Das fliegende Klassenzimmer (DE 2003) #Filmfest 1360

Filmfest 1360 Cinema

Das fliegende Klassenzimmer ist ein Kinderfilm des deutschen Regisseurs Tomy Wigand aus dem Jahr 2003. Er basiert frei auf dem gleichnamigen Roman von Erich Kästner. 

Wir kennen das Buch, haben es als Jugendliche mehrmals gelesen und halten es von den wunderbaren großen vier Kinderbüchern Erich Kästners für das Beste. Es ist eine Ikone der Kinder- und Jugendliteratur, und wie die beiden Verfilmungen von 1973 und 2003 damit umgehen, ist mindestens gewöhnungsbedürftig. Wir wissen nicht, was Kästner zu diesen zeitgeistigen Adaptionen gesagt hätte, aber wir fühlen uns beinahe berufen, ihn gegen sie zu verteidigen. Und wir werden das Gefühl nicht los, dass wir das Beste noch nicht kennen, und das dürfte demnach die Filmversion von 1954 sein. Dass sie vom Buch am wenigsten abweicht, dürfen wir vermuten, ohne diesen Film schon gesehen zu haben, denn mehr als die Sommervariante 1973und noch mehr als die Snow-Light-Version von 2003 kann man sich kaum von der Atmosphäre und leider auch von der Essenz einer Vorlage entfernen. Die heutigen Filmemacher haben ganz offensichtlich so große Angst davor, bei heutigen Kids nicht anzukommen, dass sie es riskieren, die Wesentlichkeiten und die Atmosphäre von Kinderbüchern komplett über Bord zu schmeißen.

 Handlung (1)

Jonathan ist ein Waisenkind, das von einem Kapitän adoptiert wurde. Er erreicht in der Adventszeit Leipzig per Flugzeug. Dort soll er im Thomanerchor Aufnahme finden. Am Bahnhof begegnet er einer jungen Ladendiebin, die er entkommen lässt. Sie verliert dabei ihre Sonnenbrille, die Jonathan mitnimmt.

Im Internat wird Jonathan schnell freundlich aufgenommen. Seine Zimmerkameraden haben in einem alten Eisenbahnwaggon ihren Geheimtreffpunkt. Eines Abends treffen sie dort auf einen Mann namens Bob, genannt Nichtraucher. Dieser Mann gibt sich als Besitzer des Grundstücks aus und beginnt mit den Jungen eine freundschaftliche Beziehung.

Jonathan erfährt bald vom erbitterten Kampf der Thomaner mit den „Externen“ in ihren Klassen. Die „Externen“ sind die Nicht-Mitglieder der Thomaner. Als Bachs Weihnachtsoratorium in der Thomaskirche aufgeführt werden soll, entwenden die „Externen“ die Noten der Sopranstimme und entführen den Sohn des Direktors Kreuzkamm.

Daraufhin kommt es zu einer Schneeballschlacht, welche die Thomaner gewinnen. Schließlich gelangen sie mit etwas Verspätung zur Oratoriums-Vorführung. Vom Kantor Justus Bökh daraufhin zur Rede gestellt, geben die Jungs die Wahrheit an. Justus nimmt diese den Jungen nicht übel. Die Kinder sollen als Strafe nun das diesjährige Weihnachtsspiel schreiben und vorführen.

Jonathan verliebt sich immer mehr in die junge Ladendiebin, die sich mittlerweile als Mona, eine der „Externen“, herausgestellt hat. Er gibt ihr ihre Sonnenbrille zurück. Sie lädt ihn als einzigen zu ihrem 12. Geburtstag ein, den die beiden im alten Waggon verbringen. Dort stoßen die Jungen auch auf ein altes Theaterstück, das ihnen sehr gefällt: Das fliegende Klassenzimmer. Sie beschließen, es als Rap aufzuführen und holen Mona als Balletttänzerin in ihr Team. Dieses Vorgehen entspricht einer Revolution, weil Mädchen eigentlich nicht mitwirken dürfen. (…)

 Rezension 

Was bleibt, ist in der 2003er Verfilmung die Grundsituation, dass ein eigensinnig-sympathischer Junge den Mittelpunkt einer kleinen Schülerclique darstellt, die sich ausschließlich aus Stubenkameraden eines Internats rekrutiert. Eines muss man dem Film lassen: Er ist durchaus flott und einige der Kinderdarsteller fanden wir  zauberhaft. Besonders das Gegensatzpaar Mats Selbmann und Uli von Simmern hatte es uns angetan. Die beiden entsprechen sogar in etwa der Vorstellung, die wir vom Buch mitbrachten. Gerade haben wir die Besetzungsliste studiert – und gesehen, dass Mats von Frederick Lau gespielt wird, dessen Name uns bereits durch unsere Arbeit an der TatortAnthologie (heute: Crimetime) für den Wahlberliner ein Begriff war und der 2011 den Adolf Grimme-Preis erhielt. Einer der wenigen geglückten Übergänge vom Kinderdarsteller zum erfolgreichen erwachsenen Schauspieler in den letzten Jahren.

Der Charme der Kinder ist auch das größte Benefit der 2003er-Version und übertrifft die Darstellerriege von 1973 um einiges. Das heißt auch, dass die jungen Darsteller gut geführt wurden und dass sie auf ihre eigene Weise einigermaßen glaubwürdig daherkommen. Allerdings weichen sie vom Original-Quintett des Kästner-Kinderromans erheblich ab. Man hat zwar versucht, ihre Grundfähigkeiten zu erhalten, aber bis auf die erwähnten Mats und Uli wirken sie modernistisch verfremdet, kurioserweise bei Sebastian Kreuzkamp, dem Sohn des Schuldirektors, gleichzeitig antiquarisch, weil sein Vater von Piet Klocke dargestellt wird, welcher der im Original ambivalenten Direktoren-Figur einen zu eindeutigen Drall ins Komische gibt. Anders gesagt, mit dem Pauker kann man ähnlich aus der Realität abspringen wie mit den Pauker-Filmen aus den frühen 1970ern, in denen Theo Lingen häufig den verpeilten Schuldirektor mimte. Das entspricht leider nicht dem durchaus ernsten Grundcharakter des Kästner-Buches und der darin angedeuteten, durchaus humorigen, aber immer an der Grenze zur Härte und Abweisung gerade wegen Sebastians Sonderstatus liegenden Vater-Sohn-Verhältnis, dessen Problematik für die altkluge Art von Sebastian sorgt, während er in der Filmversion vor allem als Naturwissenschaften-Freak mit blubbernden Reagenzgläsern auf der Stube (haha!) gezeigt wird. Wenigstens hätte man ihn dann zum Computer-Nerd machen können.

Johnnys Status als einsamer Adoptivsohn bleibt gewahrt, aber eine soziale Komponente, die in den 1930ern, als das Buch entstand, damit durchaus noch verbunden war, lässt sich nicht erkennen. Wie schon in der 1973er Variante ist am meisten aber die Herzfigur des Buches verändert worden, Martin Thaler. Die schwierigen finanziellen Verhältnisse seiner Eltern, die im Buch ein wichtiges Thema sind, dass er sich nie die kleinen Naschereien kaufen kann, die Mats Selbmann ständig in sich hineinfrisst, die werden in der 1973er Version noch lapidar angedeutet und auf eine Art Aussteiger-Selbstständigkeits-Ebene der Eltern verlagert, 2003 sind sie weg. Lediglich eine Scheidungssituation seiner Eltern wird pflichtschuldigst beigefügt, damit der Junge überhaupt ein Problem hat. In der Hinsicht, eine zentrale Figur auch deshalb als sozial kompetent zu zeigen, weil in seiner kleinen Familie Liebe alle materiellen Wohltaten ersetzen muss, wird auf eine Art abgeschnitten, die uns schon in der 1973er Version verärgert hat.

Selbst Martins Begabung zum Stücke schreiben, die im Buch aus einer Fantasie von Freiheit und Abenteuer entspringt, die gerade dieses sozial benachteiligte Kind auf eine so anrührende Weise entwickelt, hängt in den uns bekannten Verfilmungen in der Luft, wohingegen Jonathans Kreativität immerhin noch aus den Sehnsüchten nach einer Familiennormalität motiviert sein könnte. Die Flügel der Fantasie, die Kinder befähigt, dem Alltag zu entfliehen, wird allerdings im Film von 2003 nicht ganz fallen gelassen – sondern eine Generation zurückversetzt. Es sind die DDR-Kinder Johann und Robert, Dr. Bökh und „Der Nichtraucher“, die das ursprüngliche Stück geschrieben haben und deren Sehnsucht nach Freiheit sich darin ausdrückt. Dies ist auch ein kreativer Umgang mit dem Stoff, den wir akzeptiert hätten, würde er nicht den Schwerpunkt berlagern. Das tut er allerdings, denn mit einem Mal sind nicht die Hintergründe der Jungs, sondern die der Lehrer am wichtigsten. Trotzdem hat man damit auch den schwierigen Part gelöst, dieses Kinder-Theaterstück nicht zu altmodisch wirken zu lassen, Johnny und Martin dürfen es zu einem Hip-Hop-Musical umarbeiten, von dem nach einem Brand der Deko, ausgelöst von Johnny Trotz und mitverursacht von Dr. Bökh, nur ein einziger Rapsong übrig bleibt.

Allerdings wird Dr. Bökh in diesem Moment auch ungerecht, und das Buch lebt davon, dass dies eine einheitliche, für die damaligen Verhältnisse überragend moderne Pädagogenfigur ist, an der sich die Jungen aufrichten können. Dieses starke Band, das alle Streiche und Probleme übersteht, wird in dem Moment zerrissen, als Johnny dem Lehrer beleidigende Äußerungen nachruft. Das ist sehr schade, weil es die Magie  zerstört, die ohnehin nicht so leicht vom Buch auf den Film zu übertragen ist. Es mag auch daran liegen, dass wir sowohl mit Blacky Fuchsberger als Dr. Bökh (1973) und mit Ulrich Noethen (2003) unsere Probleme hatten. Mit Letzterem allerdings mehr, und das sagt einiges, weil er ein kapabler Schauspieler ist. Die Art, wie er  und sein Freund Robert sprechen, ist zu sehr auf dieses neudeutsche  zackig-knapp getrimmt, das schon beinahe wieder bei der Sprache angekommen ist, die in einer Zeit üblich war, in der es selten verständnisvolle Pauker gab. Bloß keinen kontemplativen Moment aufkommen lassen, scheint das Motto dieser Spreche zu sein. Auch Robert Uthofft hatten wir uns anders vorgestellt, als Sebastian Koch ihn spielt, als Ex-Arzt ohne Grenzen, der natürlich auch nicht in diesem Bahnwaggon lebt, sondern nur eine Art Museum seiner Kindheit darin eingerichtet hat, das die Jungs weiterverwenden und ihren Anforderungen anpassen. Heinz Reincke in der 1973er Verfilmung war in der Rolle ein wenig zu leutselig und Koch ist viel zu sehr auf hipper Akademiker-Weltenbummler gemacht. Muss das alles so sein, nur, um dem Zeitgeschmack nicht nur zu dienen, sondern sich ihm zu unterwerfen?

Witzigerweise gehen die Jungs aber noch in die Telefonzelle und haben offenbar keinen Internetzugang, was 2003 durchaus nicht mehr dem Stand der Realität entsprach – da hat man sich dann auf seltsame Weise traditionell verhalten, ebenso wie bei der Darstellung der Proben und Aufführungsvorbereitungen der Thomaner. Mag allerdings sein, dass hier die Wirklichkeit gefilmt wurde – leider erlaubt es unser Zeitbudget nicht, in die Welt des Thomanerchors etwas tiefer einzusteigen.

Aber eine weitere Komponente des Buches müssen wir besprechen, weil sie im Film stark verändert wurde. Das ist der Konflikt zwischen den „Gymnastikern“ und den „Realisten“ im Buch, der im Film an eine einzige Schule verlegt wird. Die „Externen“, die im Buch lediglich für diejenigen Schüler stehen, die in der Stadt, nicht im Internat wohnen, werden zu den Realschülern des Buches, und die sozialen Unterschiede, die im Buch spürbar sind, werden an ein und derselben Schule ihrer Logik enthoben. Dass die Internatsschüler alle um Längen besser angezogen sind, was heutige Kids natürlich registrieren, als die Schüler, die in der Stadt wohnen, ist mehr als seltsam. Der Umkehrschluss wäre, dass Eltern, die auf sich halten, ihre Kinder auch dann ins Internat geben, wenn sie in Leipzig wohnen und ihre musisch begabten Sprösslinge ebenso gut zuhause behalten könnten. Außerdem, auch wenn’s konservativ wirken sollte: „Das fliegende Klassenzimmer“ lebte auch davon, dass diese Internatswelt eine Jungenswelt war. Frauen kamen, soweit wir uns erinnern, nur als Bäckereiverkäuferin oder Krankenschwester oder Theos Flamme vor oder als Martins Mutter. Dass nun der Unterricht integriert ist, entspricht selbstverständlich heutiger Schulprägung, aber wir hatten noch die Gelegenheit, eine reine Jungenklasse an einem Gymnasium besuchen zu dürfen – in der Unterstufe – und die eigenartige, spannungsreiche Atmosphäre einer Welt fast ohne Mädchen und Frauen, die das Buch durchzieht, wäre für heutige Kinder doch mal etwas, worüber sie diskutieren könnten. Kästner war aber schon sehr paritätitisch: „Emil und die Detektive“ enthält mit Pony Hütchen eine starke Mädchenfigur, „Pünktchen und Anton“ ist schon vom Titel her ausgeglichen, und es gibt natürlich noch „Das doppelte Lottchen“, das Mädchen in den Vordergrund stellt.

Finale

Was wir schon anlässlich der Sichtung der 1973er Version dachten: Kinder werden unterschätzt, was ihre Adaptionsfähigkeit angeht. Wir sind gespannt, ob es eines Tages eine historisierende Verfilmung geben wird, ein Period Piece, wenn man so will. Und ob man darin die Figuren und die Umstände der Zeit, in der das Buch spielt, ernst nimmt. Nach drei Adaptionen, die in der jeweiligen Gegenwart angesiedelt sind, wäre das ein Projekt, das wir keineswegs für aussichtslos halten. Dann könnte man auch wieder Justus Bökh dadurch zum Glänzen bringen, dass er Martin das Geld (20 Reichsmark!) für die Fahrt zu seiner Mutter schenkt und die stärkste Szene des Buches wiederauferstehen lassen, in der dieser unverhofft zuhause ankommt und Weihnachten mit seinen Eltern feiern kann.

Das große Ziel, den großen Wert der kleinen Dinge und Gesten begreiflich zu machen, verfehlen die beiden Verfilmungen aus dem Wohlstandsdeutschland von 1973 und dem Transformations-Wiedervereinigungsland von 2003 komplett, da hilft es auch nicht, dass Johnny seiner Mona ein Kleidungsstück kauft, das diese ursprünglich klauen wollte. Das ist nicht das Gleiche, als wenn ein kleiner Betrag ausreicht, um Menschen zusammenzuführen, die in der Zeit der Weltwirtschaftskrise kaum genug Geld zum Essen haben. Wir hatten schon als Jugendliche dies alles sehr genau erfasst, obwohl wir nie mit materiellen Engpässen im Elternhaus konfrontiert waren. Wir hatten nicht genug darüber nachgedacht, müssen wir aus heutiger Sicht leider zugeben, wo es wieder viele  Menschen gibt, die gedemütigt und bewusst sozialen Notlagen ausgesetzt werden, gleich, ob sie „Arbeit“ haben oder nicht, wie Martins Vater um 1930 (das Buch erschien 1934). Aber wir hätten die Chance gehabt, uns immer wieder an dieses Buch zu erinnern, um die eigenen Ansprüche zu hinterfragen. Diese Chance haben Kinder, die nur die Verfilmungen von 1973 und 2003 kennen, nicht. Selbst wohlmeinenden Eltern kann diese kaum dazu dienen, deren Sozialverhalten und das ihrer eigenen Kinder zu vergleichen und Letzteres zu verbessern oder zu fördern.

Anmerkung anlässlich der Veröffentlichung des Textes im Jahr 2025: Offenbar reizt „Das fliegende Klassenzimmer“ dazu, etwa alle 20 Jahre neu verfilmt zu werden, denn 2023 kam es zu einer weiteren Adaption, der nunmehr vierten. Leider wieder in die Gegenwart transformiert, sodass der Film vermutlich noch abstrakter wirkt als die Version von 2003, die wir oben besprochen haben. Die IMDb-Bewertungen der vier Filme ergeben ein eindeutiges Bild – leider, aus heutiger Sicht, denn offenbar wird in Deutschland auch das Verfilmen von klassischen Kinderbüchern immer schlechter: 7,1/10 (1954), 6,6/10 (1973), 6,1/10 (2003), 5,4/10 (2023). Zumindest die ersten drei Verfilmungen betreffend, können wir diese Bewertungsentwicklung nachvollziehen, die Version von 2023 haben wir uns zum Sichten aufgeschrieben. In ihr wurde offenbar das komplette Schülerpersonal verweiblicht, und das ist, gelinde gesagt, genau der Schritt, der zur Verballhornung des Originals noch gefehlt hat. Warum hat man dann nicht auch aus Justus Bökh eine Frau gemacht? Dann hätte man wenigstens diese Person nicht mit Tom Schilling bessetzt, der für uns so ziemlich der letzte Schauspieler ist, der uns für die Verkörperung dieser Romanfigur eingefallen wäre.

Anmerkung 2: Die Version von 1954 haben wir mittlerweile ebenfalls gesehen, und, ganz klar, sie ist die beste der drei ersten, auch wenn wir über die Besetzung von Justus Bökh mit Paul Dahlke gestolpert sind. Vor allem Peter Kraus, der in dieser Adaption Jonathan spielt, wurde alsbald einer der bekanntesten Jungstars der jungen BRD.

60/100

2025 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2015)

Regie Tomy Wigand
Drehbuch Henriette Piper,
Hermine Kunka
Produktion Uschi Reich,
Peter Zenk
Musik Biber Gullatz,
Niki Reiser,
Moritz Freise
Kamera Peter von Haller
Schnitt Christian Nauheimer
Besetzung


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