist simpel: Trotz des reichen filmischen Erbes der „Grande Nation“ können wir bei älteren Filmen nicht so leicht auf Ergänzungen zugreifen, weil unser Französisch nicht mehr gut genug ist für das Anschauen von Originalversionen, wir bräuchten also immer eine Übersetzung – vor allem bei Tonfilmen natürlich. Wir fangen aber vorne an. Nicht ganz vorne, nicht bei den Brüdern Lumière oder bei Georges Méliès, sondern bei Alice Guy, die schon kurz danach, 1896, dazustieß und als erste Filmemacherin der Welt gilt. Wir zeigen einige Filme von ihr hintereinander, aber dies ist nur ein kleiner Ausschnitt, sie war an über 300 Stummfilmen beteiligt. Generell wird die zweite französische Chronologie  auch keine Werkschauen beinhalten, aus dem oben genannten Grund: Es ist für uns schwieriger, fehlende Filme kurzfristig zu beschaffen.

Einleitung

Arte zeigt gerade eine kleine Sammlung von  Kurzfilmen aus den Jahren 1906 bis 1927, in denen oder bei deren Herstellung Frauen wichtige Rollen spielen. An einer Stelle kreuzt sich diese Querschnitts-Werkschau mit unserem Projekt, die frühen Chaplin-Filme chronologisch zu sichten. Doch das ist eine andere Geschichte, die mit dem damals führenden weiblichen Komödienstar Mabel Normand in den USA zu tun hat. Fast zehn Jahre früher entstand „Eine klebrige Frau“ unter der Regie von Alice Guy, die als die erste Regisseurin der Welt gilt. Nur ein Jahr nach der Erfindung des Kinos, wie wir es heute kennen durch die Gebrüder Lumière fertigte sie für Gaumont, das wiederum das erste große Filmstudio weltweit war, erste kleine Kurzfilme und war als Regisseurin tätig bis 1920, ab den 1910er Jahren in den USA. Sie dürfte bis heute eine der Regisseurinnen mit dem umfangreichsten Werk sein, gemessen an der reinen Zahl der Filme, die sie inszeniert hat. So gesehen ist „Die klebrige Frau“ ein Beispielfilm, hinter dem eine ganze Kinowelt steckt. Die Welt von Alice Guy, die auch technisch an der Entwicklung des Kinos beteiligt war.

Handlung

In einem Postamt kauft eine Dame in Begleitung eines Hausangestellten Briefmarken, dann nähern sich beide einem Büro, das den Benutzern zur Verfügung gestellt wird. Dann kommt eine ungewöhnliche Szene: Die Magd nimmt eine gefrorene Haltung ein und streckt die Zunge heraus! Die Dame benutzt dann so natürlich wie möglich die Zunge ihrer Angestellten wie einen feuchten Schwamm, um die Briefmarken zu befeuchten, bevor sie auf die Umschläge geklebt werden.

Ein Gentleman ist, gelinde gesagt, fasziniert von dieser außergewöhnlichen Szene und beobachtet mit Interesse, was passiert. Und wie  er zuschaut, ist er in das charmante junge Mädchen verknallt: Es wird notwendig sein – es ist der Fall, es zu sagen – mit der jungen Dame zu sprechen!
Die Gelegenheit ergibt sich bald, da alle Umschläge frankiert wurden. Der Herr widersetzt sich nicht mehr und küsst das junge Mädchen auf den Mund. Aber es bekommt ihm (oder beiden) schlecht, denn hier stecken sie fest! Kurzer Skandal in der Post vor der Unanständigkeit der Szene, zumal der Herr in Begleitung seiner Frau kam, die Regenschirmschläge an die Täter verteilt.
Ein kluger junger Angestellter greift nach einer Schere und beginnt, die Lovebirds zu trennen, aber jetzt steckt ein Teil des stolzen Schnurrbartes, der die Lippe des Mannes schmückte, wiederum unter der Nase der Schönheit!

Analyse

In diesem sehr lustigen Film nutzt Alice Guy die ungeordnete Haltung des festgefahrenen Paares, um einen Kamerastopp auszuführen, mit dem ein Teil des falschen Schnurrbartes des FOP (?) unter die Nase der jungen Dame übertragen werden kann.

Erinnern wir uns daran, wie eine Kamera stoppt , einer der ältesten Spezialeffekte im Kino: Auf Befehl des Regisseurs (hier der Regisseurin) kommen alle Schauspieler und Statisten auf der Bühne wie Statuen zum Stillstand, der Bediener hört auf, die Kamerakurbel zu drehen. Ein Assistent klebt am Haarteil und geht sofort weg, die Kamera wird wieder in Bewegung gesetzt, der Regisseur gibt den Beginn der Aktion der Schauspieler, die damit die Szene beenden. Nach der Entwicklung muss der Film „gereinigt“ werden, da beim Stoppen und Neustarten der Kamera überbelichtete Bilder erzeugt werden, die geschnitten werden müssen. Das Ende des ersten Teils wird am Anfang des zweiten Teils geklebt (durch Schweißen mit Aceton, nicht durch Briefmarkengummi!), Wodurch die Manipulation verschleiert wird.

Rezension

Der Rücksturz in die Geschichte des Kinos wird immer tiefer und wir den obigen Teil direkt aus der französischen Wikipedia übernommen, wie man unschwer an der holprigen, nichtsdestoweniger charmanten Übersetzung erkennen kann; der Duktus, das lässt sich auch hier erkennen, weicht deutlich von Texten in der deutschen oder englischsprachigen Wikipedia ab. In diesen beiden Sprachen gibt es aber nichts zu diesem Film zu lesen.

Der Film ist nur drei Minuten lang und wird prinzipiell in einer einzigen Einstellung gedreht, daran ändert auch die obige Anwendung des Stop-Motion-Verfahrens nichts, das hier sehr gut anhand des vorliegenden Filmbeispiels erklärt wird. In Hollywood hätte der Film nach der Einführung des Production Codes bzw. dessen Institutionalisierung im Jahr 1934 nicht mehr gezeigt werden dürfen, denn es ist ein Kuss zu sehen, der länger als drei Sekunden dauert. Woran man sehen kann, wie Zensur, hätte sie schon um 1900 bestanden, die Entwicklung der Kreativität der Kinematografie und damit der Kinematografie selbst behindert hätte. Ein bisschen eklig fand ich die Szene schon, wie ich generell das Bekleben von Briefmarken als eine wenig attraktive Tätigkeit ansehe. Doch niemals habe ich einen Schwamm verwendet, als die Marken noch nicht selbstklebend, sondern „gummiert“ waren und nun ist es vorbei, da ich fast 100 Prozent meines Schriftverkehrs elektronisch abwickle.

Dass man nach einigen Frankierungen so klebrig ist, dass Küssen zu einer gefährlichen Aktion wird, die Bärte kürzt oder erzeugt, wäre mir nicht eingefallen, aber nur das Zeitalter ebenjener Bärte machte den Film witzig. Wäre der Mann glattrasiert gewesen, hätte das Sujet eher für Luis Buñuel getaugt, der daraus einen schon optisch sehr schmerzhaften surrealistischen Film mit Blut, aber ohne Tränen gefertigt hätte, freilich um einige Jahre später.

Finale

Wie bei französischen Filmen üblich, hat man den Film so restauriert, dass er fast wie neu aussieht, zumindest den Zustand betreffend. Die plane Ausleuchtung in einem Einraum-Studio, die Kleidung und das Fehlen des Tons weisen darauf hin, dass es sich nicht etwa um ein Period Picture mit Vintage-Anmutung handelt, sondern um einen wirklich sehr alten Film, geboren, als das Kino noch wirklich in den Kinderschuhen steckte, obschon gerade in Frankreich sehr fantasievoll mit dem neuen Medium umgegangen wurde.

Die Geschichte der Regisseurin ist nicht nur mit seiner Entstehung verbunden, obwohl sie das Kino nicht erfunden hat, sondern in seiner ganz frühen Phase bereits als eine Ausdrucksmöglichkeit und neues Medium mit eigenständigen Möglichkeiten erkannte. In den USA hinterließ sie dann auch Spuren als Produzentin, die sich mit vielen der späteren großen Namen von Studios und Produzenten verknüpfen; mit Samuel Goldwyn, mit den Anfängen von MGM, bevor es so hieß, mit dem Vater von David O. Selznick, der bekanntlich „Vom Winde verweht“ drehen ließ.

Es kam zu Rückschlägen und zum Scheitern von Alice Guy, unverschuldet, wie die französische Wikipedia aussagt. Aber sie war eine Pionierin und, wie es bei Arte heißt: Die Geschichte von Frauen im frühen Film ist zwar noch nicht sehr bekannt, aber schon gut aufgearbeitet. Tragen wir mit der Rezension solcher Miniaturen wie „Die klebrige Frau“ dazu bei, sie zu würdigen. Bisher ist dieser Film der älteste, den wir überhaupt rezensiert haben, was auch daran liegt, dass wir die Größen der Zeit, wie Georges Méliès, noch nicht gesichtet haben. Seine Filme waren insofern eine andere Kategorie, weil sie bereits echtes Kino-Kino waren, unglaublich fantasievoll und echte Klassiker; der bekannteste dürfte „Die Reise zum Mond“ aus dem Jahr 1903 sein.

Anmerkung anlässlich der Veröffentlichung des Textes: Mittlerweile haben wir die dritte US-Chronologie gestartet und dabei die absoluten Anfänge des Kinos anhand von filmischen Beispielen ab 1889/90 beschrieben, so gesehen, ist „Die klebrige Frau“ geradezu ein reifes Werk, bis zu ihrer Entstehung waren bereits mehr als 15 Jahre Filmgeschichte (nicht gleichbeutend mit Kinogeschichte) vergangen.

Wie bewertet man einen solchen Film? Hier muss der filmhistorische Aspekt noch einmal mehr im Vordergrund stehen als beim oben erwähnten Chaplin-at-Keystone-Projekt, sonst wäre der Würdigungseffekt doch sehr eingeschränkt.

Die IMDb-Nutzer:innen geben der Frau, die als Briefmarken-Klebemaschine dient, 6/10. Ich finde diese Bewertung unter Berücksichtigung des historischen Wertes gar nicht so falsch, obgleich ich gerade bei Chaplins Film Nr. 15 stehe und noch keine Bewertung von mehr als 5,7/10 dabei war und diese Kinostücke doch deutlich elaborierter sind, die meisten jedenfalls. Dessen ungeachtet komme ich fast auf den gleichen Wert wie die Nutzer:innen der führenden Welt-Kinodatenbasis.

58/100

2025 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Rezension 2024)

(1), kursiv: Wikipedia (englisch)

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