Die Angst vor den Schatten (La peur des ombres, FR 1911) #Filmfest 1362

Filmfest 1362 Cinema

„Die Angst vor den Schatten” (im Original: „La peur des ombres“  ist ein Kurzfilm aus dem Jahr 1911, produziert von Pathé Frères in Deutschland1Der Film hat eine Dauer von 5 Minuten1.

Nicht, dass ich die Filme, die Arte gerade als „Female Comedies“ zeigt, als Kuriositäten bezeichnen möchte, sie waren ja wichtig für die Entwicklung des frühen Kinos, aber im folgenden Fall hat man es nicht übertrieben, sondern untertrieben. Womit? Es steht in der Rezension.

Handlung

Die Handlung dreht sich um zwei Frauen, die in Angst leben, nachdem ein Polizist in ihrer Nachbarschaft ermordet wurde. Mysteriöse Silhouetten huschen über den Boden, und es scheint, als ob jemand ein Gewehr hat. Die bedrohlichen Schatten rücken immer näher1.

Der Film ist Teil der Reihe„“Female Comedies“ und war vom 25. Januar 2024 bis zum 31. Mai 2024 auf ARTE verfügbar1.

Recherche & Rezension

Untertrieben hat man es dieses Mal mit der Information. Dass in dem Film Frauen vorkommen und zwei davon Angst haben und eine weitere mit der Pistole eines Gendarmen auf eine kleine  Zielscheibe schießt, dürfte wohl kaum eine Zuordnung zu „Female Comedies“ rechtfertigen. Oder doch? Die Filme aus dieser Epoche, die ich bisher gesehen haben, waren alle bei Gaumont entstanden und es führte entweder die herausragende Filmpionierin Alice Guy Regie oder sie war zumindest in einer Form daran beteiligt, einer der Filme stammt von Louis Feuillade (höchstwahrscheinlich). „Die Angst vor den Schatten“ ist jedoch ein kurzes Werk von Pathé, dem großen Konkurrenten von Gaumont in Frankreich. Nach Informationen von Arte wurde der Film sogar in Deutschland hergestellt. Er hat aber eine niederländische Beschriftung.

Um 1910 hatte Pathé in viele Länder expandiert, aber weder die französischsprachige noch die englischsprachige Wikipedia weisen eine Produktion in Deutschland aus. Der Vor-Vorspann der restaurierten Version ist in Deutsch. Ein erster Recherchedurchgang ergab zu diesem Film gar nichts, weil ich nicht mehr im Blick hatte, dass der französische Titel „La peur des ombres“ im Zwischen-Vorspann sehr wohl genannt wird. Darüber wieder kommt in die IMDb und erfährt, dass der Film aus Frankreich stammt, wie die Kostüme bzw. Uniformen im Grunde unschwer erkennen lassen, und dass der Regisseur Romeo Bosetti ist.

Er muss zu den führenden französischen Kurzfilmern jener Zeit gehört haben, denn in seiner IMDb-Liste stehen nicht weniger als 344 Produktionen, wobei zwei oder drei „über“ sind und nach seinem Tod gedreht wurden, darin kommt er also in irgendeiner Form vor bzw. findet Erwähnung. Seine ca. 340 eigenen Werke entstanden alle innerhalb der Jahre 1906 bis 1916, also hatte er einen Ausstoß von etwa 30 Filmen pro Jahr zu verzeichnen. Zum Vergleich: Der erwähnten Alice Guy werden über einen etwas längeren Zeitraum hinweg über 1.000 Produktionen zugeschrieben. In dieser frühen Phase des Films gab es zwar schon das amerikanische Kino, aber noch kein Hollywood, wo später über 1.000 Filme pro Jahr produziert wurden. Einen seiner ersten Filme hatte Bossetti zusammen mit Alice Guy gedreht, während in seiner französischen Filmografie „La peur des ombres“ nicht einmal aufgeführt ist. Offenbar hat er viele Episoden um bestimmte Figuren herum inszeniert, wie Galino (um 1910), Rosalie (ca. 1911) oder Gavroche (meist 1912).

Bosetti war ein Kind des Zirkus. Seine Eltern traten als Artisten auf, er selbst debütierte im Alter von zehn Jahren in der Manege. Er besuchte nie eine Schule, brachte sich selbst jedoch (neben seiner Muttersprache italienisch) früh französisch bei, da die Zirkusfamilie oftmals in den Gegenden gastierte, in denen diese Sprache gesprochen wird.

Er blieb bis 1906 dem Zirkus als Artist, aber auch ersten Filmen als Stuntman und der Bühne als Music-Hall-Künstler verbunden; dann trat er für die Pathé erstmals in einem Film als Darsteller auf, La course à la perruque. Bald wechselte er zur Gaumont, wo er zahlreiche kurze actionreiche Komödien in der etwa dreißig Filme umfassenden Serie um den nach ihm selbst benannten Roméo von 1908 bis 1914 auftrat. Bis 1916 inszenierte er, erneut auch für die Pathé ab 1911, aber auch für die in Nizza ansässige Produktionsgesellschaft „Comica Film“, etwa 340 Filme mit zahlreichen erfolgreichen Seriencharakteren – er hatte bereits Erfahrungen als Produzent dreier Louis Feuilladescher Fantomas-Filme –, so u. a. Calino (dargestellt von Clément Mégé), Bigorno (René Lantini), Caroline (Ellen Lowe), Casimir (Lucien Bataille), Little Moritz (Maurice Schwartz), Patouilard (Paul Bertho) und Rosalie (Sarah Duhamel). Dabei setzte er früh Techniken wie Stop-Motion ein.[1]

Nach dem Ersten Weltkrieg, an dem Bosetti teilnahm und verwundet wurde, waren die von Bosetti gedrehten Filme in ihrer Art nicht mehr gefragt, woraufhin er sich auf die Produktion und andere Aufgaben im distributiven Bereich verlegte.[1]

Sie werden entschuldigen, dass wir bei Ausflügen, die immer weiter in die Filmgeschichte zurückreichen (unser gerade laufendes Projekt der Erschließung von Charles Chaplins Zeit bei Keystone, seiner ersten Filmfirma, war kinogeschichtlich Lichtjahre später angesiedelt), erst einmal Informationen weitergeben, die zwar jedermann und jeder Frau zugänglich sind, aber bei uns doch gebündelter erscheinen.

Der Film selbst fällt vor allem durch eine revolutionär wirkende Technik auf. Er zeigt einen dreifach unterteilten Bildschirm, also einen Splitscreen, wie es fachmännisch heißt, und die drei Teile sind auch noch auf eine sehr sinnvolle Weise arrangiert. Anfangs gibt es nur ein Bild, nämlich das der Frauen in Angst vor scheinbar schießenden Schatten. Es handelt sich aber um eine mindestens gutbürgerliche Umgebung, es gibt schon Telefon, man ruft die Polizei an, und der Splitscreen setzt ein. Links verstecken sich die Frauen auffälligst hinter einem Vorhang, derweil geht der Police-Call gemächlich durch eine Überland-Telefonleitung, die sogar mit einer fahrenden Kamera gezeigt wird, rechts wird abgenommen, wir sind auf dem Polizeirevier. Der mittlere Bildstreifen füllt sich alsbald mit Polizisten, die etwas unbeholfen auf ihre Fahrräder steigen und zum Ort des möglichen Verbrechens fahren, während links vorerst alles beim Alten bleibt und rechts der Einsatzleiter auf das Ergebnis der Aktion wartet. Die Polizisten treffen bei den Frauen ein, die Bilder vereinigen sich und es stellt sich heraus, dass ein Kollege der Gendarmen seinem Mädchen leichtfertig, aber ohne, dass es zu Verletzungen kommen würde, seine Dienstwaffe geliehen hat, damit aus kürzester Distanz auf die Zielscheibe schießen kann. Dadurch sind die Schatten der Frau und des Mannes so dicht beieinander, dass die beiden Frauen in der Wohnung, befeuert von mörderischen Nachrichten, in Panik geraten und den Einsatz der Polizei auslösen. Am Schluss trifft man sich vor dem Haus, lacht sich scheckig über den falschen Alarm und schneidet Gesichter in die Kamera, als Ensemble, nicht einzeln.

Finale

Der Humor ist, sagen wir mal, verwendbar, die Technik kann man als fortschrittlich bezeichnen, keine Frage. Wenn man bedenkt, dass der Splitscreen erst in den späten 1950ern wieder in Mode kam, u. a. mit der Doris-Day-Komödie „Pillow Talk“ (1959). Ein Frauenfilm ist es aber nicht in dem Sinne, dass Frauen darin eine feministische Position zuzurechnen wäre oder eine Regisseurin am Werk gewesen wäre. Dabei war das, wie wir schon gezeigt haben, im ganz frühen französischen Kino üblicher als später über Jahrzehnte und über alle Länder hinweg. In Deutschland war der dänische Star Asta Nielsen ab 1910 als Pionierin des Frauenkinos zu bezeichnen und gleichzeitig der erste europäische weibliche Filmstar.

Die Angst vor dem (eigenen) Schatten oder Schattenangst ist sogar als Phobie klassifiziert („Sciaphobie“), wobei ich mir nicht vorstellen kann, dass diese Einordnung 1911 schon bestand. Ob man dem Film eine sozio-psychologische Wirkung unterstellen kann, eine Art Vorkriegs-Hysterie, bei der jeder Schatten Panik auslösen konnte, ist zwar eine mögliche Interpretation, die eine Zeitstimmung aufgreifen könnte, die im damaligen Frankreich herrschte, aber doch etwas gewagt. Dafür ist der Film auch sehr auf Humor getrimmt, würde also diese Stimmung, so prophetisch sie auch gewesen wäre, eher aufs Korn, falls er sie adressiert. Ich glaube eher, es geht darum, dass zwei etwas hysterische Frauen eine Situation verwechseln, was recht hübsch mit Schatten arrangiert wird, die missdeutet werden. Bezüglich der physischen Realität ist das Bild mit den Schatten schwer einzuschätzen, aber ich glaube, die beiden Personen, so wie sie draußen stehen, können nicht diese Form von Schatten in der Wohnung verursacht haben.  

Wegen der innovativen Art, wie „Die Angst vor den Schatten“ gefilmt ist, kommen wir in etwa dort an, wo auch der Durchschnitt der gegenwärtig bewertenden Nutzer:innen der IMDb zu finden ist (6,2/10).

61/100

2025 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2024)

[1] Romeo Bosetti – Wikipedia


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